Dossier

Transformation eines Mythos

Als hätte er in seinem Mythos nicht schon genug gelitten, musste Narziss über Jahrhunderte hinweg immer wieder den Kopf hinhalten als Sinnbild für dieses oder jenes unmoralische Verhalten. Heute steht er am Pranger der Selfie-Gegner.

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien stellt die Selfie-Generation – explizit oder implizit – unter den Generalverdacht, dem Narzissmus verfallen zu sein. Kaum eine Studie zum Thema Selfie kommt ohne den Verweis auf das Schlagwort Narzissmus aus. Im Alltagssprachgebrauch verweist der Begriff Narzissmus auf die Selbstverliebtheit bzw. Selbstbewunderung eines Menschen. In der einfachen Gleichung «Narzissmus = Eigenliebe» hallt – wenn auch in verwässerter Form – die Arbeit des Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856–1939) wider, dessen Narzissmus- Begriff von der Erzählung «Narziss an der Quelle» inspiriert war. Der Mythos ist in den Werken mehrerer antiker Autoren überliefert, unter anderem in den «Metamorphosen» (um 8 n.Chr.) des römischen Schriftstellers Ovid (43 v.Chr.–17 n.Chr.).

Narziss in Ovids «Metamorphosen»

Im 3. Buch von Ovids «Metamorphosen» (III, V. 402–510) schildert der Erzähler, wie Narziss an eine Quelle gelangt. Auf dem Boden liegend, über die Kante des Teichs gebeugt, starrt Narziss das Bild auf der Wasseroberfläche an, nicht wissend, dass es sich um sein eigenes Spiegelbild handelt. Sein Blick ist von der Schönheit seines vermeintlichen Gegenübers gebannt, dessen Anmut ihm eines Gottes würdig scheint und ihn in Liebe entbrennen lässt. Derart in das Bild versunken, fehlt Narziss die – sowohl geistige als auch körperliche – Distanz, um das Gesehene angemessen (medientheoretisch) zu reflektieren. Erst allmählich geht Narziss‘ regungsloses Staunen in ein forschendes Erkunden über. Doch alle Bemühungen, den Geliebten, den er hinter der Wasseroberfläche des Teiches wähnt, zu erreichen, bleiben vergebens. Selbst der beherzte Griff ins Wasser, den der Erzähler mit dem spöttischen Vorwurf «Leichtgläubiger, was hascht du vergeblich nach flüchtigen Bildern?» kommentiert, regt Narziss nicht zum Umdenken an. Erst nach und nach erkennt Narziss, der den Geliebten weder mit Worten noch durch Taten erreichen kann, dass er sich im Wasser selbst betrachtet: «Der da bin ich! Ich merk’s, es täuscht mein Bild mich nicht länger.»

Medienverständnis und Selbsterkenntnis gehen im Mythos Hand in Hand. An der Flüchtigkeit seines Spiegelbildes erkennt Narziss auch die Vergänglichkeit seines Körpers. Wie der Körper seines Geliebten, der sich als Illusion entpuppt hat, wird auch sein Körper, der dem Tod geweiht ist, entschwinden. Der Trug des Spiegelbildes offenbart Narziss die Wahrheit über die Existenz des Menschen. Seine Metamorphose in eine Narzisse, mit der die Erzählung schliesst, erlöst ihn von der Verzweiflung, die er angesichts der Unausweichlichkeit des Todes durchlebt. Im Laufe der Geschichte wurde der Mythos unterschiedlich gedeutet. Die heute im alltagssprachlichen Narzissmus- Begriff präsente Kurzgleichung «Narzissmus=Eigenliebe», die so mancher Selfie-Gegner in seiner Kritik am Bildmedium mobilisiert, ist eine merkliche Vereinseitigung des Mythos bzw. eine Zuspitzung des reichen Interpretationsangebots. In der aktuellen Narzissmus-Kritik der Selfie-Gegner wird das Medium Selfie zum bildhaften Ausdruck eines übertriebenen Bedürfnisses erklärt, sich selbst aus Eigenliebe bzw. Selbstbewunderung übermässig ins Bild zu rücken.

Der oft behauptete Zusammenhang zwischen Selfies und Narzissmus ist indes empirisch nicht evident; bislang gelang es keiner Studie, die Behauptung auch tatsächlich zweifelsfrei zu untermauern. Diese Lücke nahm unter anderem der Kunsthistoriker Wolfang Ulrich zum Anlass, das häufig bemühte Narrativ, Selfies seien «schrille Symptome eines narzisstischen Zeitalters», grundlegend zu hinterfragen. Nach Ulrich gehorche das Medium Selfie, das bestehende Kulturtechniken produktiv für die moderne Bildgesellschaft adaptiere, seinen eigenen Gesetzen. Sein Beitrag zu einer Medientheorie des Selfies erteilt voreiligen Kurzschlüssen, die das Selfie als digitale Trivialisierung der Malereigattung Selbstporträt in einer medienübersättigten Gesellschaft abtuen, eine deutliche Absage. Vielmehr gelte es, die Spielregeln und Bildpraktiken des neuen Mediums, das «nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte» eingeläutet habe, unvoreingenommen zu ergründen.

