Seminar: Weltzerfall und Selbstentfremdung. Das Subjekt und die Krisen der Moderne. Ausgewählte Prosa aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts/Séminaire: Dissociation du monde et aliénation de soi. Le sujet et les crises de la littérature moderne. Prose choisie de la première moitié du XXe siècle
UE-L10.00163

Dozenten-innen: Schmidt Friedrich
Kursus: Master
Art der Unterrichtseinheit: Seminar
ECTS: 3
Sprache-n: Zweisprachig d/f
Semester: HS-2019

Die europäische Prosa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in weiten Teilen eine Literatur der Krisen: die Distanz – auch die sprachliche Distanz – des menschlichen Subjekts gegenüber einer als unmenschlich und aussersprachlich empfundenen Umwelt; die epistemische Kluft zwischen Ich und Welt, mit der sich diese jedem Versuch, sie zu verstehen, zu entziehen scheint; die Instabilität all unserer Weltdeutungen und Konstruktionen von „Wirklichkeit“, aber auch die Fragilität unserer eigenen Persönlichkeit; die Ohnmacht des Einzelnen im Alptraum dystopischer Visionen (und realer politischer Systeme); seine Verlorenheit in undurchschaubaren Hierarchien, seine Einsamkeit in der anonymen Masse; zuletzt seine Konfrontation mit dem, was ihn vernichten will: mit Krankheit, Krieg und Tod, sein Kampf, seine Revolte, sein Untergang… – Es sind existentielle Grunderfahrungen wie diese, die – an sich zeitlos – in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts mit besonderer Dringlichkeit nach neuem literarischem Ausdruck drängen. Gälte es, diese Erfahrungen, wie sie in den bedeutendsten Werken jener Epoche gestaltet wurden, in einem Wort zusammenzufassen, so wäre wohl keines besser dazu geeignet als das der „étrangeté“ (Albert Camus): die Fremdheit der Welt, genauer: die Entfremdung des Menschen von einer Welt, die aufgehört hat, seine Welt zu sein – einer Welt, die uns entgleitet („Le monde nous échappe“, wie Camus sagt). Und wollte man diese Erfahrungen in einer einzigen Frage kondensieren, so wäre es die berühmte Frage Rilkes, die er seinem Roman eingeschrieben hat: „wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind?“.

Freilich gewinnen diese existentiellen Erfahrungen ihre Brisanz erst vor dem geistesgeschichtlichen und historischen Hintergrund der Zeit, der deshalb auch im Seminar miteinbezogen wird: vor dem Hintergrund nämlich der Sprach- und Erkenntniskrisen der klassischen Moderne (Nietzsche, Hofmannsthal u.a.), der Kritik metaphysischer Welterklärung und eines einheitlichen Subjektbegriffs (Nietzsche) sowie, nicht weniger, vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophen zweier Weltkriege, die die Welt ins Chaos stürzten.

Die damit skizzierten Probleme sollen im Seminar anhand der folgenden Romane und Erzählungen diskutiert werden. Es wird sich zeigen, dass einige davon, wie etwa Orwells Nineteen Eighty-Four, – gewissermassen leider – auch heute noch hochaktuell sind. In Anbetracht des Umfangs der Werke ist es ratsam, frühzeitig mit der Lektüre zu beginnen. (Der Semesterplan, der in der ersten Sitzung vorgelegt wird, folgt der Chronologie der Werke).

Das Seminar wird mit 3 ECTS-Punkten bewertet. Voraussetzung dafür ist – neben regelmässiger Teilnahme und aktiver Mitarbeit – die Übernahme eines Referates. Weitere 6 ECTS-Punkte können im Anschluss an das Seminar für eine themenbezogene Seminararbeit erworben werden.


Dokumentation

Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes (version A) (1904/06), Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) (extraits), Franz Kafka: Das Schloss (1922), Jean-Paul Sartre: La nausée (1938), Albert Camus: La peste (1947), George Orwell: Nineteen Eighty-Four (1949)