Dossier
Geschlecht und Recht
Der Kunstname Conchita Wurst bringt auf den Punkt, wofür Jurist_innen viele Worte brauchen: Menschenrechte stehen allen Menschen zu, es ist Wurst, welche Form von Geschlecht, Gender oder sexueller Orientierung eine Person hat oder fühlt.
Die Yogyakarta Principles (Stand November 2017) formulieren diesen Rechtsanspruch und den Schutz besonders differenziert: Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtliche Anerkennung ohne eine Angabe oder Referenz auf biologisches Geschlecht, Gender (= soziales Geschlecht), sexuelle Orientierung, Genderidentität, Genderausdruck/-auftritt oder sexuelle Charakteristika: human rights law relating to sexual orientation, gender identity, gender expression and sex characteristics (SOGIESC).
Recht konstruiert Geschlecht
Recht war noch nie geschlechtsblind und ist dies bis heute nicht: Wir wissen, dass weder die französische Aufklärung mit ihrer Forderung nach Liberté, Egalité, Fraternité noch der Schweizerische Bundesstaat (1848) Frauen politisch und rechtlich mitgedacht haben. Menschenrechte (frz: les droits de l’ homme, engl: the rights of men) waren damals geschlechtsspezifische Männerrechte. Frauen in der Schweiz hatten bis zum Jahre 1971 kein politisches Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene. Mittlerweile ist «das Geschlecht» vielfach verpöntes Anknüpfungsmerkmal geworden und Gegenstand zahlreicher internationaler und nationaler Diskriminierungsverbote. Teils dürfen heute Frauen und Männer explizit nicht ungleich behandelt werden (z.B. in Sachen Lohn, Art. 8 Abs. 3 BV). Damit knüpft unsere Rechtsordnung, wie viele andere auch, an Vorstellungen von Geschlecht an, die entlang sichtbarer Geschlechtsmerkmale unterteilt: Frauen und Männer. Dies gilt vorab für die Fortpflanzung. Das Recht basiert auf der Vorstellung von weiblich als gleichbedeutend mit potentieller Mutterschaft. Entsprechend knüpft unser Abstammungsrecht das Kind-Elternverhältnis an die Binarität von Mutter- oder Vaterschaft. An die Mutterschaft werden Versicherungsleistungen geknüpft und das AHV- und Hinterlassenenrecht nimmt diese Vorstellungen weiter auf (Witwenrecht). Das Recht konstruiert damit überholte Geschlechterrollenbilder. Es ginge auch anders.
Mehr als «männlich» und «weiblich»
Ein Entscheid des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH) vom 15. Juni 2018 besagt, dass der Begriff «Geschlecht» nicht zwingend auf «männlich» und «weiblich» beschränkt sei. Der VfGH hatte eine Bestimmung des österreichischen Personenstandsgesetzes auf seine Verfassungsmässigkeit hin überprüft, welche den Eintrag des Geschlechts verlangt, ab der Geburt eines Kindes. Anlass war eine Person, die ihr Geschlecht nicht als männlich oder weiblich hatte eintragen wollen, weil sie intersexuell ist. Das Personenstandsregister sollte dahingehend berichtigt werden, dass ihr bisher auf männlich lautender Geschlechtseintrag auf «inter», in eventuell auf «anders», in eventuell auf «X», «unbestimmt» bereinigt werde. Gestützt auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz der Privatsphäre; Anm.: in Österreich hat der Persönlichkeitsschutz keinen expliziten Verfassungsrang) sei jeder Person mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber weiblich oder männlich das verfassungsmässige Recht einzuräumen, nur jene staatliche Geschlechtsidentität akzeptieren zu müssen, die ihr persönlich auch entspreche. Der VfGH kommt zum Schluss, dass es in der ganzen Rechtsordnung keine Definition des Begriffs Geschlecht gebe. Deshalb müsse der Begriff Geschlecht nicht zwingend auf männlich und weiblich beschränkt sein. Der Begriff des Geschlechts sei vielmehr so allgemein, dass er sich ohne Schwierigkeiten dahingehend verstehen lasse, dass er auch alternative Geschlechtsidentitäten einschliesse.
Sylvan, 41 ans, personne trans non-binaire neutre
Collaborateurice scientifique
«Le réel n’est pas noir ou blanc. Le sexe, le genre et l’orientation sexuelle se déclinent en une infinité de couleurs.»
