Forschung & Lehre

«Ich habe den tollsten Beruf»

20 Jahre am Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung der Universität Freiburg – und kein bisschen müde. Ab September übernimmt Dominicq Riedo die Leitung des ZELF. Ein Gespräch übers Lehrersein aus Leidenschaft, den Lehrplan 21 und Dinosaurier im Unterricht.

Dominicq Riedo, Sie sind seit 20 Jahre am Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung tätig. Werden Sie als Direktor des ZELF die Lehre aufgeben?

Nein, zum Glück nicht, denn ich hänge sehr daran – noch immer. Ich werde weiterhin 30 Prozent in der Lehre tätig sein können. 50 Prozent werde ich künftig in die Leitung des ZELF stecken.

Wo erwarten Sie die grössten Veränderungen?

Ich werde mehr konzeptionell und strategisch mitdenken können. Auch die Personalverantwortung stellt eine grosse Veränderung dar. Und natürlich der Wechsel vom Kollegen zum Chef. Dieser Punkt beschäftigt mich etwas, aber wir sind ein tolles Team und so wird das sicherlich gut gelingen.

Stellen Sie uns doch das ZELF kurz vor. Wer kann hier welchen Abschluss machen?

Wir haben aktuell zwei, ab nächstem Semester dann neu drei Studiengänge. Derzeit sind es das Lehrdiplom Sekundarstufe1, das Lehrdiplom für Maturitätsschulen und ganz neu das kombinierte Lehrdiplom für beide Zielstufen. Wir haben Studierende aus der ganzen Deutschschweiz, die ein Lehrdiplom für die Sekundarstufen anstreben und dies über den universitären Weg machen möchten.

Weil dies in anderen Kanton nicht mehr möglich ist?

Genau. Das Lehrdiplom für Sekundarstufe 1 wird in allen anderen Kantonen – ausser in Genf – nur noch an den Pädagogischen Hochschulen, kurz PHs, angeboten. Auch das Lehrdiplom für Maturitätsschulen kann neben Genf und Zürich nur noch in Freiburg an der Uni erworben werden. Früher war ja die Ausbildung für Kindergarten und Primarschule ein Berufsabschluss, der an kantonalen Lehrerinnen- und Lehrerseminaren parallel zur Matura erworben wurde. Die Ausbildung für die Sekundarstufen wurde damals über universitäre Studiengänge erlangt. Mit der Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung nach der Jahrtausendwende wurden in den meisten Kantonen alle Studiengänge in die PHs überführt. Im Kanton Freiburg blieben die Studiengänge für die beiden Sekundarstufen und für schulische Heilpädagogik an der Universität, was auch Vorteile hat.

Die da wären?

Wir sind sehr nahe an den fachwissenschaftlichen Ausbildungen und damit am Puls der aktuellen Forschung. Wer beispielsweise Naturwissenschaften macht, ist zusammen mit den Studierenden anderer Studienprogramme in der Fachausbildung und macht parallel dazu die Lehrer_innenausbildung. Umgekehrt erhalten Fachprofessor_innen z.B. im Rahmen von Prüfungslektionen Einblick in die vorbereitenden Schulstufen. So besteht ein Austausch in zwei Richtungen.

Sie erwähnten einen neuen Studiengang ab diesem Herbst.

Mit dem Herbstsemester starten wir mit dem KLD, dem Kombinierten Lehrdiplom. Dieser neue Studiengang vereint das Sek-1-Diplom und das Lehrdiplom für Maturitätsschulen. Viele unsere Abgängerinnen und Abgänger, die das Lehrdiplom für Maturitätsschulen gemacht haben, unterrichten später an einer Sekundarschule. Mit dem KLD erlangen sie gleichzeitig das Diplom für beide Zielstufen, was längerfristig ein grosser Vorteil ist, da die Kantone diesbezüglich immer strenger werden.

Und mit dem KLD schlägt man zwei Fliegen auf einen Streich?

