Immer mehr Gefangene altern und sterben im Strafvollzug. Dabei sind längst nicht alle Schweizer Gefängnisse dafür geeignet. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende». Nicolas Queloz, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Freiburg, erstellte den juristischen Rahmen für die Studie.
Es ist der letzte Wunsch des todkranken neunzigjährigen Straftäters: „Draussen“ in einem Hospiz sterben zu dürfen. Doch das Bundesgericht lehnt seinen Antrag auf Haftentlassung ab, mit der Begründung, der Betroffene stelle immer noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar – obwohl dessen Mobilität auf 20 Schritte beschränkt ist. Der Mann stirbt kurz darauf im Gefängnis. Laut Prof. Nicolas Queloz, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Freiburg, leider kein Einzelfall. «In Fällen wie diesen wird die Menschenwürde klar verletzt, da in einem normalen Strafvollzug einem Insassen kein menschenwürdiges Lebensende garantiert werden kann.» Immer mehr Gefangene sterben im Freiheitsentzug und die Gefängnisse sind kaum darauf vorbereitet. Ein Forschungsteam der Universitäten Freiburg und Bern hat in der Studie «Lebensende im Gefängnis» des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» (NFP 67) genau diese Problematik untersucht. Der Strafrechtler Nicolas Queloz und der Jurist Stefan Bérard haben den juristischen und kriminologischen Rahmen erstellt.
Zeit zum Handeln
Seit 2015 ist der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen erstmals höher als der Anteil der 20-Jährigen. Diese Realität spiegelt sich auch in der Gefängnispopulation wieder: Die Gefangenengruppe der über 60-Jährigen wird stets grösser. In den letzten dreissig Jahren hat sich die Anzahl der betagten Straftäter in Schweizer Gefängnissen mehr als verdreifacht. Strafrechtsprofessor Nicolas Queloz kennt die ausschlaggebenden Faktoren dafür: Die demographische Entwicklung der Bevölkerung und die Zunahme der Kriminalität in der Bevölkerungsgruppe der über 50-Jährigen. Ausserdem wurden mehr schwere Gewaltdelikte begangen und dafür härtere Strafen verhängt. «Die Gesetze sind strenger geworden. Genügt aus Sicht des Gerichts eine Freiheitsstrafe allein nicht und besteht ein besonderes Sicherungsbedürfnis, wird eine stationäre Behandlung oder eine Verwahrung als Massnahme ausgesprochen. Hier steht der Schutz der öffentlichen Sicherheit im Vordergrund. Heute werden deutlich mehr stationäre Massnahmen ausgesprochen als noch vor zehn Jahren und da ist es sehr wahrscheinlich, dass die Insassen ihr Lebensende im Gefängnis verbringen und dort sterben werden. Die Gefängnispopulation der über 50-, 60- und 70-Jährigen wird in Zukunft noch weiter zunehmen (verdreifacht für 2030 und mehr als verzehnfacht bis 2050). Es ist also unerlässlich, sich Gedanken über das Lebensende in Schweizer Gefängnissen zu machen», unterstreicht der Strafrechtsexperte.
Immer restriktivere Gesetzesauslegung
Im juristischen Rahmen informieren Nicolas Queloz und Stefan Bérard über das Schweizerische Recht: «Das schweizerische Strafrecht unterscheidet zwei Sanktionstypen, nämlich Strafen und Massnahmen. Im Schweizerischen Strafgesetzbuch existieren Strafnormen, die eine Aufhebung und eine Unterbrechung des Strafvollzugs erlauben, die aber aus «wichtigen Gründen» abgelehnt werden können. Was als «wichtige Gründe» gilt, wird im Strafgesetzbuch nicht erläutert, sondern von Strafvollzugsbehörden und Richtern ausgelegt. Seit fünfzehn Jahren werden «wichtige Gründe» immer restriktiver interpretiert, denn heute steht die öffentliche Sicherheit an erster Stelle.» Die Schweizerische Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention nennen zwar Behandlungskonzepte für sterbende Gefangene, denen zufolge eine Behandlung nie unmenschlich und erniedrigend sein darf, aber es gebe keine einheitlichen Regeln für ein menschenwürdiges Lebensende im Gefängnis, da weder einheitliche Richtlinien noch juristische Normen existierten. Im Hinblick auf den Straf- und Massnahmenvollzug haben sich die Schweizer Kantone zu drei regionalen Konkordaten zusammengeschlossen: Strafvollzugskonkordate der Nordwest- und Innerschweiz, der Ostschweiz und der lateinischen Schweiz. Die Forschenden fordern, dass es in jedem dieser Konkordate mindestens eine Institution geben sollte, welche die Infrastrukturen sowie geschultes Personal für alternde, kranke und sterbende Insassen vorweisen kann.