Die «dritte Option»
Mit Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10. Oktober 2017 hat auch das höchste deutsche Gericht der Binarität des Geschlechts eine Absage erteilt. Es entschied, dass eine «Verletzung des Persönlichkeitsrechts» vorliegt, wenn sich eine Person durch ihren Geschlechtseintrag, den sie in einem Personenstandsregister erbringen müsse, nicht repräsentiert fühle. Keine Person müsse einen falschen oder einen fehlenden Eintrag hinnehmen. Mit dem Ankreuzen von weiblich oder männlich oder leer (Letzteres ist in Deutschland seit 1.11.2013 möglich) im Personenstandsregister, könne sich eine Person, die weder weiblich noch männlich, aber z.B. intersexuell sei, nicht identifizieren. Anlass für das Verfahren war Vanja, die bei ihrer Geburt als weiblich registriert worden war und 25 Jahre später beim Standesamt durchsetzen wollte, dass diese Bezeichnung gestrichen und durch «inter» oder «divers» ersetzt werde. Gemäss der (vorgelegten) Chromosomenanalyse ist sie weder Frau noch Mann. Das BVerfG entschied auch, dass ein binäres Verständnis des Geschlechts diskriminierend sei. Das verpönte Diskriminierungsmerkmal habe eigenständige Bedeutung und gehe dem expliziten Gleichberechtigungsgebot zwischen Frau und Mann vor. Im Resultat hat der BVerfG den deutschen Gesetzgeber angewiesen bis Ende 2018 eine Neu-regelung zu einer sog. «dritten Option» zu schaffen oder ganz auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten. Leider hat der deutsche Gesetzgeber im letzten Sommer erst einen unbefriedigenden Vorschlag zur «dritten Option» präsentiert («divers»), denn dieser schliesst v.a. trans Menschen nicht eindeutig ein.
Die Legal Gender Studies fordern seit über 15 Jahren ein De-Gendering. Da die Festschreibung des Geschlechts mit dem Eintrag im Personenstandsregister bei Geburt beginne, habe dieser besser zu unterbleiben. Ein solcher Verzicht könne eine befreiende Wirkung haben. Der Aufwand, die gesamte Rechtsordnung entsprechend anzupassen, halte sich in Grenzen.
Caveat!
Welchen dieser drei Wege der schweizerische Gesetzgeber künftig beschreiten mag (es sind mehrere rechtspolitische Anträge pendent und ein Vorentwurf zur erleichterten Abänderung des Personenstandsgesetzes war vor kurzem in der Vernehmlassung): die Wirkungen des Rechts dürfen auch nicht überschätzt werden. Denn trotz staatlicher Anerkennung «der Frauen» als Menschenrechtssubjekte bleiben, wie wir wissen, Diskriminierungen ein strukturelles Problem. Dennoch ist die Anerkennung von Menschenrechtssubjekten mit verschiedenen geschlechtlichen Identitäten sicher ein erster Schritt.
Persönlich favorisiere ich den Verzicht auf Geschlecht. Namentlich in einer Zeit, in der mittlerweile die «Ehe für alle» in vielen Ländern geöffnet ist und auch Reformen im Abstammungsrecht nicht aufzuhalten sein werden. Zudem kann auch ein offenes Verständnis von Geschlecht noch nicht alle Probleme befriedigend zu lösen. Das zeigt etwa ein Entscheid des deutschen Bundesgerichtshofs vom 6. September 2017 zu einem «Frau-zu-Mann-Transsexuellen», der nach der Änderung des Geschlechtseintrags (weiterhin) als die «rechtliche Mutter» des Kindes anzusehen war. Wieso soll ein trans Mann nicht (auch) als Vater angesehen werden können? Letztlich dienen auch Begriffe wie Trans*/Cis*-Menschen nur der Zementierung der unerwünschten Zweiteilung. Conchita Wurst hat es da überzeugender vollbracht.
Unsere Expertin PD Dr. iur. Sandra Hotz hat ihre Habilitation zur Selbstbestimmung, genauer Verträgen zu «Liebe», Sex und Fortpflanzung geschrieben. Sie lehrt u.a. auch Gender Law an der Universität Basel und ist als Rechtsanwältin im LGBT+ Bereich tätig.