Dossier

Frauenfreundschaften

Die Literatur und Kunst des 21. Jahrhunderts erweist einem vielschichtigen Konzept wieder die langverwehrte Ehre.

Weibliche Lebensrealität ist ohne den spiegelnden Blick einer Freundin nicht denkbar, und war es nie. Im 18. Jahrhundert war die «Seelenschwester» weit häufiger Adressatin vertrauensvoller Gefühle als beispielsweise der eigene Ehemann. Bedingt durch präfeministische, bürgerliche Geschlechterrollenaufteilung waren Frauen innerhalb der häuslichen Sphäre auf ihre Geschlechtsgenossinnen verwiesen, während Männer in die Öffentlichkeit strebten. Das beförderte homosoziale Beziehungen, d.h. Bindungen, die unter Menschen desselben Geschlechts geknüpft wurden. Egodokumente aus vergangenen Epochen geben darüber Aufschluss und überraschen uns, weil wir aus spätmoderner Perspektive geneigt sein könnten, einige der Freundschaftsbekundungen als Ausdruck sexueller Liebe zu verstehen. Mit der Klassifizierung historischer Frauenfreundschaften als «lesbische Liebe» unterlägen wir jedoch einem irreführenden Anachronismus. Das gilt auch für das im 19. Jahrhundert gängige Konzept der romantischen Frauenfreundschaft. Bis zur Wende ins 20. Jahrhundert erschien sie als eine logische Folge weiblicher Sozialisation und nahm im Leben von Frauen einen ehrenvollen Platz ein; erst danach galt ausschweifende Emotionalität zwischen Frauen eine ganze Weile als bedenklich.

Der patriarchale Blick

Inspiriert durch Freud und durch die aufkommende Sexualwissenschaft änderte sich der Frauenfreundschaftsdiskurs. Menschen wurden wesentlich als Geschlechts- und Triebwesen verstanden. Die gefühlsintensive Frauenfreundschaft verlor ihre Unschuld. Exaltiert gelebte Freundschaftsbünde degradierten die befreundeten Frauen entweder zu «Invertierten» (=Homosexuellen) oder zumindest zu neurotischen Männerhasserinnen. Die Frauenfreundschaft, die nicht den Verdacht des Sexuellen auf sich zog, verlor im 20. Jahrhundert an Bedeutung, und die Frauenfreundschaft, die diesen Verdacht weckte, wurde pathologisiert. Im Patriarchat bemisst sich Weiblichkeit hauptsächlich daran, wie begehrenswert eine Frau für das andere Geschlecht ist. Je beschränkter die sozialen Anerkennungsprozesse für Frauen waren, desto augenfälliger wurden sie auf ihren geschlechtlichen Wert reduziert. In der Literatur konnte eine Freundin der Hauptfigur kaum mehr als die helfende Hand zur weiblichen Vervollkommnung als Geliebte/Gattin/Mutter reichen. Frauenfreundschaft spielte literarisch meist nur eine nebensächliche Rolle und fristete lange ein Schattendasein. Männerfreundschaft wurde als höherwertig angesehen. Sie galt als Beziehungsform, die Frauen, geprägt von Eifersucht und Rivalität, nie für sich erreichen könnten. Dass es Frauen an aufrichtigen Gefühlen gegenüber ihrem eigenen Geschlecht mangele, ist ein verheerendes, misogynes Klischee, das wahrscheinlich viele von uns schon einmal gehört oder gelesen haben. Im 20. Jahrhundert dominierte es den Alltagsdiskurs über Frauenbeziehungen so stark, dass Frauen, die beispielsweise als Kolleginnen tätig waren, selbst wenn sie sich selbst als Freundinnen bezeichnet hätten, gern eine latente oder offene Rivalität unterstellt wurde. Die Vorstellung einer stetigen Rivalität untereinander (Stichwörter: «Zickenkrieg», «Stutenbissigkeit») mag Frauen im vergangenen Jahrhundert tatsächlich im weiblichen Umgang beengt haben. Lange Zeit galt weiblich-weibliches Networking als weniger erfolgversprechend denn das männliche. Zahllos sind die literarischen Beispiele für falsche Freundschaften und Illoyalität unter Frauen, egal, ob wir uns Unterhaltungsliteratur oder feministische Klassiker anschauen. Die Südstaatenschönheiten in Margaret Mitchells Vom Winde verweht (1936) hassen sich bzw. konkurrieren um männliche Aufmerksamkeit genauso stark wie die Kleinbürgerinnen in Elfriede Jelineks Liebhaberinnen (1975). Männliche Präsenz vermag Sympathie unter Frauen auszuschalten, wie es schon die Leser_innen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Leo Tolstois berühmten Ehebuchsroman Anna Karenina (1877/78) vorgeführt bekamen. Die zunächst noch schwärmerische Verehrung Kittys für die strahlende Anna schlägt in Verachtung um, als Wronski zwischen sie tritt. Kitty trägt Anna ein Leben lang nach, dass der Mann, von dem sie einst glaubte, er wäre ernsthaft an ihr interessiert, sich von ihr abwendet, als er Anna kennenlernt. Durch die Belichtung der erbitterten weiblichen Konkurrenzkämpfe wurden zärtlichere Konzepte von Frauenbeziehungen in der Kunst überschattet. Frauenfreundschaft als nichtig zu degradieren, akzentuiert die bürgerliche Genderideologie. Frauen gelten darin als listig, würdelos und irrational. Achtbarkeit, Charakterstärke und Rationalität finden sich auf Seiten des Mannes, was ihn zu tiefer und aufrichtiger homosozialer Bindung befähigt. Selbst als die Idee eines weiblichen Geschlechtscharakters längst zerbröckelt war, diente sich der Frauen­freundschaftsdiskurs noch immer patriarchalen Strukturen an. In der Populärkultur entstand zwar etwas, das ich hier verkürzt den Sex and the City-Diskurs nenne, also Frauenfreundschaft, die nicht vordergründig durch Konkurrenz, sondern durch gemeinsame Shopping- und Partyerlebnisse geprägt ist. Diese harmlosen Freundschaften erschienen aber oft als Zweckbündnisse zum Männerfang, denn die Mr. Bigs blieben die zentralen dritten Personen, deren Begehren/Liebe es zu wecken galt. Manchen Kritiker_innen fiel in diesem konsumorientierten Freundschaftsphänomen mehr die weibliche Versklavung als das feministische Potential ins Auge.

