Dossier

Ein Boost für die kleinen Kraftwerke

Mitochondrien sind als Bestandteil unserer Zellen für die Energie­produktion im Körper zuständig. Ihre Leistungsfähigkeit kann mit simuliertem Höhentraining gesteigert werden.

«Die meisten Leute assoziieren Höhentraining mit Sport und der gesteigerten Produktion von roten Blutkörperchen», sagt Erich Hohenauer. Es ist eine Methode, die sich insbesondere bei Ausdauersportler_innen längst etabliert hat. Sie trainieren in den Bergen, wo die dünne Luft für Hypoxie, also Sauerstoffmangel, sorgt. Dadurch produziert der Körper mehr rote Blutkörperchen, die für den Sauerstofftransport zuständig sind. Das trägt zur Steigerung der Fitness bei. «In den letzten Jahren hat man jedoch immer klarer festgestellt, dass Hypoxie nicht nur einen Einfluss auf rote Blutkörperchen hat, sondern ebenfalls auf die Mitochondrien.»

Das hat Hypoxie-Therapien auch in den Bereichen Prävention und Rehabilitation Tür und Tor geöffnet. «Mitochondrien, die nicht gut funktionieren, können für eine Vielzahl an Erkrankungen mitverantwortlich sein, speziell Krankheiten, die mit Energiekrisen zusammenhängen.» Als Beispiele nennt Hohenauer Depressionen, Burnout und Long Covid. «Aber auch neurodegenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Parkinson stehen im Zusammenhang mit mitochondrialer Dysfunktion», sagt der ausgebildete Physiotherapeut und promovierte Rehabilitationswissenschaftler.

Nobelpreis als Initialzündung

Mitochondrien befinden sich in fast allen Zellen unseres Körpers. «Sie sind deren Kraftwerke, verantworten die ATP-Produktion.» Adenosintriphosphat (ATP) ist der Hauptenergieträger der Zellen. Hat die Zelle zu wenig Energie, kann das Gewebe nicht funktionieren, funktioniert das Gewebe nicht, versagt der Organismus. «Darum sind Mitochondrien so wichtig und omnipräsent, sie produzieren täglich ATP in der Höhe des eigenen Körpergewichts eines Menschen.»

Doch was hat das alles mit Hypoxie zu tun? Sehr viel, weiss man spätestens seit 2019, als Gregg Semenza der Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung des HIF-1alpha-Faktors verliehen wurde. Dieser Transkriptionsfaktor wird bei Sauerstoffmangel aktiv und reguliert die Expression zahlreicher Gene. «Die Entdeckung war ein Meilenstein für die moderne Hypoxie-Forschung. Mitochondrien und HIF-Faktoren spielen stark miteinander zusammen», sagt Hohenauer, dessen Interesse an dem Thema damals ebenfalls geweckt wurde.

Fitte Mitochondrien

Für seine Habilitation an der Universität Freiburg untersuchte Hohenauer, wie sich Hypoxie konkret auf die Mitochondrien auswirkt. Dazu musste er mit seinen Proband_innen nicht in die Berge; Höhentraining lässt sich heute simulieren, sei es mit Druckkammern oder mit einem Maskensystem. Hohenauer versorgte die Proband_innen – gesunde Physiotherapie-Studierende – im Labor drei Wochen lang mehrmals pro Woche 45 Minuten abwechslungsweise mit normaler Luft sowie hypoxischer Luft, die das Level der arteriellen Sauerstoffsättigung zwischenzeitlich immer wieder auf rund 85 Prozent absenken liess. Vor und nach der Behandlung sowie vier Wochen nach Ende der Behandlung wurde den Proband_innen Blut abgenommen, um die Mitochondrien darin zu untersuchen.

«Es gibt vier Faktoren, die entscheidend sind, um die mitochondriale Leistungsfähigkeit zu definieren», erklärt Hohenauer. Erstens geht es darum, wie hoch die ATP-Produktion ist. Zweitens, wie gross das Protonenleck. Hier gilt: Je kleiner das Leck, desto besser. Protonen sollten nicht unkontrolliert in die mitochondriale Matrix zurückfliessen. Drittens stellt sich die Frage nach der Reservekapazität: Können die Mitochondrien bei erhöhter Nachfrage, etwa bei körperlicher Belastung, ihre ATP-Produktion entsprechend steigern? Viertens spielt auch der oxidative Stress eine Rolle. Damit ist die Belastung durch reaktive Sauerstoffspezies (ROS) gemeint, die in höheren Konzentrationen zelluläre Strukturen – insbesondere auch Mitochondrien – schädigen können. Ein Übermass an oxidativem Stress kann entzündliche Prozesse fördern und die Zellfunktion beeinträchtigen.

© Police cantonale Fribourg/Kantonspolizei Freiburg

Die Studie hat interessante Ergebnisse hervorgebracht», sagt Hohenauer. «Die ATP-Produktion war im Vergleich zum Anfangswert signifikant erhöht – sowohl nach vier Wochen als auch nach acht Wochen.» Das Protonenleck ging ebenfalls signifikant zurück. «Die Integrität der mitochondrialen Membran verbesserte sich.» Auch die Reservekapazität war – jedenfalls in der Blutprobe, die direkt nach Ende der mehrwöchigen Behandlung entnommen wurde – signifikant höher. Alles positiv also? Nicht ganz. «Der oxidative Stress ist ebenfalls angestiegen.» Hohenauer geht davon aus, dass der hypoxische Stimulus an der Grenze zu dem war, was physiologisch noch gut kompensiert werden kann. «Wir haben stark entsättigen lassen, teilweise sogar knapp unter 80 Prozent. Da war der Stress für kurze Zeit wohl zu gross und hat proentzündliche Prozesse stimuliert. Womöglich wollten wir zu viel.»

