Dossier

Why go to Switzerland?

Mit der Erschliessung der Rocky Mountains erschuf sich Kanada eine eigene Schweiz – mitsamt Schweizer Bergführer.

Im Winter 1899 wurde der Interlakener Bergführer Eduard Feuz von der Canadian Pacific Railway angefragt, ob er bereit wäre, in der Sommersaison in den Rocky Mountains als Bergführer zu arbeiten. Die Bahngesellschaft hatte 1885 die Eisenbahnstrecke durch die Rockies vollendet und versuchte nun durch den Bau von Hotels in den Bergen, eine neue Einnahmequelle zu schaffen. Mit der Vermarktung der Rockies als Touristenziel sollte auch die Zahl der Zugspassagiere erhöht werden. Reklameanzeigen der Canadian Pacific Railway sprachen von den Rockies als «Fifty Switzerlands in One» oder fragten «Why go to Switzerland?».

Stattliche Burschen mit Hutfeder

Bereits wenige Monate später wurden Eduard Feuz und zwei weitere Berner Bergführer angeheuert. Gewissermassen im Rucksack trugen sie das mythische Kapital der Alpen, das durch den Import nach Nordamerika kulturell und wirtschaftlich nutzbar gemacht werden konnte. Die Anreise der drei Bergführer aus der Schweiz wurde als eigentliche Promotion-Tour organisiert: An den Zwischenstationen London und Montréal präsentierten sie sich der Öffentlichkeit in voller Bergsteigermontur mitsamt Nagelschuhen und Pickeln. In Montréal wurde mit den Bergführern überdies ein Schauklettern in einem lokalen Steinbruch veranstaltet. Die Inszenierungen verfehlten ihre Wirkung nicht. In der Zeitschrift «The Railway and Shipping World» hiess es 1899 über die Schweizer Bergführer: «They are sturdy, picturesque fellows, wearing grey suits & broad rimmed hats, set off with black cock feathers». Auch auf ihre Professionalität wurde verwiesen, als es hiess, «they are decorated with the gold and enamel medal of the Alpine Club & other trophies of their calling».

Bergführer bewähren sich

Mit der Arbeit der Schweizer Bergführer scheint die Bahngesellschaft zufrieden gewesen sein, denn für die folgende Saison wurden weitere sieben Führer rekrutiert. Ab 1901 waren es acht Saisonniers, die jeweils anfangs Mai die Reise nach Nordamerika unternahmen und im Oktober wieder in die Schweiz zurückkehrten. 1909 wartete die Canadian Pacific Railway mit einer weiteren Marketing-Idee auf. In der Nähe von Golden, einer Ortschaft inmitten der Rockies, wurde eine Siedlung mit mehreren Alphütten gebaut, die von den Schweizer Bergführern ganzjährig bewohnt werden sollte. Dies diente nicht nur Werbezwecken, sondern sollte dank der ganzjährigen Unterbringung der Schweizer auch die Reisekosten erheblich senken. Der Verfasser dieses Plans hatte allerdings, wie er selbst zugab, keine Ahnung von Schweizer Chalets. Wie aus seinen Notizen hervorgeht, nahm er an, sie seien farbig angemalt; eine solche Bemalung sollte folglich auch die Häuser in Golden aufweisen. Als Namen für die Siedlung schlug er «Edelweiss» vor.

In einem Brief an den Vize-Präsidenten der Bahngesellschaft bemängelte allerdings ein alpenerfahrener Bergsteiger, Frank Caulfield, 1913, «that the houses differ totally from the Swiss chalet, being completely unlike in size, pitch and construction, to say nothing of its being painted red». Noch schlimmer fand er aber, unter Bemühung des Mythos der freiheitsliebenden Schweizer Bergbewohner, «that the houses are set in rows at even distances and all facing the same way, which I fancy to the liberty loving Switzer must be unendurable».

Ob es tatsächlich an der Ausrichtung der Häuschen lag, oder, durch die Quellen eher belegt, an der schlechten Bauweise und vor allem der grossen Distanz zum nächsten Dorf: die meisten Bergführer, die 1912 mit ihren Familien eingezogen waren, verliessen die Siedlung schon bald wieder in Richtung der Ortschaft Golden. Die feste Ansiedlung von Bergführern aus der Schweiz hingegen kann wie das gesamte Unternehmen «Swiss Guides» aus Sicht der Canadian Pacific Railway als Vorhaben mit beträchtlicher Langzeitwirkung gesehen werden. Bis 1954 arbeiteten ungefähr 35 Schweizer Bergführer für die Bahngesellschaft. Sie begleiteten viele Erstbesteigungen, und zahlreiche Gipfel wurden nach ihnen benannt.

