Dossier
Aus Fleisch und Blut
In «Blutbuch» wird Blut zur vielschichtigen Metapher für Gewalt, Weiblichkeit, Herkunft und Widerstand gegen das Heteropatriarchat. Kim de l’Horizons Roman entzieht sich eindeutigen Zuschreibungen – und macht genau darin die queere Kraft des Erzählens sichtbar.
Laut dem Teufel in Goethes Faust ist Blut «ein ganz besondrer Saft», kein Wunder, dass Kim de l’Horizons meisterhaftes Romandebüt dieses so vieldeutig aufgreift und als zentrale Metapher für die Kritik am Heteropatriarchat setzt.
Ein «queerer Baum»
Die Metapher eröffnet fünf Deutungsspektren, beginnend mit der Anspielung auf die Blutbuche, die für die autofiktional gestaltete Hauptfigur den wundersamen Zufluchtsort in der Kindheit, später einen Analysegegenstand darstellt. Dieser Zierbaum ist ein «queerer Baum», denn Blutbuchen sind Mutationen, die durch das Fehlen eines Enzyms die blättertypische Grünfärbung missen lassen. Ihr Phänotyp liess sie eine grosse Karriere als Ziergewächs machen; eine Karriere, die sie aus der Welt der Oberschicht auch in den ärmlichen urgrossväterlichen Garten führte. Dass etwas aus der Art Geschlagenes, gerade in der Moderne, so beliebt werden konnte, ist nicht ohne Ironie. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts, begann die (Natur-)Wissenschaft, sich um Eindeutigkeit zu bemühen und Abweichungen geringzuschätzen oder mit negativem Wert zu versehen. In der Romantik wurden Eichen zu nationalen Symbolen und später sogar als Zeichen für Reinheit, Stärke und Widerstandsfähigkeit missbraucht. In der Blutbuche manifestiert sich die Widersinnigkeit solcher Reinheitsdiskurse, gemäss denen eine Blutbuche eigentlich als eine Verfälschung der Natur gelten müsste.
Vererbte Wunden
Der nächste metaphorische Pfad des Blutes führt zu der Generationengeschichte. Blut deutet auf die Zugehörigkeit zu einer Herkunftsfamilie. Das erzählende Ich ist vom selben Blut wie Mutter und Grossmutter, deren Geschichte der Roman ebenso festzuhalten trachtet, wie die eigene. Die inzestuöse Beziehung, die der Urgrossvater zu einer seiner Töchter unterhalten hat, die Blutschande, ist ein verschwiegenes Familientrauma, das sich auf Grossmutter, Mutter und letztlich die Hauptfigur übertragen hat, die diesem Geheimnis auf die Spur kommt. Die Geschichte der Verleugnung weiblicher Identität, das Ausmerzen einer weiblichen Geschichte, der Geschichte des vom Vater missbrauchten Mädchens, liegt allen drei Generationen im Blut. Die Grossmutter agiert das Trauma durch Misogynie, die Tochter durch Selbstverleugnung aus. Auch die Hauptfigur hat in jungen Jahren versucht, sich Weiblichkeit abzutrainieren.
Blut als Geschlechterwiderstand
Blut deutet auch auf die Gewalt, der die Figur vor allem dann ausgesetzt ist, wenn sie als zu weiblich wahrgenommen wird. Ihre «Unmännlichkeit» muss die Erzählfigur mit Blut entgelten. Bedeutsam ist in «Blutbuch», dass Blut auch metaphorisch für Sexualität stehen kann. Sexuelle Praktiken, die sich den heteronormativen Vorgaben widersetzen, werden nicht selten mit blutenden Wunden assoziiert. Blut als die Flüssigkeit des Lebens, «Saft voller Kraft voller Glut», wie es hymnisch in einer Operette des 19. Jahrhunderts heisst, ist in der Imagination selten ein keusches Körpersekret. Die Zuschreibung warmen Blutes gilt auch bei Klassikern wie Lessing als Verweis auf sexuelle Affekte und Begehrlichkeiten, die zuweilen unbotmässig sind. Die veraltete despektierliche Redeweise von «warmen Brüdern», die im 20. Jahrhundert auf homosexuelle Männer abzielte, geht vermutlich auf die Vorstellung des zu warmen Blutes zurück, das sich kalter, rationaler, sprich normativ männlicher Kontrolle widersetzt.