Die Schwachen halten den Reiz nicht aus

Das Beispiel zeigt: Es ist ein schmaler Grat, auf dem man bei einer Hypoxie-Therapie wandert. Und doch sind unbestritten positive Effekte zu erzielen. Warum eigentlich? Was passiert im Körper, wenn wir dünne Luft einatmen? «Es gibt einerseits die direkt spürbaren Effekte, die man aus der Sportphysiologie kennt. Die Atmung wird beschleunigt und der Herzschlag verschnellert sich, um mehr Sauerstoff im Umlauf zu haben.» Gleichzeitig spielen sich molekulare Mechanismen ab. «Der HIF-1alpha-Faktor spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er wird unter Normoxie recht schnell abgebaut, unter Hypoxie hingegen wird er stabilisiert», sagt Hohenauer. «Der Faktor hat den Effekt, dass er zur Gen-Expression beiträgt, die verschiedene positive Effekte auf die Gesundheit hat – dazu gehört die mitochondriale Biogenese.» Es werden also zusätzliche Mitochondrien produziert – gleichzeitig werden die funktionsgestörten, schwachen Mitochondrien, die den hypoxischen Reiz nicht aushalten können, abgebaut. «Das ist der eigentliche therapeutische Nutzen, wir haben mehr intakte Mitochondrien im Körper, die entsprechend effizienter arbeiten.»

Die Angebote an Hypoxie-Therapien nehmen zu, und gerade im Zusammenhang mit Long Covid auch die Medienpräsenz. «Für Long-Covid-Patienten ist es eine vielversprechende Therapie. Die Evidenzlage ist noch nicht eindeutig, es gibt aber Einzelnachweise. Die Behandlung scheint gut anzuschlagen. Durch die mitochondriale Dysfunktion, die bei Long-Covid-Patienten vorhanden ist, sind die Mitochondrien stark geschwächt», sagt Hohenauer.

Und doch ist die junge Behandlungsform als Mittel zur Rehabilitation oder Prävention in der breiten Bevölkerung noch wenig bekannt. «Ich gehe davon aus, dass sie sich in den kommenden Jahren stärker etablieren wird. Je umfassender die Studienlage, desto mehr wird die Praxis nachziehen.» Auch im Bereich Prävention. «In diesem Bereich verbessern sich die Evidenzen ebenfalls immer mehr. Hypoxie-Thera­pien fördern auch bei grundsätzlich gesunden Personen die Leistungsfähigkeit der Mitochondrien. Das hilft dabei, dass Leber und weitere Organe gut funktionieren und nicht ein Defizit entsteht, das irgendwann zu einer Krankheit führen könnte», sagt Hohenauer, der in seiner Praxis in Vorarlberg Hypoxie-Therapien auch selbst anbietet. «Wichtig ist, ein individuelles Protokoll anzuwenden, das auf die Person abgestimmt ist, die vor einem sitzt. Es gibt gewisse Anwender, die standardisierte Protokolle abspulen, das ist nicht die richtige Herangehensweise.»

Der Einfluss des Lebensstils

Die Forschung steht noch am Anfang. Wo werden in den kommenden Jahren die Forschungsschwerpunkte liegen? «Die Behandlungsprotokolle werden ein wichtiges Thema bleiben. Welche Dosis ist für wen die richtige? Welche Intervalle braucht es? Müssen die Leute jeden Tag kommen oder nur dreimal pro Woche? Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede zu beachten?», nennt Hohenauer wichtige Fragen, die sich stellen. «Zudem wird man sich mögliche Nebenwirkungen genauer anschauen müssen.»

Er ist überzeugt, dass es sich lohnt, weiter Zeit in das Thema zu investieren. «Plakativ ausgedrückt: Die Mitochondrien in unseren westlichen Gesellschaften sind nicht in einem optimalen Zustand.» Der Lebensstil kann ihre Qualität sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. «Wenn gewisse Stressoren exzessiv auf uns einwirken, kann das negative Auswirkungen haben. Dazu gehört beispielsweise psychischer Stress, aber auch schlechte Ernährung wie Fast Food.»

Hypoxie-Therapien können nicht alle Versäumnisse aus dem Alltag wettmachen. «Gleichzeitig kann man mit Bewegung, guter Ernährung und gutem Stressmanagement die Mitochondrien sehr gut in den Griff kriegen. Die Hypoxie-Therapie ist also nur eine von mehreren möglichen Behandlungsformen», schliesst Hohenauer. Aber sie ist ein willkommener Boost für die kleinen Kraftwerke in unserem Körper.

Unser Experte Erich Hohenauer promovierte im Bereich Rehabilitations­wissenschaften. Seit 2020 befasst er sich im Rahmen seiner Habilitation an der Unifr intensiv mit Hypoxie. Hohenauer ist stellvertretender Forschungs­leiter des Labors an der Physiotherapie-Fach­hochschule (SUPSI) Landquart und hat in Vorarlberg seine eigene Praxis mit Schwerpunkt für Hypoxie- und Kältetherapien.
erich.hohenauer@supsi.ch