Gefängnisse mit Modellcharakter
Die beiden Justizvollzugsanstalten Lenzburg (AG) und Pöschwies (ZH) sind derzeit die einzigen, die das Problem der Überalterung angehen. Dort untersuchte das Forschungsteam während drei Monaten das Leben hinter Gittern. Das Gefängnis Lenzburg etwa hat eine Abteilung «60 Plus» mit 12 Plätzen geschaffen. Hier wurde die Infrastruktur an die Bedürfnisse von betagten Menschen mit Mobilitätsschwierigkeiten und Krankheiten angepasst. «Genauso wichtig war die Vorbereitung und Schulung des Gefängnispersonals in Pflege und Begleitung, ähnlich wie in einem Pflege- oder Altersheim», betont Prof. Queloz. Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies ist mit rund 450 Plätzen für straffällige Männer die grösste geschlossene Justizvollzugsanstalt der Schweiz. Pöschwies hat eine bedeutende Abteilung mit bis zu 50 verfügbaren Plätzen für Personen mit gesundheitlichen Problemen geschaffen, die auch jüngere Betroffene, die beispielsweise an HIV erkrankt oder schwer Drogensüchtig sind, aufnimmt. «Das Modell von Pöschwies finde ich sehr interessant, hier gibt es keine Altersbegrenzung, denn man vertritt die Ansicht, dass Menschen in Haft schneller altern als in Freiheit», unterstreicht der Strafrechtler. In den Gefängnissen der Westschweiz existieren gegenwärtig noch keine vergleichbaren Abteilungen; in den Kantonen Waadt und Genf sind aber zwei Projekte am Laufen. Nicolas Queloz erinnert sich gerne an den offenen und konstruktiven Dialog zwischen dem Forschungsteam und den Direktionen, dem Personal und den Ärzten der Gefängnisse während der Forschungsarbeit: «Das Ziel dieser wertvollen Zusammenarbeit ist ein klares Bewusstsein und die Sensibilisierung der Verantwortlichen aus Politik, Justiz und Sicherheit, damit sie künftig Massnahmen in die Wege leiten.»
Infrastruktur und Personal anpassen
Die Forschenden empfehlen konkrete Lösungsansätze: Erstens könnten bauliche Massnahmen getroffen werden, indem die Gefängnisse ihre Infrastruktur den Bedürfnissen der betagten Insassen anpassen, d.h. Zellen umbauen und ausrüsten, etwa mit altersgerechten Betten und Toiletten. Zweitens sollte das Personal entsprechend für die Spezialabteilungen ausgebildet werden. «Die Haftanstalten sollten auch Palliativpflege sowie eine gesicherte Alterspflege zur Verfügung stellen», betont Queloz und schlägt als dritte und vielleicht umstrittenste Massnahme die Möglichkeit des begleiteten Suizids vor. «Menschen, die todkrank und noch urteilsfähig sind, sollten das Recht auf Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen. Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften würde einen assistierten Suizid zwar erlauben, aber es braucht die Zustimmung der Kantone, dass in öffentlichen Räumen Sterbehilfe dank den Organisationen EXIT und Dignitas geleistet werden darf.» Viertens empfehlen die Forschenden die Schaffung einheitlicher Regeln für ein menschenwürdiges Lebensende im Gefängnis. «Das Strafgesetzbuch enthält Paragraphen, die alternative Vollzugsmassnahmen erlauben würden. Dieser Spielraum wird aber von den Gerichten kaum ausgenützt, sondern unterstützt eher eine Null-Risiko-Haltung», erläutert Prof. Queloz.
Es tut sich was
Bereits diesen Herbst sieht das Schweizerische Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal in Freiburg ein spezialisiertes Ausbildungsmodul zur Begleitung von betagten und kranken Personen im Gefängnis vor. Nicolas Queloz ist überzeugt, dass die Studienergebnisse eine soziale und politische Relevanz haben.
Projektleitung
Dr. Ueli Hostettler, Pädagogische Hochschule Bern
Dr. Marina Richter, Bereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit, Universität Freiburg
Prof. Dr. Nicolas Queloz, Rechtswissenschaftliche Fakultät Freiburg
Beginn / Ende: 01.09.2012 – 30.04.2016
Link zur Studie
Lebensende im Gefängnis – Rechtlicher Kontext, Institutionen und Akteure
Kontakt
Prof. Nicolas Queloz, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Freiburg, Av. de Beauregard 11, 1700 Freiburg, +41 26 300 80 75, nicolas.queloz@unifr.ch
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