Haargenau. Wer bei uns das Lehrdiplom für Maturitätsschulen macht, kann im Anschluss noch 46 ECTS anhängen und erhält zusätzlich das Diplom, um an der Sekundarstufe 1 zu unterrichten. Dies dauert weniger lange, als wenn man beide Diplome einzeln absolvieren würde.

Welche Veränderungen konnten Sie über die letzten 20 Jahre in Bezug auf die Studierenden beobachten?

Mein subjektiver Eindruck sagt mir, dass die Studierenden heute motivierter sind für den Lehrberuf. Früher war das Lehrdiplom bisweilen auch eine Verlegenheitslösung. Die Anforderungen waren auch tiefer. Ich würde sagen, die gestiegenen Anforderungen haben zu einer Art positiven Selektion geführt.

Wie ist es auf dem Arbeitsmarkt? Der Lehrerberuf scheint nach wie vor beliebt – gibt es denn auch Stellen für Lehrerinnen und Lehrer?

Man muss zwischen Fächergruppen unterscheiden. Mathelehrer_innen finden immer einen Job während es in Fächern wie Geschichte oder Englisch schwieriger ist. In den nächsten Jahren wird aber ein Lehrermangel auf uns zukommen. Je höher die Stufe, desto älter der Lehrkörper. Auch die Geburtenzahlen nehmen zu. An den Maturitätsschulen ist in diesem Jahr der Tiefststand erreicht, danach werden die Schüler_innenzahlen wieder zunehmen. Und zwar gleichzeitig mit einer Pensionierungswelle.

Lehrerin oder Lehrer zu werden ist ein Challenge: Welches sind die wichtigsten Voraussetzungen, um in diesem Beruf glücklich zu werden?

Es braucht sicherlich die Begeisterung, um mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten und sich auf diese einzulassen. Und es braucht die Freude am jeweiligen Fach, das man weitergeben möchte. Lehrer sein ist kein reiner Brotjob. Um längerfristig Freude an diesem Beruf zu haben, braucht es auch die Bereitschaft zur Veränderung, zur Innovation. Wichtig ist auch eine gesunde Distanzierungsfähigkeit. Lehrer_innen gehören zu einer Burn-out gefährdeten Berufsgruppe.

War das Lehrersein früher einfacher?

Es war anders. Nicht zwingend einfacher. Man hatte zwischen 35 und 40 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse, häufig mehrstufig geführt. Heute sind die Berufsanforderungen an sich wohl gestiegen, aber die Neudiplomierten bringen auch mehr mit. Wir sind ja Kinder unserer Zeit. Letzten Sonntag hat mir mein Schwiegervater erzählt, wie es bei ihm in der Primarschule so zu- und herging, mit Schlägen und schlecht ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern. Das klingt nicht nach einem glücklichen und einfachen Schulalltag.

Gerade im zweisprachigen Kanton Freiburg fallen immer wieder die Unterschiede auf zwischen der französischen- und der deutschsprachigen Schulmentalität.

Ich finde es faszinierend. Wenn man eine Schule betritt, spürt man den Unterschied. Eine meiner Studentinnen, die in deutschen und französischsprachigen Klassen unterrichtet, erzählte kürzlich, dass die Schüler_innen der welschen Klassen aufstehen, wenn die Lehrperson hereinkommt. In der Deutschschweiz kennt man dies kaum. Aber was den Unterricht angeht, so ist der Inhalt grundsätzlich derselbe. Die Oberflächenstruktur mag wohl anders sein, aber das Lernen passiert auf einer tieferen Ebene.

In der Deutschschweiz und Freiburg als zweisprachigem Kanton ist man dabei, den Lehrplan 21 umzusetzen. Das Westschweizer Pendant ist der plan d’études romand, kurz PER. Wieso gab es da keine Harmonisierung?

