Publikationsdatum 31.03.2024

Das Wort des Dekans Joachim Negel - FS 2024/II


„Wir glauben an Gott, den Schöpfer des Fleisches; wir glauben an das Wort, das Fleisch geworden ist, um das Fleisch zu erlösen; wir glauben an die Auferstehung des Fleisches, in der sich die Schöpfung und die Erlösung des Fleisches vollenden“, denn es gilt: „Caro cardo salutis“, Das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils[1]

in diesen drastischen, fast ein wenig obszön klingenden Worten, liebe Mitglieder der Theo­logi­schen Fakultät, liebe Freundinnen und Freunde, artikuliert sich das Geheimnis der Drei Großen Tage: Gründonners­tag, Karfreitag, Ostern. Man muß nur einmal versuchen, die hier aus dem Katechismus der Katholischen Kirche zitierten Sätze wörtlich zu nehmen, und man begreift, weshalb das Festgeheimnis von Tod und Auferstehung Christi sich immer wieder neu für so viele ins Unverständliche verrätselt : Der Gott, der sich bis in die Fleisch­lichkeit menschlicher Existenz entäußert hat (Joh 1,14), der «im Flei­sche gelitten» hat (1Petr 4,1) und begraben wurde (1Kor 15,4a), er ist nicht im verwesenden Fleische verblieben (Apg 13,35), sondern gerettet hinein in eine neue, verklärte Leibsgestalt (vgl. Phil 3,21), in der man ihm begegnen, in der man mit ihm essen und trinken, in der man ihn berühren und umarmen kann (Lk 24,30f.41-43 ; Joh 20,24-29). Aber genau da verstummt der Verstand und fragt : Wie soll man das ver­stehen, leibhafte Errettung aus dem Tod, Auferstehung des Fleisches (« resurrectio carnis ») ? Ist das nicht alles des Guten zuviel ?

Versuchen wir, uns auf einem vermeintlich leichteren Weg dieser Frage anzunähern : dem Festgeheimnis von Weihnachten. Denn auch das Weihnachts­fest spricht auf drastische Weise vom « Fleisch » : « Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen : die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater ». (Joh 1,14) – Unsere Weih­nachtstraditionen verdecken in der Regel diese Drastik. Da ist der « holde Knabe im lockigen Haar », da sind die Hirten auf den Feldern, und die Engel verkünden den Frieden auf Erden. (Lk 2,14) Weihnachten ist mit derart tiefen Gefühlen der Glückseligkeit, der menschlichen Wärme und Nähe, der Melancholie und der wohligen Rückerinnerung an die eigene Kindheit verbunden, daß man den drastischen Hintergrund dieses Festes allzu leicht vergißt : « Inkarnation », wört­lich « Einflei­schung » des göttlichen Logos in die Endlichkeit und Sterblichkeit menschlicher Existenz. Und die bekommt der menschgewordene Logos vom ersten Augenblick seines Erdenlebens an zu spüren : Für seine Eltern ist kein Platz in der Herberge, und so wird er in einem Stall geboren (Lk 2,7); die Mächtigen trachten ihm, kaum daß er geboren ist, nach dem Leben (Mt 2,13), und so lernt er gleich zu Beginn Flucht und Vertreibung kennen, kurzum : Im Hintergrund der lauschigen Krippenszene dräut von Anfang an das Kreuz. Überhaupt hebt ja die ganze Drastik des Weihnachtsfestes schon mit der Geburt an. Auch diese ist nichts Harmloses; Geborenwerden (darin in gewisser Weise vergleichbar dem Sterben) geht einher mit enormen Schmerzen, mit Blut, Gedärm und Schrei, für die Mutter ein Kraftakt radikaler Selbstverausgabung, für das Kind ein furcht­barer Schock : Vertreibung aus einer urspünglichen Wärme und Dunkelheit hinein in die Kälte ; da sind Hände, die einen anfassen ; da ist grelles Licht, das einen blendet. Das alles klammern wir aus, denn auch die blutige Drastik der Geburt stört die Weih­nachtsidylle. Es ist es kaum ein Zufall, daß die Kunst den Pinsel immer erst dann ansetzt, wenn das Kind in der Krippe liegt. Kein einziges Weihnachtsbild zeigt die Geburt des Gottessohnes, diesen Brachialmoment, da das Kind aus dem Geburtskanal seiner Mutter herausgepreßt wird. Gleichwohl wußten die Kirchenväter genau, wovon sie sprachen, wenn sie das Bekenntnis zur Fleischwerdung des Logos ablegten: „non abhorruisti ute­rum virginis“ (Nicht verschmäht hast du den Schoß der Jungfrau, ihren Leib, ihr Gedärm, ihr Blut, ihren Schleim und Urin).[2]