 

© KEYSTONE SDA | «Thelma and Louise»
Der feministisch inspirierte Blick

Dieser Befund ist im 21. Jahrhundert nicht mehr haltbar. Frauenfreundschaften haben begonnen, sich in der Kunst wieder einen achtbaren Platz zu erobern. Viele Texte, so u. a. Lisa Kränzlers vielbeachteter Roman Im Nachhinein (2013), stellen dar, wie sich Frauen über die Beziehung zu anderen Frauen subjektivieren, und dass ihre heterosexuellen Beziehungen weder von ausschliesslicher noch grösserer Bedeutung für sie sind als die homosozialen. Männer spielen weiterhin eine Rolle, aber die «Zwangs­heterosexualität», um den Begriff der feministischen Dichterin Adrienne Rich aufzugreifen, ist nicht das erschöpfende Thema. In dem Masse, wie weibliche Figuren in der Gegenwart immer konturierter gestaltet werden, treten auch ihre homosozialen Beziehungen stärker in den Vordergrund. Autorinnen, die nach der zweiten Welle der Frauenbewegung geboren wurden, rücken weibliche Beziehungsgeflechte ihrer Frauenfiguren ins Blickfeld. Diese treten aus dem Schatten der beengenden Rolle des männerfixierten, sexuellen Objekts heraus, unabhängig davon, ob sie Männer begehren oder nicht. Die Beziehung zu einer Freundin, kollegial, romantisch oder erotisch, wird oft zum Schlüssel für ihre Entwicklung. Ich spiele nicht auf ältere feministische Bekenntnisliteratur wie Verena Stefans Häutungen (1975) an, sondern meine Gegenwartsromane wie Simone Meiers Fleisch (2017; erotische Funktion), Juli Zehs Unterleuten (2016; romantische Funktion) oder Jovana Reisingers Spitzenreiterinnen (2020; kollegiale Funktion). Anstatt mit Textanalyen anzuschließen, ermuntere ich Sie, sich Ihre jüngsten Lektüren zu vergegenwärtigen! Ist es dort nicht so, dass dem Wunsch der Frauen nach Bindung an ihr eigenes Geschlecht entsprochen und dem patriarchatskonformen Konkurrenzverhalten widersprochen wird? Als Kulturwissenschaftlerin kann ich nur im wörtlichen Sinn hellsehen; daher ist mir unbekannt, welche Texte/Filme/Songs Ihnen gerade in den Sinn kommen. Das vermehrte Auftreten von Frauenbeziehungen in der Gegenwartskultur findet, so meine Erfahrung, bei Studierenden Resonanz. Durch den ideologischen Rückenwind der vergangenen feministischen Bewegungen sind Heldinnen, die allein auf das Heilsversprechen romantischer, heterosexueller Liebe abonniert waren, weggeweht und durch Frauenfiguren, die in verflochtener Weise mit anderen Frauen agieren, erneuert worden. Die Literatur ist von altväterlichen Gendervorstellungen befreit, die Frauen einst die Tiefe und Neigung für aufrichtige freundschaftlich-liebevolle Bindung an ihre Geschlechtsgenossinnen absprachen. Die Darstellung von weiblich-weiblichen Bindungen eröffnet keinen realitätsfernen oder bisher stets versperrten Raum; denn unabhängig, wie die Literatur dazu stand, gab es diesen schon immer. Der literarische Gegenwartsdiskurs verhilft jedoch, so meine ich, weiblicher Freundschaft zu neuen Ehren und wirft damit misogyne Rivalitätsklischees über den Haufen; wie denn die Kunst immer schon dazu diente, uns damit zu beflügeln, was uns entfallen schien.

 

Unsere Expertin Katja Kauer lehrt Literatur- und Kultur­wissenschaft am Departement für Germanistik. Ihre Forschungsgebiete sind u.a. Gender- und Queerstudies. Im Herbstsemester 2021/22 wird sie im Fachbereich Genderstudies einen interdisziplinären Einführungskurs anbieten.

katja.kauer@unifr.ch