Dossier
Tell und die Alpen
Schon die Humanisten der Renaissance interessierten sich brennend für die Alpen. David Amherdt hat ihre Texte studiert.
Im 18. Jahrhundert entdeckten die Menschen die Alpen. Maler fertigten Bilder von friedlichen Matten, dramatischen Lawinen und majestätischen Gipfeln. Jean-Jacques Rousseau verband die Reinheit der Gebirgsluft mit der Reinheit des Geistes. Und Albrecht von Haller publizierte ein Alpen-Gedicht von fast 500 Versen Länge. «Einspruch», sagt David Amherdt, Lehr- und Forschungsrat für neulateinische Sprache und Literatur am Departement für klassische Philologie der Universität Freiburg. «Das 18. Jahrhundert gilt zu Unrecht als Geburtsstunde der Alpenfaszination. Diese hat nämlich schon viel früher begonnen: Mit den Humanisten der Renaissance!»
Der Literaturwissenschaftler hat Briefe und Schriften von Konrad Gessner, Heinrich Glareanus, Aegidius Tschudi und vielen weiteren analysiert und kommt zum Schluss: «Schon die Humanisten des 16. Jahrhunderts haben sich intensiv mit den Alpen beschäftigt. Sie haben Exkursionen gemacht, haben die alpine Tier- und Pflanzenwelt untersucht und sind auf die Gipfel gestiegen. Und sie haben ihre Erfahrungen mit Forschern im In- und Ausland geteilt.»
Amherdt ist selbst passionierter Berggänger und oft im Gebirge unterwegs. Auf die Bergfreude der Humanisten stiess er aber durch Zufall. «Ich habe mich mit den Schriften Fabricius Montanus’ beschäftigt. Der Universalgelehrte wurde 1527 im Elsass geboren und ist via Zürich nach Chur ausgewandert. Mir fiel auf, wie ausgiebig er das Calanda-Massiv bewandert und beschrieben hat. Und das alles zu einer Zeit, in der die Menschen sich gemäss gängiger Vorstellung noch vor den Bergen fürchteten. Das musste ich unbedingt näher untersuchen!»
Auftritt: Tell
Eine Figur taucht in den Schriften der Schweizer Humanisten besonders prominent auf: Wilhelm Tell. «Dabei geht es nicht nur um die Leserschaft in der Schweiz», präzisiert Amherdt. «Es geht auch darum, zu zeigen, dass die Schweiz eine Geschichte sowie Geschichten hat, die es wert sind, erzählt zu werden. Und dass sie Autoren hat, die fähig sind, sie in einer ansprechenden Sprache zu schreiben.» Gelehrte wie Heinrich Glareanus (auf Latein) oder Aegidius Tschudi (auf Deutsch) schufen mit ihren Texten Schweizer Gründungsmythen – und wiesen dabei den Bergen eine zentrale Rolle zu. «Die Alpen sind die Bühne, auf der die Geschichten von Tell, Gessler, dem Rütlischwur und der Rebellion gegen Habsburg präsentiert wurden. Und bereits bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts verschmolz die Schroffheit der Berge mit dem Charakter ihrer Bewohner.»
Zwar existierte im 16. Jahrhundert noch keine gesamtschweizerische Identität. Die Menschen identifizierten sich primär mit ihrer Stadt, ihrem Tal, ihrem Kanton. Die Eidgenossenschaft war ein relativ lockeres Bündnis mit sehr unterschiedlichen Partnern – von kleinen Talschaften bis zu grösseren Stadtstaaten. «Als verbindendes Motiv fanden die Humanisten aber die Berge», erklärt Amherdt. «Und damit schufen sie eine Vorlage, auf die man sich beziehen konnte, als die Schweiz im 19. Jahrhundert tatsächlich zu einem Nationalstaat zusammenwuchs». Besonders überzeugend gelang dies Friedrich Schiller, der die Geschichte Tells 1803 auf ein völlig neues literarisches Niveau hob und den wehrhaften Bergler von der Schweizer Identifikationsfigur zum internationalen bekannten Helden machte.
Doch zurück in die Renaissance. Die Humanisten schrieben nicht nur literarische Texte über das Gebirge, sie erkundeten es auch ganz praktisch auf Wanderungen und Expeditionen. «Ihre Berichte sind oft auch einfach spannend zu lesen», freut sich David Amherdt. «So berichtet etwa Fabricius Montanus davon, wie zwei seiner Freunde einer Bärin begegneten. Diese hatte zwei Jungtiere dabei, was die Situation besonders gefährlich machte.» Schliesslich aber machte die Bärin kehrt und trottete davon.