Lassen Sie mich etwas ausholen. Um die Jahrtausendwende kam mit einer internationalen Vergleichsstudie der sogenannte PISA-Schock. Trotz hoher Bildungsausgaben lag die Schweiz im Lesen und in Naturwissenschaften nur im Mittelfeld. Eine_r von fünf Schweizer Schüler_innen war mit 15 Jahren nicht in der Lage, einen einfachen Text zu verstehen. Im Anschluss daran hat die Schweiz nationale Bildungsziele verabschiedet. Diese definieren, welche Grundkompetenzen alle Schülerinnen und Schüler der obligatorischen Schulzeit in den Sprachfächern, Mathematik und Naturwissenschaften erreichen sollen. Daraus ist in der Westschweiz der PER und in den 21 deutschsprachigen Kantonen der Lehrplan 21 entstanden. Der PER ist bereits seit mehreren Jahren umgesetzt. Der Lehrplan 21 wird im Kanton Freiburg im kommenden Schuljahr eingeführt.

Welches sind die gemeinsamen Nenner zwischen dem LP21 und dem PER?

Die gemeinsame Basis bilden die schweizerischen Bildungsstandards in den Kernfächern. Diese definieren die Grundanforderungen, welche 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichen sollten. Sowohl der LP21 wie auch der PER basieren auf der Kompetenzorientierung und der Anerkennung der Differenzierung in der Schule. Das bedeutet, dass nicht alle zum Gleichen fähig sind. Hinter den beiden Lehrplänen steckt also dieselbe Philosophie.

 

© STEMUTZ.COM

Es wird viel von Kompetenzen gesprochen. Anstelle von Wissen sollen sich die Schüler_innen künftig Kompetenzen aneignen. Wo liegt genau der Unterschied?

Kompetenz ist, vereinfacht gesagt, das Zusammenspiel von Wissen, Können und Wollen, um eine Herausforderung oder ein Problem zu lösen. Früher war die Schule stark darauf konzentriert, Wissen zu vermitteln. Wissen, das die Schüler_innen im Schulkontext wiedergeben, aber dann in konkreten Aufgabenstellungen nicht anwenden konnten. Aber die Schule soll auf das Leben vorbereiten. Kompetenzorientierung bedeutet, dass vermehrt an authentischen Situationen gelernt wird und die Herausforderung darin besteht, das Wissen und Können in bestimmten Situationen anzuwenden.

So zum Beispiel?

Wenn ich mir daheim eine Hütte für meinen Garten bauen will, so muss ich auf meine Mathematik- und Physikkenntnisse zurückgreifen. Sonst klappt das nicht. Ich kann mich auch nicht unterhalten, wenn ich keinen Wortschatz habe. Das Aneignen von Wissen bleibt also wichtig. Aber es muss in neuen Situationen auch angewendet werden können.

Was erhofft man sich vom LP21?

Der LP21 entstand vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Die Herausforderungen sind riesig. In der technischen Entwicklung, im Zusammenleben der Kulturen, den globalen Konflikten, dem Klimawandel. Der Überalterung der Bevölkerung. Mit dem Wissen von früher können wir diesen Entwicklungen nicht begegnen. Man vermutet, dass zwei Drittel der Berufe, die unsere Primarschüler_innen einmal ausüben werden, heute noch gar nicht existieren. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen das Rüstzeug mitgeben, um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein. Deshalb werden Problemlösekompetenzen oder überfachliche Kompetenzen, wie etwa die Kommunikation, im LP 21 stärker gewichtet.

Im Kanton Freiburg wird der LP 21 ab dem nächsten Schuljahr, also August 2019, umgesetzt. Wird man davon etwas merken?

Es gibt ein neues Zeugnis, das wird ein sichtbares Zeichen sein. Auch wird es tendenziell weniger schriftliche Prüfungen geben. Dafür werden vermehrt Transferaufgaben und Lernprodukte bewertet, welche mehrere Kompetenzen umfassen. Aber die Schüler_innen werden nicht in eine «neue» Schule kommen, einige Elemente der Kompetenzorientierung sind bereits heute umgesetzt.

Wie handhaben Sie die Umsetzung des Lehrplans 21 in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer am ZELF?

