05.11.2015

Forschungsprojekt schafft Orientierung im Sozialhilferecht


Immer mehr Menschen in der Schweiz sind auf Sozialhilfe angewiesen. Aktuell sind 250'000 Personen genötigt, auf das kantonale Auffangnetz zurückzugreifen. Die gewaltigen Veränderungen der Sozialhilfe sind für die Kantone und Gemeinden nicht leicht zu bewältigen. Prof. Eva Maria Belser startet im Herbst dieses Jahres ein Forschungsprojekt, das die verfassungs- und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Sozialhilfe klärt.

Die Sozialhilfe bildet zusammen mit der Nothilfe das letzte Netz der sozialen Sicherheit unserer Gesellschaft. Steigende Langzeitarbeitslosigkeit, Leistungskürzungen bei den Sozialversicherungen und Migration stellen Kantone und Gemeinden vor wachsende Herausforderungen. Der Ruf nach einer Vereinheitlichung des Sozialhilferechts wird laut, denn nicht alle Behörden reagieren gleich auf diesen Druck – die Reaktionen sind teilweise umstritten. Die Einen verlangen unter anderem ein Rahmengesetz für die Sozialhilfe, die Stärkung der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren oder eine grössere Verbindlichkeit der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe. Die Andern tendieren dazu, an der Vielfalt des Sozialhilferechts festzuhalten und die Hilfe und Betreuung individuell und lokal zu gestalten. Gleichzeitig führt die grosse Zahl der Armutsbetroffenen dazu, dass Verfahren standardisiert und je nach Herkunft, Wohnsitz, ausländerrechtlichem Status, beruflichen Wiedereingliederungschancen, Alter oder Verhalten der Sozialhilfebezüger unterschiedliche Auflage auferlegt und unterschiedliche Leistungen ausgerichtet und werden.


Harmonisierung oder Diversifizierung

Prof. Eva Maria Belser und ihr Team wollen nun den verfassungsrechtlichen Rahmen klären, der die Lösung der Probleme anzuleiten hat und Antworten auf drei Fragen finden. Erstens geht es darum zu klären, welche Verantwortlichkeiten Bund, Kantonen und Gemeinden zukommen und welche Eckwerte für ihre Zusammenarbeit gelten. Dabei geht es vor allem um den Föderalismus und um die Frage, wie negativer Wettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden verhindert werden kann. Zweitens wird untersucht, welche Anforderungen der Schutz der Grund- und Menschenrechte an die Ausgestaltung und Ausrichtung der Sozial- und Nothilfe stellt. Es geht dabei in erster Linie um die Frage, welche Minimalleistungen die Verfassung vorschreibt, wie sich der Grundsatz der sozialhilferechtliche Individualisierung mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung verträgt und gleichzeitig die Privatsphäre geschützt und Missbräuche vorgebeugt werden können. Drittens soll die Frage beantwortet werden, in welchem Verhältnis das Recht auf persönliche Freiheit zu den Pflichten bedürftiger Personen stehen, an Arbeits- und Integrationsprogrammen teilzunehmen und unter welchen Voraussetzungen Sanktionen zulässig sind.


Forschung zur Unterstützung Bedürftiger


Die Bedeutung der Bundesverfassung und des Völkerrechts für die Sozialhilfe der Kantone und Gemeinden sowie für die heute 250'000 Bedürftigen der Schweiz ist bis anhin noch nicht systematisch untersucht worden. Die föderalistische Arbeitsteilung und die Grund- und Menschenrechte, die darin festgehalten sind, wirken als Leitplanken für die Zusammenarbeit im Bundesstaat und zum Schutz bedürftiger Menschen. Alle beteiligten Personen und Institutionen profitieren deshalb davon, wenn die verfassungs- und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen und die Rechte und Pflichten, die sich daraus ergeben, verdeutlicht werden. Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Die verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben der Sozial- und Nothilfe – eine Einbettung der Unterstützung Bedürftiger in den föderalistischen und grundrechtlichen Kontext“ wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Ab Herbst 2015 wird sich Thea Bächler am Institut für Föderalismus der Universität Freiburg unter der Leitung von Prof. Eva Maria Belser mit dem Not- und Sozialhilferecht der Schweiz befassen und einen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Rechtsgebiets leisten. 

Kontakt: Eva Maria Belser, Ordentliche Professorin, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Institut für Föderalismus, evamaria.belser@unifr.ch, 026 300 81 30

Thea Bächler, Doktorandin, Institut für Föderalismus, thea.baechler@unifr.ch, 026 300 81 73