«Aus ganz anderen Gründen unheimlich waren Expeditionen auf den Pilatus». Der schartige Luzerner Hausberg wurde noch im Mittelalter meist «Mons Fractus» oder deutsch «Frakmont» genannt. Dann verbreitete sich wegen der säulenartigen Felsformationen der Begriff «Mons Pileatus», von wo es ein kurzer Weg zu Pilatus war – dem Mann, der Jesus gemäss Bibel zur Kreuzigung verurteilt hatte. Bald ging die Legende um, Pilatus’ Leiche sei nach seinem Tod in den Pilatussee, einen Bergsee im Pilatusmassiv, verfrachtet worden. Als Joachim Vadianus den Berg bestieg, traf er Leute an, die ihm erzählten, es geschähen dort insbesondere am Karfreitag immer wieder sonderbare Dinge.
Weniger schaurig verlief Konrad Gessners Pilatusbesteigung. «Er erzählt in seinem Bericht sehr ausführlich von den vielen Milchprodukten, die er auf den verschiedenen Alpen gegessen hat. Ausserdem sammelte er zahlreiche Pflanzen.» Diese wurden getrocknet, katalogisiert und an befreundete Forscher im In- und Ausland weitergegeben. Auch mit der Fauna der Bergwelt beschäftigten sich die Renaissance-Berggänger intensiv. Und wo sie welche fanden, sammelten sie auch versteinerte Fossilien. Zudem zeichnete Aegidius Tschudi eine der ersten dokumentierten Karten der Schweiz, auf der er ebenfalls viele Bergnamen vermerkte.
«Es ging zunächst einmal einfach darum, zu dokumentieren, was ist – also klassische Grundlagenforschung. Nebst dem wissenschaftlichen hatten die Humanisten aber auch einen ästhetischen Zugang zum Gebirge. Und Konrad Gessner schrieb sogar explizit, dass uns die Schönheit der Berge zu Gott führt.»
Städter in den Bergen
Es sind vor allem Deutschschweizer, die sich im 16. und 17. Jahrhundert mit den Alpen beschäftigen. «Das hat wohl mit Calvin zu tun», erläutert Altphilologe Amherdt. «Der Genfer Reformator hatte zwar ein positives Verhältnis zur Natur, stand dem Humanismus aber eher distanziert gegenüber. Entsprechend wenig konnte er der Faszination der Humanisten fürs Gebirge abgewinnen.»
«Die meisten Autoren waren Städter und viele setzten sich zunächst einmal mit den Bergen vor ihrer Haustür auseinander. So finden wir zum Beispiel Berichte über die Besteigung des Uetlibergs bei Zürich, des Niesens oder des Stockhorns bei Thun. Schüler Fabricius Montanus flochten sich auf dem Gipfel des Üetlibergs sogar Efeukronen und zitierten Verse des römischen Dichters Vergil.» Expeditionen zu heute berühmten Alpengipfeln wie dem Matterhorn oder der Jungfrau fanden in der Renaissance aber wohl noch nicht statt. «Dazu wäre mir zumindest nichts bekannt», sagt Amherdt. «Die Gipfel waren wohl einfach zu hoch und vor allem zu abgelegen.»
Wie alles begann
Aber sind die Eindrücke der gelehrten Städter auch für die breite Masse repräsentativ? «Eine gute Frage», findet der Altphilologe. «Auf der einen Seite unterschied sich das Leben in Stadt und Land in der Renaissance wohl weniger stark als heute. Andererseits hatten Leute, die in den Bergen wohnten und direkt von Steinschlägen, Lawinen und wilden Tieren betroffen waren, wohl ein etwas anderes Verhältnis zu ihrer nächsten Umwelt. Aber von einfachen Bauern haben wir leider einfach keine schriftlichen Zeugnisse.»
«Die Humanisten begannen damit, die Berge zu erforschen, sie erkannten ihre ästhetische Qualität und interessierten sich für die Vielfalt der alpinen Flora und Fauna», resümiert Amherdt. «Damit legten sie die Basis der Alpenfaszination, die im 18. Jahrhundert zur Mode wurde und die unseren Blick auf die Berge heute noch prägt.»
Unser Experte David Amherdt ist Lehr- und Forschungsrat für neulateinische Sprache und Literatur. Er leitet derzeit das SNF-Projekt Humanistica Helvetica, dessen Ziel es ist, die lateinische Literatur der Schweizer Humanisten des 16. Jahrhunderts mithilfe eines zweisprachigen deutsch-französischen Internetportals besser bekannt zu machen.