Damals
als Gott
im Schrei der Geburt
die Gottesbilder zerschlug
und
zwischen Marias Schenkeln
runzlig rot das Kind lag

schreibt der Berner Dichterpfarrer Kurt Marti. [3] Einen gebildeten Griechen der Spätantike hätte es ge­schüttelt bei solch grobsinnlichen Vorstellungen. Der ewige Logos, der Welten-Nous, „in welchem alles erschaffen wurde, was im Himmel ist und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaf­ten, Mächte und Gewalten“ (Kol 1,16) – dieses zugleich Sublimste und Ge­waltigste, dieses Erhabenste, weil Ewige, Wahre und Schöne, identisch mit einem schreienden, hungrigen, kackenden Säugling? Diese Christen waren intellektuell nicht satisfaktionswürdig. Lächerlich! Peinlich! Ridiculous!

Vielleicht ahnt man jetzt, warum der christliche Auferstehungsglaube viele Leute so unangenehm berührt. Er ist von einer ähnlich aufdringlichen Materiali­tät wie der Inkarnationsglaube. Hören wir Celsus, einen hochgebildeten platonischen Philosophen der zweiten Hälf­te des 2. Jh. n. Chr, der heftig gegen die „blödsinnige Lehre“ der Christen polemisiert, die an eine „Auf­erstehung des verfaulten Fleisches“ glauben:

„Daß man aus der Erde aufsteigt mit dem gleichen Fleisch wie ehedem: wahrlich eine Hoffnung würdig für Würmer! Welche menschliche Seele könnte wünschen, wieder in einen verfaulten Körper einzugehen? […] Der Seele kann Gott sehr wohl ein unsterbliches Leben schenken. Aber […] ein Fleisch unsterblich machen, das voll von Eigenschaften ist, die man dezenterweise nicht einmal nennen möchte, das will Gott nicht und könnte er auch gar nicht.“[4]

Celsus begründet seine Skepsis gegen die Leibhaftigkeit der Auferstehung gut platonisch mit der Fragwürdigkeit der körperlichen Existenz des Menschen. Das Beständige des Menschen, das ihn wahrheitsfähig macht, ist sein Intellekt; hingegen die Körperlichkeit des Menschen in ihren Bedürfnissen und Haltlosigkeiten (Essen, Trinken, Ausscheiden, Müdigkeit und Erschöpfung, Krankwerden und Sterben) ist das Unbeständige, Irrtumsanfällige, ja im Grunde das Unanständige. Mit einer Unsterblichkeit der Seele hat Celsus keine Probleme, mit der konkreten Materialität der Auferstehung Jesu aus dem Grab sehr wohl.

Hält man sich dies vor Augen, so merkt man plötzlich, wie modern Celsus ist und wie platonisch viele unserer modernen Zeitgenossen. Denn der Auferstehungsglaube ist für viele keineswegs passé, er artikuliert sich nur ganz anders als die neutestamentlichen Zeugnisse ihn formulieren. Statt Einfleischung des Logos (incarnatio verbi) als Angelpunkt der Erlösung, und statt Auferstehung des Fleisches (resurrectio carnis) als ihrer Vollendung, ergehen sich die Unsterblichkeits­sehnsüchte vieler Moderner in transhumanistischen Vorstellungen: Raus aus dem Körper, diesem widerlich welkenden, unschönen Fleisch! Wir downloaden unsere Mentalpräsenz auf gigantische Festplatten und erschaffen uns dazu passende, je nach Notwendigkeit, neu generierbare Körper-Avatare, auf deren Festplatten wir unsere Mental-Downloads überspielen, und so haben wir dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Auf diese Art läßt sich trefflich leben, 250 Jahre, 380 Jahre, womöglich 600 Jahre und mehr. Aber wäre das noch der Mensch, wie wir ihn kennen? Sicherlich nicht. Es wäre eine Art dystopischer Zombie, von dem man nicht weiß, ob man je ein solcher sein möchte.[5]

