Dossier

Heiliger Berg des Elsass’

Mit einem "Schiff, das sich in den Himmel erhebt", vergleicht der Strassburger Theologieprofessor Charles Wackenheim den Mont St. Odile. Dieser Bergrücken, am Ostrand des Mittelgebirges der Vogesen, hoch über der Rheinebene gelegen, ist ein einzigartiger Naturschauplatz und gilt als eine der symbolträchtigsten Stätten in dieser ostfranzösischen Grenzregion.

Er ist die «spirituelle Hochburg» des Elsass': Für viele Menschen, die den Sankt Odilienberg nicht nur zur Wallfahrt besuchen, umgibt der 700 Meter hohe Berg eine besondere Aura. Markant ist besonders das Felsplateau mit der Klosteranlage: Archäologische Spuren deuten darauf hin, dass das Felsmassiv des Odilienbergs bereits von Kelten, Römern und Alemannen genutzt wurde. Die Fläche wird von einem über 10 Kilometer langen, künstlich angelegten Ringwall aus Steinquadern umgeben, über dessen Entstehungsdatum sich die Forschung bis heute nicht einig ist. Für esoterisch interessierte Menschen gilt der Odilienberg mit dieser imposanten Ringmauer als energetischer Kraftort. 

Wie der Name zum Berg kam

Der heutige Name des Berges geht auf die Heilige Odilia (660 bis 13. Dez. 720 n. Chr.) zurück, die dort als erste Äbtissin des neu gegründeten Klosters Hohenburg wirkte. Sie war die Tochter des elsässischen Herzogs Eticho. Der Legende nach wurde sie blind geboren und deshalb von ihrem Vater verstossen. Erst am Tage ihrer Taufe wurde sie sehend. Später errichtete ihr Vater um das Jahr 690 auf den Ruinen einer Hochburg ein Kloster, die Abtei Hohenburg. Unterhalb des Klosters schlug Odilia der Legende nach aus dem Bergfels mit ihrem Wanderstab eine Quelle, der bald heilende Wirkung zugesagt wurde. Aufgrund des Taufwunders wird Odilia bei Augenleiden angerufen. 1050 wurde Odilia von Papst Leo IX. heiliggesprochen. Im Mittelalter ist sie zu einer der am meisten verehrten Heiligen aufgestiegen und 1807 ernannte Papst Pius VII. Odilia zur «Patronin des Elsass». 1946 rief Papst Pius XII. sie zur offiziellen Schutzpatronin des Elsass aus. Oft wird die Heilige Odilia als Äbtissin mit Hirtenstab, aufgeschlagener Bibel in der Hand und einem Kelch mit zwei Augäpfeln abgebildet.

Im Verlaufe des Mittelalters verwaiste das Kloster nach mehreren Bränden. Erst in der Neuzeit wurden die Gebäude vom Orden der Prämonstratenser erneuert bis schliesslich 1687 der Neubau der Kirche «Unserer Lieben Frau vom Odilienberg» erfolgte. Im Zuge der Rekatholisierung des Elsass nach 1648 bildeten sich die konfessionellen Identitäten, die im Elsass bis weit ins 20. Jahrhundert anhielten und zum Teil noch heute präsent sind, heraus. Ab 1918 fanden organisierte Wallfahrten statt. Zwischen 1889 und 2015 war der Orden der Kreuzschwestern in der Abtei Hohenburg auf dem Sankt Odilienberg tätig. Nach deren Weggang sind es nun ein paar wenige Ordensschwestern der Gemeinschaft der Josefsschwestern von Cluny, die auf dem Berg wirken. Auf dem Anwesen des Klosters, dessen Gebäude aus rotem Vogesensandstein bestehen, befinden sich heute neben der Basilika mehrere Kapellen, eine Stele, die an den 1988 erfolgten Besuch des Papstes Johannes Paul II. erinnert, und die Statue der Hl. Odilia. In der «Tränenkapelle», in der noch Gräber aus der Merowinger-Zeit vorhanden sind, soll die Heilige Odilia den Tod ihres Vaters unter Tränen betrauert und für sein Seelenheil gebetet haben. 1920 begingen über 100.000 Gläubige feierlich ihren 1.200sten Sterbetag (13. Dezember) der Heiligen Odilie. «Am 13. Dezember 2020 werden 1300 Jahre seit dem Tod der Heiligen Odilie vergangen sein. Ein Datum, das für eine Verjüngungskur für den Mont Sainte Odile, den Odilienberg, genutzt werden soll. Bereits im Mai haben die Feierlichkeiten für das Jubiläum 2020 begonnen.» (Badische Zeitung)

 

Steinbock beim Oberen Grindelwaldgletscher (BE) © marcovolken.ch
Odilia im Dienste der Politik