 

© Cartoonstock
Von Selfie-Gegnern missbraucht

Über den Begriff Narzissmus stellt der Vorwurf der Selfie-Gegner einen vitalen Konnex zwischen dem modernen Phänomen und dem antiken Mythos her. Im Laufe der Geschichte wurde die Erzählung «Narziss an der Quelle» vielfältig adaptiert. Ein Blick auf ausgewählte Transformationen des Narziss-Mythos lohnt sich, um ausgehend von den hinter den Aktualisierungen stehenden Prämissen neue Erkenntnisse für die eigene Gegenwart – und damit für die Selfie-Debatte – zu gewinnen.

Eine humorvolle Adaption bietet die 3-minütigen Folge «Narziss und Selfie» der vom französischen Cartoonisten Jules gezeichneten ARTE-Zeichentrickserie «50 Shades of Greek». Nicht ohne Augenzwinkern erklärt die Folge den Büro-Angestellten Narziss, dessen offenkundige Selfie-Sucht seinen Kollegen allerlei Gesprächsstoff bietet, zum Erfinder des Selfie-Sticks, bei dessen Herstellung ihm der Handyladen-Besitzer Hephaistos hilft. Die Erfindung des Selfie-Sticks eröffnet Narziss neue Möglichkeiten, ausgefallene Fotos zu machen, die er sogleich mit seinen Freunden und Kollegen auf Facebook teilt. Die Erfindung steht dann auch im Zentrum des (un)tragischen Ablebens des Schönlings, der während des Foto-Knipsens von einer Felskante stürzt – damit karikiert die Folge dann auch noch den modernen Topos vom «Selfie-Tod», dem mittlerweile gleich ein ganzer Wikipedia-Eintrag gewidmet ist. Der Screensaver von Narziss‘ altem Büro-Computer zeigt fortan eine Narzisse, eine schöne Hommage an den jung Verstorbenen, wie die Hinterbliebenen lakonisch bemerken.

Von der Kunst instrumentalisiert

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Narziss zum Erfinder einer Kunstgattung erklärt wurde. Der Kunst- und Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti (1404–1472) erhob den Heros in seinem Traktat «Über die Malkunst» (1435) zum Erfinder der Malerei – ein rhetorischer Kunstgriff, der bis ins 17. Jahrhundert aber angesichts konkurrierender Erklärungsmodelle kaum rezipiert wurde. Zum Aperçu für sein Erklärungsmodell der Malerei zugespitzt, verkürzt Alberti den Mythos zur Metapher, die er als griffiges Bonmot mobilisiert im Rahmen des Paragone-Diskurse, des Wettstreits um die Vorrangstellung der Künste. «Der in eine Blume verwandelte Narziss», so der Autor, sei «der Erfinder der Malerei [oder: Entdecker der Bilder]», die aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit zur Naturnachahmung als «Blüte aller Künste» ihre Vorrangstellung im Paragone behaupte.

Der Comic «Narziss und Selfie» ist somit eine geschickte Aktualisierung bereits bestehender Interpretationen des Mythos. Hinter der vordergründigen Kritik am Medium Selfie, welche durch die Überzeichnung der Film-Charaktere mit der Position der Selfie-Gegner ironisch bricht, scheinen tiefere Überlegungen zur Funktion des Mediums durch. Durch das Posten auf Facebook werden die Selfies Teil einer medial vermittelten Öffentlichkeit, deren Grenzen zwischen «Öffentlich» und «Privat» zunehmend verwischen. Durch die Inszenierung verschiedener Rollen, die Narziss auf seinen Selfies ausprobiert, lotet er seine Stellung in der neuen Form der Öffentlichkeit aus.

Damit deutet die Zeichentrick-Folge auf einen zentralen Punkt: Hinter dem Narzissmus-Vorwurf vieler Selfie-Gegner steht wohl eher das europäische Unbehagen gegenüber einer «Kultur inszenierter Selbstdarstellung». In Umkehrung des Narzissmus-Vorwurfs argumentiert etwa der Kunstkritiker Brian Droitcour: «The real narcissists are the ones who never take selfies. They imagine their self as autonomous, hermetic – too precious to be shared».

 

Unsere Expertin Carolin Gluchowski, ist Juniorwissen­schaftlerin am Departement für Sprachen und Literaturen. Aktuell untersucht sie unter anderem die Bedeutung der Gattung «Anekdote» in der Kunstgeschichte. 

carolin.gluchowski@unifr.ch

Quellen / Literatur

Alberti, Leon Battista: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hrsg. eingel., übers. u. komm. v. Oskar Bätschmann, Darmstadt 2000

Droitcour, Brian: Selfies and Selfiehood, 2013, online abrufbar: https://culturetwo.wordpress.com/2013/04/26/selfies-and-selfiehood/

Stavans, Ilan: I Love my Selfie, Durham 2017

Ulrich, Wolfgang: Selfies, Berlin 2019 (Digitale Bildkulturen 3)