Dossier

Der Tod des Diktators

Der Tod stellt Diktaturen vor besondere Herausforderungen. Was, wenn der Herrscher über Leben und Tod plötzlich selber stirbt?

Der Tod ist ein Problem – für Diktatoren ganz besonders. Denn auch Männer, die im Leben allmächtig sind, sind am Ende nicht unsterblich. Das ist ein Ärgernis. Und so bedienen sich Autokraten aller möglichen Tricks, um den Tod zu überlisten. Die Pharaonen liessen sich riesige Mausoleen bauen, Lenins Körper wurde für die Ewigkeit einbalsamiert und zur Schau gestellt, Cäsar wurde zur Gottheit erhoben und Kim Il-sung in der Verfassung als Präsident festgeschrieben. Der Herrschaft auf Lebenszeit folgte jene für die Ewigkeit.

Aber auch vor dem Tod tun Autokraten viel, um diesen abzuwenden. Sie lassen sich auf Portraits oder als Statuen verewigen und bekämpfen Zeichen des Verfalls mit Haarverpflanzungen (Gaddafi) und Botox (Putin). Diktatoren geben sich gern als Helden, denn die sind unsterblich. Und so jagen und fischen sie mit blossen Händen, ballern herum und fahren schnelle Autos. Sie beglücken dutzende, hunderte, ach, tausende Frauen und treffen beim Golf oder beim Fechten stets mit dem ersten Streich. Neben den (behaupteten oder inszenierten) Heldentaten von Diktatoren sehen John Wayne, James Bond und Superman blass aus.

Noch stärker aber als die Propagandabilder der Potentaten ist die Vorstellung eines Attentats. Tells Geschoss in Gesslers Brust, das Gemetzel von Brutus und seinen Mitverschwörern an Julius Cäsar oder die auf Louis XVI herniederschiessende Guillotine – ob in der Geschichte oder der Literatur, kaum ein Bild ist so kräftig, wie der Tyrannenmord. «Sic semper tyrannis!», «So allen Tyrannen!», soll Brutus gerufen haben, als er Cäsar erstach. Ganz sicher rief es John Wilkes Booth, der Mörder Abraham Lincolns. Denn der Tod im Amt ereilte nicht nur Tyrannen, sondern auch demokratisch gewählte Präsidenten; zwei in Frankreich, vier alleine in den USA.

Der Mord am Machthaber fasziniert – am meisten die Potentaten selbst. «Da draussen lauert ein Wolf, er will mein Blut», erklärte Stalin und folgerte daraus: «Wir müssen alle Wölfe töten.» Die Folge davon: Millionen von Toten. Aber auch andernorts kostete die Paranoia der Diktatoren unzählige Menschenleben. Die Panik der Diktatoren vor dem plötzlichen Messerstich führte zu unsäglichem Blutvergiessen. Und oft auch zu schlechter Politik. In der Französischen Revolution verrieten die neuen Machthaber ihre Ideale, indem sie die Guillotine bald unablässig gegen echte oder eingebildete Feinde einsetzten.

Und Napoleon Bonaparte lebte derart in Furcht, dass er den Duc d’Enghien, einen entfernten Verwandten des letzten Königs (und darum theoretisch möglicher Anführer eines monarchistischen Putschs), sogar jenseits der Landesgrenzen gefangen nehmen, nach Frankreich entführen und in Valenciennes nahe Paris hinrichten liess. «C’est pire qu’un crime», kommentierte ein Beobachter: «C’est une faute». Und tatsächlich: Der Mord aus Angst führte Napoleons Gegnern vor Augen, dass es mit dem Korsen kein Einvernehmen geben konnte. Dementsprechend unerbittlich wurden dann die Kriege geführt, die zu seinem Untergang führten.

 

Überall «Emmanuel Goldstein»

Der plötzliche Tod ist stets in Reichweite – nicht nur für den Diktator, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger. Denn wenig sendet ein klareres Signal, als die Verfolgung von Gegnern – realen oder imaginierten. In Orwells «1984» ist es «Emmanuel Goldstein», in den letzten Jahren waren es Litwinienko, Politkowskaja oder Kashoggi. Die angebliche Bedrohung rechtfertigt drastische Massnahmen nicht nur gegen die Opposition, sondern auch gegen alle, die sich ihr anschliessen könnten. Wobei Diktatoren heute nicht nur töten, sondern auch einfach verschwinden lassen. Der Trend geht vom Schauprozess zum stillen Aus-dem-Verkehr-ziehen. Angebliche Gülen-Anhänger, angebliche Muslimbrüder, angebliche Dissidenten: Sie sind «Schrödingersche Gefangene». Ob sie lebendig sind oder tot, spielt oft gar keine so grosse Rolle.

