Dossier

Mit Recht gegen den Terror

Sicherheit oder Freiheit? In Zeiten des Terrorismus hier ein Gleichgewicht zu finden, stelle für den Rechtsstaat eine grosse Herausforderung dar, meint Astrid Epiney, Völkerrechtlerin und Rektorin der Universität Freiburg.

Astrid Epiney empfängt im Vorraum ihres Büros. Sie setzt sich mit dem Rücken zum Fenster, links und rechts je eine Tür, die sie nicht im Blick hat. Zu Zeiten der Neandertaler hätte Epiney gefährlich gelebt. Denn die Vorsicht, Kind der Angst und irgendwo tief in der Amygdala verankert, befiehlt uns die Quellen möglicher Gefahren ständig im Auge zu halten.

 

 Man könnte daraus schliessen, dass Astrid Epiney grundsätzlich wenig Angst hat. Das ist auch so. Gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt die Rektorin von einer Konferenz in London. Dachte sie an die Anschläge, als sie mit der Tube zur Veranstaltung fuhr? 2005 starben in der Londoner Metro 56 Menschen, 700 wurden verletzt, im September 2017 wurden erneut 22 verletzt. «Nein», kommt die Antwort. Kein einziges Mal? «Kein einziges Mal.» Überhaupt spüre sie selten Angst, eigentlich nur, wenn sie über einen Berggrat gehe. «Links und rechts ein Abgrund, das mag ich gar nicht.»

 

«Der Grat zwischen Sicherheit und Freiheit ist schmal»

Also lässt sich erwarten, dass die Rektorin für einen besonnenen Umgang des Rechtsstaats mit terroristischen Bedrohungen plädiert, und so ist es tatsächlich. Epiney macht klar: Wie blutig auch ein Anschlag sein mag, wie gross der Aufschrei und wie schrecklich die Konsequenzen, «wir müssen immer unsere Grundrechte bewahren.» Das Recht auf Freiheit, das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf Meinungsfreiheit. Damit wir unsere Menschenwürde nicht verlieren. «Der Grat zwischen Sicherheit und Freiheit ist schmal». 

 

Was sie damit meint, erklärt Epiney am Beispiel des 2002 in Frankfurt entführten Bankierssohn Jakob von M. Keine terroristisch motivierte Tat, aber – in Erinnerung an die Taten der RAF – übertragbar. Um den Aufenthaltsort des Kindes zu erfahren, drohte der zuständige Ermittler dem bereits verhafteten Täter mit Folter. Was in Deutschland verfassungsrechtlich verboten ist. Und auch für Epiney kein gangbarer Weg. «Wenn wir zu foltern beginnen, dann haben wir eine absolute Grenze überschritten.» Zwar wisse sie nicht, wie sie selbst in einer solchen «Grenzsituation» reagieren würde, sagt Epiney, zumal sie die Drohung des Beamten als durchaus nachvollziehbar erachte, schliesslich habe das Leben des Kindes auf dem Spiel gestanden. Dennoch dürfe der Staat ein solches Verhalten nicht als rechtmässig anerkennen. Was er auch nicht tat. Im Anschluss an den Fall wurde der Ermittler wegen «Nötigung im Amt» zu einer Geldstrafe verurteilt.

 

Überhaupt zweifelt Epiney daran, ob drastische Massnahmen probate Mittel gegen terroristische Bedrohungen sind. Damit spiele man den Attentätern in die Hände: Sie wollen den Rechtsstaat in eine existentielle Krise stürzen. Deshalb dürfe man nach einem Anschlag nicht den einfachsten Weg gehen und «ohne nähere Prüfung» Massnahmen ergreifen, die sich auf den ersten Blick aufdrängen und eine quasi absolute Sicherheit versprechen. «Angst ist ein schlechter Ratgeber.» Vielmehr gelte es ganz genau abzuwägen. «Wir müssen herausfinden, wie weit wir bei der Abwehr potentieller Attentäter gehen dürfen. Wo die Grenzen sind. Wann sie überschritten werden.»

 

So wäre sie nicht einverstanden, sollte ein demokratisch regiertes Land beschliessen, die Bewegungen aller Menschen mittels GPS aufzuzeichnen. «Da würde der Kernbestand einer Demokratie tangiert.» Als ebenfalls «rechtsstaatlich eher schwierig» bezeichnet sie die Idee, potentielle Terroristen in Präventivhaft zu nehmen. In der Schweiz stehen zur Zeit 90 Personen unter Verdacht, den Islamischen Staat zu unterstützen. Die Option der Präventivhaft lässt sich laut Epiney aber zumindest in Betracht ziehen: «Ich glaube nicht, dass damit an den Grundfesten des Rechtsstaats gerüttelt wird.» Solange die Voraussetzungen hinreichend klar seien und es entsprechende richterliche Anordnungen gebe, «dann ist eine solche Massnahme wohl vertretbar».