Dagegen spricht der Osterglaube, gerade weil seine Sehnsucht auf eine Errettung der konkreten geschichtlichen Leibsgestalt des Menschen zielt, von etwas ganz anderem. Der Glaube an die Auferweckung Jesu aus dem Grab (« Surrexit Dominus vere ») hat seine Wurzeln im Glauben an die Fleichschwerdung des Logos (« verbum caro factum est »). « Gott ist im Fleische, wer kann dies Geheimnis verstehen ? », fragte einst Gerhard Tersteegen (1697 - 1769) in seinem berühm­ten Weih­nachtslied und hatte damit präzise umschrieben, was Medium der heilschaffenden Begeg­nung von Gott und Mensch ist : der menschliche Leib in seiner ganzen Schönheit, aber auch in seiner jämmerlichen Hinfälligkeit.[6] Eine grandiosere Umwertung aller Werte hat es in der Kulturgeschichte wohl kaum je gegeben : Der inkarnierte Logos heiligt das Sterbliche, Unvollkommene, Verwun­dete, all das, was dem Tode preisgegeben ist. Und bei Friedrich Christian Oetinger (1702 - 1782), dem großen Vertreter des Württemberger Pietismus und Zeitgenosse Tersteegens, heißt es: „Alle Werke Gottes enden in der Leiblichkeit“ – ein Verteidigungsruf gegen eine bestimmte Art von Aufklärungstheologie, der die anstößige Geschichtlichkeit des Erlösungsgeschehens peinlich war und die sie deshalb gerne entmythologisiert hätte.[7] Geben wir es ruhig zu: Auch uns Modernen ist der Inkarnationsglaube immer wieder peinlich: Geht es denn nicht sauberer, hygienischer, aufgeklärter? – Wahrscheinlich nicht. Die Wahrheit ist konkret, so wie unser Leben in seiner ganzen Fragwürdigkeit konkret ist: bisweilen fein und schön, herrlich und beglückend, zwischendrin und schließlich zuletzt immer aber auch schmutzig und dreckig. Das aber bedeutet: Wer immer eine Ahnung hat, was jene Leiblichkeit meint, die in Jesus von Nazareth zum Medium der Selbstmitteilung Gottes geworden ist, der hätte nicht nur etwas von Weihnachten, der hätte auch und vor allem etwas von Ostern verstanden. Eben das, liebe Mitglieder unserer Theo­logi­schen Fakultät, liebe Freundinnen und Freun­de, wünsche ich Ihnen und mir von ganzem Herzen.

Joachim Negel
Dekan


[1]     Katechismus der Katholischen Kirche (= „Weltkatechismus“), München/ Wien/ Leipzig/ Freiburg i.Üe. 1993, Art. 1015, S. 290. – Der lateinische Spruch « caro cardo salutis » stammt von dem frühchristlichen Apologeten Tertullian (De carne Christi VIII, CSEL Bd. 47, 36.37f. ; CChr SL Bd. 2, 931.6f.).

[2]     Ambrosianischer Hymnus Te Deum laudamus (4. Jhdt.). – Dazu passend der zu wiederholten Malen Augustinus zugeschriebene Satz „inter faeces et urinam nascimur“. Die Herkunft des Satzes ist obskur.

[3]     Kurt Marti, geduld und revolte. die gedichte am rand, Stuttgart 21984, 8.

[4]     Celsus, Alethés lógos – zitiert nach Origenes, Contra Celsum / Acht Bücher gegen Celsus, aus dem Griechischen übersetzt von Paul Koetschau. Buch V,14 (BKV 1. Reihe Bd. 52 + 53, S. 388).

[5]     Vgl. Oliver Dürr, Homo novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus. Beiträge zu einer Technik­theologie, (Studie Oecumenica Friburgensia 105), Münster 2022.

[6]     Strophe 4 des Liedes Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket ihr Engel in Chören [1731] von Gerhard Tersteegen.

[7]     Friedrich Christian Oettinger, Art. „Leib, Soma“, in: ders., Biblisches und emblematisches Wörterbuch [1776], hrsg. von Gerhard Schäfer in Verbindung mit Otto Betz u.a., Berlin / New York 1999, 225.5f. – hier zitiert nach Christoph Markschies, Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München 2016, 439.