Der Lehrplan 21 ist besonders in den Fachdidaktikkursen schon länger ein Thema. So werden auch die aktuellen Lehrmittel verglichen, beurteilt und verwendet. Ausserdem gilt es, neue Fachbereiche zu integrieren. So etwa Räume, Zeiten und Gesellschaft, kurz RZG mit Geographie und Geschichte.

Geographie und Geschichte werden also künftig vereint. Das gefällt nicht allen.

Es gibt beide Varianten. Im Kanton Freiburg werden die Fächer innerhalb des Fachbereichs RZG weiterhin getrennt unterrichtet. Aber klar, gewisse Fachbereiche befürchten, dass Wissen und Können verlorengeht. Doch ganz ehrlich: Welche Bedeutung hat der Lehrplan im Berufsalltag? Für den Unterricht spielen Lehrmittel, die Zusammenarbeit mit den Kolleg_innen eine wichtigere Rolle. Diese werden für die Umsetzung in der Praxis von entscheidender Bedeutung sein. Es soll weniger sogenannt «unnützes» Wissen vermittelt werden.

Also weg von den Dinosauriern und hin zu aussterbenden Tierarten?

Dinosaurier finde ich super-interessant – je nachdem, wie man diese unterrichtet. Im kompetenzorientierten Unterricht steht nicht das Thema im Vordergrund sondern die Schlüsselfragen, welche wir damit beantworten können, z.B. Warum interessieren uns längst ausgestorbene Tiere? Was erzählen ihre Knochen über ihren Alltag und ihr Zusammenleben? Warum leben sie heute nicht mehr?

Zum Schluss: Kurze Fragen und kurze Antworten. Braucht es Hausaufgaben?

Nur wenn sie im Unterricht aufgegriffen und ausgewertet werden.

Sind Diktate sinnvoll?

Nein.

Handys in der Schule: Erlaubt oder nicht?

Nur zum Lernen.

Nachsitzen und Strafaufgaben schreiben: Sinnvoll oder überholt?

Überholt.

Wie sieht Ihre ideale Schule aus?

Es ist eine Schule, welche die Kinder und Jugendlichen gerne besuchen. Wo sie gemeinsam an dem arbeiten, das sie interessiert. In der sie auch lernen, sich Herausforderungen zu stellen, durchzubeissen und anzupacken. Eine Schule, die mit der Lebenswelt vernetzt ist und in der die Lehrpersonen zusammenarbeiten. In der Schüler_innen nicht Fehler fokussieren, sondern Kompetenz und Anerkennung erleben können.

Was ist das Schönste am Lehrerberuf?

Zu merken, dass sich Menschen für etwas zu begeistern beginnen. Wenn ich z.B. bei meinen Studierenden erlebe, wie sie Inhalte angehen und aufbereiten: mit grosser Kreativität und Begeisterung. So kann ich sagen, ich habe den tollsten Beruf!

 

Dominicq Riedo, geboren in Freiburg, hat zwei Lehrdiplome und promovierte an der Universität Freiburg zum Thema «Langzeitwirkungen schulischer Integration oder Separation». Während 10 Jahren unterrichtete er auf allen Schulstufen der obligatorischen Schulzeit. Er war Dozent am Kantonalen Lehrerinnen- und Lehrerseminar sowie langjähriger Projektmitarbeiter an der Fachstelle Fritic. Seit 1999 arbeitet er am ZELF als Lektor für Allgemeine Didaktik und Mediendidaktik. Als Co-Leiter ist er für verschiedene Zertifikatslehrgänge verantwortlich, welche die Universität zusammen mit der PH Freiburg anbietet. Dominicq Riedo ist in verschiedenen Arbeitsgruppen tätig, unter anderem für die Einführung des Lehrplans 21 in Deutschfreiburg. Ab 1. September 2019 wird er geschäftsführender Direktor des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung der Universität Freiburg (ZELF).

dominicq.riedo@unifr.ch