 

Dent de Folliéran und Vanil Noir (FR) © marcovolken.ch
Alpen made in Canada

Das Beispiel der kanadischen Rocky Mountains zeigt, wie die Berge in der beschleunigten Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Gegenräume aufgebaut wurden. Diese touristisch attraktiven Orte entwickelten sich zum Tummelfeld für wirtschaftliche, unternehmerische und werbestrategische Vorhaben. Zum einen eignete sich dazu die «Marke Alpen» als symbolträchtig und ikonographisch gut vermittelbar. Mit offenbar weitum bekannten Codes wie Eispickel, Hutfeder, Edelweiss oder Chalet sollte der Eindruck vermittelt werden, die Schweiz liege in den nordamerikanischen Rockies. Andererseits operationalisierte man zu diesem Zweck den Alpenmythos, der nicht nur durch die Bergführer und ihr Erscheinungsbild verkörpert wurde, sondern auch für deren Professionalität bürgen sollte.

Was aber hatte es mit diesem Alpenmythos auf sich? Bereits in der Renaissance galten die Alpen gleichsam als Sinnbild für die schweizerische Eidgenossenschaft. Spätestens ab der Aufklärung setzte sich ein Alpendiskurs durch, der mannigfache Bezüge zwischen Berglandschaft, Hirten und Bauern herstellte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte sich der Bezug zu den Alpen. Die sogenannte «Alpennation» und ihre Bewohner, die «homines alpini», wurden zum Inbegriff nationaler Identität, was sich vor allem auch ikonografisch niederschlug. Über Literatur, Kunst und Wissenschaft fand das Alpenmotiv Eingang in die politischen Vorstellungswelten und Diskurse. Eigenschaften, die der Schweiz zugeschrieben wurden, wie Demokratie, Freiheit, Unabhängigkeit, erschienen als evolutionär von der natürlichen Umwelt geprägt, als organisch gewachsen. In dieser «Naturalisierung der Nation», wie es Oliver Zimmer genannt hat, waren nicht nur Topografie und Geologie, sondern auch die Alpenbewohner und deren Mentalität und Kultur zentrale Ingredienzen. Im Zuge der raschen Urbanisierung am Ende des 19. Jahrhunderts kam hinzu, dass die Alpen als Gegenräume, als Heterotopien mit kompensatorischer Funktion konstruiert wurden. Sie erschienen als idealisiertes Gegenbild zum Unterland, die Älpler als bodenständig-rurale Gegenbilder zum durch die Zivilisation verdorbenen Städter.

Ende eines Mythos

Nicht nur die Bergwelten, sondern auch ihre «Bezwinger», die Alpinisten, nahmen im Alpendiskurs eine bedeutsame Funktion ein. Mit ihren «Eroberungen», wie es in der oft martialisch geprägten Sprache der Alpinisten hiess, inkarnierten sie gleichsam den Alpenmythos. So galten Durchhaltevermögen, Willensstärke, körperliche Tüchtigkeit und Freiheitsliebe als Grundvoraussetzungen alpinistischer Praxis.

Das Beispiel der Schweizer Bergführer in den Rockies zeigt, dass der Alpenmythos auch in einem anderen Kontext wirkungsvoll eingesetzt werden konnte. Nicht nur die Globalisierung von Denk- und Wissensmustern, sondern auch von strukturellen und technologischen Bedingungen bildete den Hintergrund für den Export des Alpenmythos. Ohne die wachsenden Mobilitätsmöglichkeiten wäre die saisonale Beschäftigung von Bergführern in den Rockies kaum durchführbar gewesen. Bild und Aura der Alpen hielten sich auch innerhalb einer sich zunehmend globalisierenden Welt aufrecht. Gleichzeitig entzauberte die Demonstration der Beliebigkeit in der werbetechnischen Operationalisierung und wirtschaftlichen Instrumentalisierung deren Symbolträchtigkeit, wie sie in helvetischen Narrativen lange Zeit vorgeherrscht hatte. Der Alpenmythos relativierte sich durch die damit verbundene Gleichsetzung aller Bergwelten und trug dadurch gleichsam zur eigenen Entmythologisierung bei.

 

Unsere Expertin Christina Späti ist Professorin für Zeitgeschichte. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören der Holocaust und dessen Nachgeschichte, Antisemitismus und Orientalismus oder auch die Sprachenpolitik in mehrsprachigen Ländern. 

christina.spaeti@unifr.ch