Dossier

Vergiss es!

Vergessen auf Befehl funktioniert ebenso wenig wie absichtliches Nicht-Vergessen. Unser Gehirn aber bedient sich der «Lösch-Funktion» durchaus gezielt. Solange es nicht mit Alzheimer-Peptiden infiziert ist.

Um der Alzheimer-Krankheit auf den Grund zu gehen, muss man das menschliche Gehirn verstehen. Zwar hat die Forschung diesbezüglich in den letzten Jahren Quantensprünge gemacht, aber: «Das menschliche Gehirn ist so komplex, dass es jenseits unseres Verständnisses liegt», sagt Simon Sprecher, Neurobiologe an der Universität Freiburg. Deshalb behilft er sich mit weniger komplexen Gebilden: Dem Hirn von Fruchtfliegen. Die winzigen Tierchen, die im Alltag eher lästig sind, sind perfekte Modelltiere für die Forschung. Sowohl die Zellbiologie, die Molekularbiologie wie auch die Genetik im Hirn der Fruchtfliegen sind zu 99 Prozent identisch mit dem menschlichen Gehirn. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum Sprecher in seiner Arbeit auf die Winzlinge setzt: «Wir wissen bei der Fruchtfliege genau, wo das Gedächtnis sitzt», sagt er. Auch Mäuse werden wegen ihrer hohen genetischen Verwandtschaft mit dem Menschen oft als Modelle verwendet. Das Maushirn aber ist viel komplexer als das Fliegenhirn, deshalb ist die hochpräzise Forschung mit Mäusen in diesem Bereich (noch) nicht möglich, so Sprecher. Zum Vergleich: «In den nächsten 10 bis 15 Jahren werden wir vermutlich so weit sein, dass wir das Fliegenhirn so zerschneiden können, dass wir alle Zellen und synaptischen Verbindungen kennen und erforschen können. Beim Maushirn wird das noch 100 oder 200 Jahre dauern – und das menschliche Gehirn ist schlicht jenseits unseres Verständnisses.» Im Gedächtnis liegt der Schlüssel fürs Verständnis von Alzheimer. Hier finden Lernprozesse statt – und auch die Kehrseite davon: Das Vergessen. Denn die Hirnkapazität ist begrenzt; Vergessen schafft Raum für neues Wissen. Lernen und Vergessen sind also höchstwahrscheinlich durch die gleichen Mechanismen gesteuert und finden in den gleichen Hirnarealen statt. «Lange Zeit herrschte die unausgesprochene Meinung, dass Vergessen einfach so passiert», so Sprecher. «Aber Erlerntes löst sich nicht einfach in Luft auf. Es braucht einen Prozess, der das Erlernte aktiv degenerieren lässt oder es aktiv erhält. Dieser Abbauprozess wurde auf der biologischen Ebene lange Zeit ignoriert – wir wollen ihn verstehen.» Und zwar mithilfe eines von der Stiftung Synapsis – Alzheimer Forschung Schweiz finanzierten Forschungsprojekts an Fruchtfliegen.

 

Chaos im Gehirn

Das menschliche Gehirn besteht aus einem Netzwerk von rund 100 Milliarden Nervenzellen, die durch Synapsen, kleine Schaltzentralen, miteinander verbunden sind. Bei der Fruchtfliege sind es nur etwa 100’000 Nervenzellen. «Wenn wir Informationen verarbeiten – also lernen – werden die entsprechenden Synapsen verstärkt», erklärt Sprecher. Sowohl beim Menschen wie auch bei der Fruchtfliege sorgen körpereigene Botenstoffe, so genannte Neurotransmitter, für den Signaltransport zwischen den Zellen. Ein wichtiger Neurotransmitter im zentralen Nervensystem (Hirn und Rückenmark) des Menschen ist beispielsweise Glutamat, auch als Geschmacksverstärker bei Lebensmitteln bekannt. Der wichtigste Neurotransmitter, um den Lernmechanismus auszulösen, ist allerdings Dopamin. Dopamin macht glücklich, steigert die Leistungsbereitschaft und weckt die Lebensgeister in uns – deshalb spricht man landläufig auch vom Glückshormon. Bei Alzheimerpatienten geht man davon aus, dass in frühen Phasen der Krankheit Synapsen zwischen den Nervenzellen verloren gehen. In der Folge kann es dazu kommen, dass die Nervenzellen absterben. Verantwortlich dafür könnten Ablagerungen im Gehirn sein – so genannte Plaques, die aus Beta-Amyloiden bestehen. Beta-Amyloid ist das Fragment eines Proteins, ein so genanntes Peptid, das aus einem grösseren Protein mit dem Namen APP (Amyloid-Vorläufer-Protein) herausgeschnitten wird. Im gesunden Gehirn werden solche Abfallprodukte zersetzt und abgebaut. Beim kranken Gehirn hingegen ist diese Funktion gestört.