Der Diktator ist tot, lang lebe der Diktator!

Paradoxerweise ist der Tod des Diktators für die Diktatur meist verschmerzbar. Denn den meisten gelingt es zu Lebzeiten, so stabile Strukturen aufzubauen, so belastbare Netze von Abhängigkeiten zu spinnen, dass das System den Tod seines Führers überdauert. Robert Mugabe wurde von Getreuen sanft zur Seite geschoben, in Nordkorea hat der Tod Kim Il-sungs nichts verändert und sogar im Sudan und in Ägypten, wo das Militär die Macht übernommen hat, wirken sich der Tod von Mubarak und der Sturz Al-Bashirs für die breite Bevölkerung kaum spürbar aus. Zu etabliert sind die Strukturen, zu gut vorbereitet die nachrückenden Kräfte. Mag sein, dass ein plötzlicher Herzinfarkt Putins etwas Unruhe auslösen würde. Aber die meisten Karten sind in den Hinterzimmern bereits gemischt. Im Normalfall führt der Tod des Diktators zu keinem Regimewechsel – Flügelkämpfe halten sich meist in Grenzen und die Opposition schafft es normalerweise nicht, die Günstlingsnetzwerke zu durchbrechen. Sehr viel gefährlicher ist es da, wenn die Bevölkerung nichts mehr zu verlieren hat (wie in Venezuela). Oder wenn sie sieht, dass der Kaiser nackt ist.

Demokratien erneuern sich über Wahlen. Autokraten planen ewig an der Macht zu bleiben. Dennoch hängen auch sie sich gern demokratische Mäntelchen um und lassen sich die angebliche Liebe des Volkes alle paar Jahre wieder in fingierten Wahlen bestätigen. So klammerte sich Algeriens Bouteflika auch mit 82 Jahren noch an die Macht und wäre gern ein weiteres Mal angetreten – was nur massive Proteste verhinderten.

Diktatoren klammern sich oft verzweifelt ans Leben. Bei Breschnew, Tito, Mao oder Franco kämpften die Ärzte auch dann noch, als sie längst verloren hatten. Stalin hingegen lag stundenlang tot im eigenen Urin, weil sich niemand zu nähern traute. Ungewohntes ereignete sich 2011: Nicht genug damit, dass das Gaddafi-Regime stürzte und der Diktator in den Strassen von Sirte gefasst wurde. Er wurde auch noch vor laufenden Kameras ermordet. Es war ein grausames Schauspiel für einen grausamen Herrscher – aber bei weitem kein Einzelfall. Dem byzantinischen Kaiser Andronicus riss der Mob Haare und Zähne aus und übergoss ihn mit kochendem Wasser, bevor er ihn zerstückelte. Ceaucescu wurde öffentlich erschossen, der irakische König Faisal II und sein Onkel wurden massakriert, bevor man mit ihren Köpfen Fussball spielte. Und 1996 wurde der ehemalige Präsident Afghanistans, Najibullah, kastriert, durch die Strassen geschleift und schliesslich erhängt.

Gaddafi hätte seinen und viele weitere Tode verhindern können. Er hätte einlenken und abdanken können, aber der Selbstdarsteller träumte wohl von einem spektakulären Untergang, einer heldenhaften Schlacht oder vielleicht einem Ende wie Hitler. Der fand, dass das deutsche Volk mit ihm untergehen müsse, wenn es den Krieg nicht gewinnen könne – für den Diktator musste die Welt mit seinem Tod aufhören zu existieren.

Als Caligula endlich tot war, wollten ihn riesige Menschenmengen sehen. Wollten sich versichern, dass er endlich tot war. Auch bei Gaddafi bildeten sich kilometerlange Schlangen von Schaulustigen. «Diktatoren reiten auf Tigern und wagen nicht abzusteigen», sagte Winston Churchill. Die Erfahrung zeigt: Es ist auch nicht ratsam.

 

Unser Experte Nicolas Hayoz ist Professor für Politologie am Departement für Sozialwissenschaften der Universität Freiburg. Er ist forscht insbesondere zu autokratischen Systemen in den postkommunistischen Ländern Zentralasiens und Osteuropas.

nicolas.hayoz@unifr.ch