 

© Jérôme Berbier

Doch wie sieht es im konkreten Einzelfall aus? Wie soll der Staat etwa sicherstellen, dass ein IS-Anhänger wie Wesam A. unter Kontrolle bleibt? Nachdem der im Kanton Aargau lebende Iraker entsprechende Propaganda auf Facebook veröffentlicht hatte, wurde er zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wesam A. sass zwei Drittel ab, Mitte 2016 wurde er wegen guter Führung entlassen. Das stürzte die beteiligten Behörden in ein Dilemma. War es vertretbar, Wesam A. trotz seiner möglichen Gefährlichkeit in Freiheit zu belassen? Drängte sich nicht vielmehr eine Sicherheitshaft auf, falls ja, für wie lange und mit welcher Begründung? Natürlich sollte er weiter überwacht werden, aber wie eng? Und was, wenn man ihn in seine Heimat, den IS-feindlichen Nordirak, abschob? Lieferte man ihn da nicht direkt ans Messer? In diese Diskussion waren Bundesgericht, Bundesanwaltschaft, Bundesamt für Polizei, der Nachrichtendienst des Bundes und die Aargauer Justiz involviert – zudem Wesam A. sekundiert von seinen Anwälten. Und alle waren anderer Meinung. Epiney: «Sowas müssen wir aushalten. Man kann sich über Sinn oder Unsinn von Verfahren, und über deren Ausmass und Länge natürlich streiten, aber dass wir bis zum Ende diskutieren, ist schon richtig.» Es zeichne einen Staat geradezu aus, wenn er einen solchen Fall bis in alle Ecken ausleuchte. Auf der einen Seite stehe das Recht des Einzelnen auf Freiheit, auf der anderen die Sicherheit eines ganzen Volkes. «Beides sind Grundwerte unserer Gesellschaft.»

 

Zwischenfrage: Wie steht es eigentlich um die Sicherheit an der Universität Freiburg? Hat die Rektorin auf die Anschläge im Ausland reagiert und zusätzliche Vorsichtsmassnahmen getroffen? «Nein», sagt sie, dazu sehe sie bislang keinen Anlass. Polizeibeamte seien nur ausnahmsweise anwesend, so in jüngerer Vergangenheit etwa bei einer Veranstaltung des zur Universität gehörenden Zentrums für Islam und Gesellschaft. Und in ihrem Büro gebe es einen Alarmknopf, doch sie habe ihn noch nie benutzen müssen. «Ich fühle mich sicher.» Angenommen, Astrid Epiney wäre Rektorin einer Universität in London. Würde sie gleich argumentieren? Die Frage lässt sie kurz zögern. «Ich hoffe», kommt schliesslich die Antwort. Nochmals denkt sie nach und überprüft: «Doch, ich denke schon.» Vielleicht würde sie gewisse Verschärfungen als Reaktion auf einen Anschlag in Betracht ziehen, «man könnte etwa Hausdurchsuchungen vorübergehend und unter bestimmten Voraussetzungen ohne richterlichen Befehl gestatten,» aber das alles sei im Rahmen des Rechtstaats möglich. Die Grundlagen einer freiheitlichen, demokratischen Staatsform aufgrund einer terroristischen Bedrohung einfach «über Bord werfen», halte sie für gar keine gute Lösung. Genau das passiert jedoch Tage nach dem Gespräch mit der Rektorin. Nachdem der Usbeke Sayfullo S. in New York mit einem Kleinlastwagen acht Menschen getötet und elf teils schwerverletzt hat, twittert Donald Trump, was der Attentäter seiner Meinung nach verdient hat: «DEATH PENALTY!». Dass die USA ein Rechtsstaat mit einer eigenständigen Justiz sind und ein Urteil über den Attentäter allein den Richtern zusteht, ignoriert der Präsident. Kommentar Astrid Epiney: «Mit einem solchen Verhalten gewinnen wir auf längere Sicht wahrscheinlich nichts – im Gegenteil.»

 

Unsere Expertin Astrid Epiney, 1965 in Mainz geboren, hat ihr Studium mit einer Dissertation zum Thema Völkerrecht abgeschlossen. Seit 1996 ist die schweizerisch-­deutsche Doppelbürgerin ordentliche Professorin an der Universität Freiburg, 2014 wurde sie zur Rektorin berufen. Epiney wurde mit dem hochangesehenen Latsis-Preis des Schweizerischen Nationalfonds ausgezeichnet, ebenso er­hielt sie die prestigeträchtigste Auszeichnung Frankreichs: den Orden «Chevalier de la Légion d’Honneur».

astrid.epiney@unifr.ch