 

 

Lernen ohne Speicherkapazität

Das Forscherteam an der Uni Freiburg verwendet für seine Arbeit eine Kombination aus dem Glückshormon Dopamin und den toxischen Peptiden, die für die Alzheimerplaques verantwortlich sind: präzise genetische Manipulationen erlauben es den Wissenschaftlern, die Nervenzellen des Gedächtniszentrums mit den Alzheimer-Peptiden zu infizieren, wobei der Rest des Nervensystems vollständig gesund ist. Darin liegt auch der Unterschied zu den Mausexperimenten: «Bei der Maus kann man nicht nur bestimmte Lernzellen manipulieren», erklärt Sprecher. «Deshalb werden dort die toxischen Peptide überall und zu jeder Zeit produziert. In der Fliege können wir dies zeitlich und räumlich regulieren.» Und auch wenn Fruchtfliegen nur wenige Wochen alt werden, gibt es eine weitere Parallele zum Menschen: Ältere Fliegen lernen weniger gut als jüngere. Perfekte Voraussetzungen also für die Alzheimerforschung. Für das Experiment wird eine Auswahl an Fruchtfliegen in Sprechers Labor mit dem «Alzheimer-Peptid» infiziert, eine zweite Gruppe wird nicht manipuliert. Anschliessend werden alle Tierchen in einer Versuchsanlage zwei verschiedenen Duftstoffen ausgesetzt. Beim einen Duft werden sie mit Zucker belohnt, beim anderen mit einem Stromstoss bestraft. Sie lernen also, welchen Duft sie besser vermeiden sollen. In bestimmten zeitlichen Abständen wird nun untersucht, ob die Fliegen einmal gelerntes Wissen behalten oder nicht. Der Sitz des Geruchsgedächtnisses im Fliegenhirn sind die so genannten Pilzkörper, die ihren Namen aufgrund ihrer Form tragen. Jede Fliege hat zwei dieser Pilzkörper mit je rund 2000 Neuronen. Für die Untersuchung der Winzlinge hat das Team mit Physik-Professor Frank Scheffold (Unifr) eigens ein hochauflösendes Mikroskop entwickelt, mit dem sich erkennen lässt, was mit den Synapsen im Hirn der Fruchtfliegen passiert. Die Resultate waren für die Forschenden überraschend: «Ich hätte erwartet, dass die Fliegen mit dem Alzheimer-Peptid weniger gut lernen. Alle bisherigen Studien, bei welchen das ganze Nervensystem mit Alzheimer-Peptiden infiziert war, haben das suggeriert», sagt Sprecher. «Aber die Untersuchungen zeigen, dass Fliegen mit einer Alzheimer-Infektion im Gedächtniszentrum genauso gut lernen wie die nicht-infizierten Tiere.» Die beiden Gruppen unterscheiden sich lediglich dadurch, dass die infizierten Fliegen das Gelernte nach zwei Stunden bereits wieder vergessen haben. «Alzheimer ist also kein Lerndefekt, sondern ein Defekt, der die Vergesslichkeit steigert», sagt Sprecher.

 

Schlafen ist gut fürs Gehirn

Gegen Vergesslichkeit ist noch kein Kraut gewachsen. Die Biologen konnten aber aufzeigen, dass mehr Schlaf die Vergesslichkeit senkt – jedenfalls bei den Fruchtfliegen. Die Tierchen wurden in Schlaf versetzt, und zwar entweder mit Medikamenten oder eben genetisch, d.h. indem bestimmte Neuronen im Gehirn «ausgeschaltet» wurden. Nachdem die Tiere wieder aufgewacht waren, unterzogen die Forschenden sie den Versuchen mit den Duftstoffen. Und siehe da: Fliegen, die mehr geschlafen haben, können sich nach zwei Stunden noch besser daran erinnern, welcher Duft eine Belohnung verspricht. «Im Schlaf werden die Reizbarkeit und Aktivität von Nervenzellen gesenkt», so Sprecher. «Und wir wissen, dass gerade bei Alzheimer-Patienten die Reizbarkeit von Nervenzellen sehr hoch ist.» Neuronen sind meistens auch spontan aktiv. Das heisst, sie senden spontan elektrische Signale. «In Alzheimer-Neuronen ist diese Aktivität oder Reizbarkeit noch gesteigert: Auch wenn sie nur wenig Botenstoffe von einer anderen Zelle erhalten, reagieren sie sehr stark. Eine solche Überlastung kann schädlich sein für Neuronen und sogar zu deren Absterben führen.»

 

Bausteine fürs grosse Ganze

Von grossem Interesse für die Wissenschaftler ist natürlich auch die Frage, welche Rolle das Erbgut in diesem Prozess spielt: «Nur ein Bruchteil aller Gene sind am Lernprozess beteiligt», so Sprecher. Um herauszufinden, welche es sind, nutzen die Forscher die so genannten Transkriptomik. Damit lässt sich bestimmen, welche Gene während eines bestimmten Vorgangs an- respektive ausgeschaltet sind. Im Laufe ihrer Experimente mit den Fruchtfliegen bauen die Freiburger Forscher so eine Datenbasis mit Genen auf, die vermutlich am Prozess des Lernens und Vergessens beteiligt sind. «Welche Auswirkungen diese Forschungsarbeit auf eine Behandlung von Alzheimer-Patienten haben wird, kann ich heute nicht abschätzen; möglicherweise gibt es in zehn Jahren medizinische Anwendungsmöglichkeiten», sagt Sprecher. «Aber auch die nicht-medizinische Grundlagenforschung ist sehr wichtig: Letztlich hilft sie uns, die Mechanismen des Lebens besser zu verstehen.»

 

 

Simon Sprecher ist Projektleiter eines SystemsX-­Forschungsprojekts, welches das Gedächtnis und dessen Kehrseite – die «Biologie des Vergessens» – systematisch und interdisziplinär untersucht. Das Freiburger Team verknüpft in Zusammenarbeit mit den Universitäten Bern und Florida (USA) theoretische Kenntnisse, quantitative Verhaltensexperimente, Gentechnologie, Se­­quen­zierung der nächsten Generation und hochauf­lösende Mikroskopie. 

 

simon.sprecher@unifr.ch
www.systemsx.ch