In der Literatur des 19. Jahrhunderts erfuhr der Odilienberg eine besondere Beachtung. Dort wurden die Person Odilias und der Berg zuweilen instrumentalisiert. Nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges von 1870–1871 und der sich anschliessenden Annektierung Elsass-Lothringens an das Deutsche Kaiserreich etablierte sich in den Folgejahren das Genre des französischsprachigen «Elsassromans». Vor allem spielten der Odilienberg und die Heilige Odilie im Werk des Autors und Politikers Maurice Barrès (1862–1923) eine besondere Rolle. Von revanchistischem Denken beeinflusst, geht er in seinem Roman «Au service de l’Allemagne» auf die elsässische Schutzpatronin ein und versucht, diese zu einer Art Vorgängerin der französischen Nationalheldin Johanna von Orleans zu stilisieren. Barrès schrieb Odile eine «Zivilisationsleistung» der Region zu. (Vgl. Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation: Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen 2003). Ein weiteres Beispiel für die Instrumentalisierung ihrer Person ist während des 1. Weltkrieges festzustellen. Während des Krieges erschien ein Buch «La prophétie de sainte Odile et la fin de la guerre». Darin wurde ein lateinischer Brief Odilias (mit fragwürdiger Authentizität) aus dem Mittelalter ins Französische übersetzt. Der darin enthaltenen Vorhersehung Odilias wurde insofern eine grosse Beachtung geschenkt, als darin der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Antichrist dargestellt und dem kriegerischen Germanien eine Niederlage in einem grossen Krieg prophezeit wurde. Ebenfalls kam während des 2. Weltkrieges diesem Text eine gewisse mediale Aufmerksamkeit zu, sodass selbst der französischen Schriftsteller und Philosoph Albert Camus diesen später in seinem berühmten Roman «La Peste» erwähnte. (Vgl. Lucien Febvre: Comment se fabrique un oracle: la prophétie de sainte Odile, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations. 1e année, N. 3, 1946, S. 285–286). Es ist heute davon auszugehen, dass der Autor Georges Stoffler mit der Veröffentlichung einzig darauf abzielte, die französische Heimatfront im Krieg zu motivieren, den Franzosen Mut zuzusprechen und dabei die Person der Heiligen Odilia für politische Zwecke instrumentalisierte. Der deutschstämmige Jesuitenpater Peter Lorson (1897–1954), der allerdings in Frankreich wirkte, sah in Odilia eine Gestalt, die über den Rhein wachte, um damit die beiden benachbarten Völker einem christlichen Ideal folgend zu einen. Die Beispiele von Maurice Barrès und Georges Stoffler zeigen, wie zwischen 1870 bis 1945 Sainte Odile zu einem Symbol der Treue gegenüber dem französischen Vaterland hochstilisiert und für politische Zwecke vereinnahmt wurde. Dies zeigt mithin die zu dieser Zeit immer noch grosse Symbolkraft der Person Odilias auf das kollektive Bewusstsein. Der im Europa der damaligen Zeit verbreitete Nationalismus hatte quasi religiöse Züge angenommen. Auch Orte wie Lourdes in den Pyrenäen und vor allem Berge wie der Mont St. Michel in der Normandie, aber nicht zuletzt der Odilienberg in den Vogesen erfuhren gerade in dieser Zeit besondere Beachtung. 

Unerschütterlich – wie ein Berg

In den letzten Jahren hatte man über 1'000’000 eine Million Besucher und Besucherinnen auf dem Berg gezählt, darunter viele Pilger und Pilgerinnen. Die Wirkmächtigkeit dieses Ortes rührt aus einem Zusammenspiel von einzigartiger Natur und einer jahrtausendlangen Geschichte. Er ist Kraftort und geistiges Zentrum – je nach Weltanschauung. Analog zur Grenzregion Elsass kann der Sankt Odilienberg auf über 1.300 Jahre wechselvolle europäische Geschichte zurückblicken. (Vgl. Linde Egberts: Chosen Legacies. Heritage in Regional Identity, London 2017). Die Geschichte dieses Berges ist stark von konkurrierenden Konzepten und Aspekten im Spannungsfeld von Religion und Konfession, Region und Nation sowie sehr unterschiedlichen, deutschen und französischen Kulturverständnissen geprägt. Geblieben sind der Mont St. Odile, eine «spirituelle Hochburg» als wirkmächtiger Erinnerungsort mit einer langen deutsch-französischen Rezeptionsgeschichte, das grosse Kloster als geistliches Zentrum und Begegnungsort und nicht zuletzt hat die Wallfahrt zur Heiligen Odilia alle Zeitläufte überdauert.

Unser Experte Donatus Düsterhaus ist Historiker, Wissenschaftlicher Bibliothekar und Leiter der Interfakultären Bibliothek für Geschichte und Theologie (BHT). Zu seinen wissenschaftlichen Interessen zählt unter anderem die Kulturgeschichte des Elsass. 

donatus.duesterhaus@unif.ch

http://www.mont-sainte-odile.com/