«Blutbuch» verweigert sich sowohl den modernen Logiken des Natur- als auch denen des Geschlechtsverständnisses. Manche mögen glauben, das Zentrale des Romans sei die Artikulation einer sich dem binären Geschlechtergegensatz (weiblich-männlich) verweigernden Hauptfigur, die ihre Schwierigkeiten mit dem Heteropatriarchat offenlegt, aber das Themenfeld, das «Blutbuch» eröffnet, ist weitaus grösser als das Bekenntnis zu einer individuellen Überschreitung des herkömmlichen Geschlechtsspektrums. «Blutbuch» ist kein Selbstverständigungstext, sondern erörtert das Geworfen Sein in positivistische Systematisierungen, von denen Männer wie Frauen betroffen sind, die aber für Frauen als besonders schicksalsträchtig gelten können. Blut nämlich, und das scheint mir die wichtigste metaphorische Funktion zu sein, steht im Roman sinnbildlich für Weiblichkeit, «das andere Geschlecht», dar. Wenn «Blutbuch» als queerer Roman annonciert wird, was berechtigt ist, lässt sich leicht ausblenden, dass «Blutbuch» ein weiblicher Roman ist, was weder pejorativ «Frauenroman» noch Roman für Frauen bedeutet. «Blutbuch» ist ein Roman darüber, wie in der Moderne mit als weiblich markierten Körpern umgegangen wird.
Sich des Körpers zu schämen, um den Körper zu fürchten, ist nicht nur Schicksal der unehelich geschwängerten Grosstante, sondern auch das der Hauptfigur. Der Historiker Thomas Laqueur hatte bereits 1990 in «Making Sex» dargelegt, dass das 18. Jahrhundert einen fundamentalen Paradigmenwechsel in den Geschlechtervorstellungen eingeleitet hat, der die binäre Geschlechterdifferenz Menschen auf den Leib schrieb. Es war seiner Ansicht nach jedoch der Frauenkörper, der zum Feld wurde, auf dem männliche Macht und männlicher «Wissensvorsprung» erkämpft wurden. Der als schwach gekennzeichnete, blutende, objektifizierte Leib zwang dem geschlechterdualistischen Verständnis nach weibliche Wesen in die Rolle der sozial Unterlegenen. Die Familiengeschichte der Hauptfigur zeugt davon, wie ein weiblicher Körper blutschänderisch gebrandmarkt wurde. Das Missbrauchsopfer kam ins Zuchthaus, der Täter blieb unbehelligt.
Die Magie der Blutbuche: Jenseits der Definitionen
In der Moderne unterstanden Frauen ihrer angeblich schwächeren Physis, ihrem Blut, denn man nahm die Menstruation als Argument dafür, dass Frauen der Herrschaft ihrer Reproduktionsorgane unterstellt seien, aus der sich im patriarchalischen Denken ihre Abhängigkeit vom Mann ableitete. Schon durch den Verweis auf Blut im Titel ist auch Monatsblut konnotiert und dieses Blut definiert Frauen als geschlechtsfähige Objekte. Blut war in der Moderne, zumindest im sexualgeschichtlichen Zusammenhang, weiblich, doch wie die Körperhistorikerin Barbara Duden zehn Jahre nach Laqueur klarstellte, ist die «Menstruation erst von der Medizin des 19. Jahrhunderts zu einer Funktion des weiblichen Reproduktionsvermögens gemacht worden». In der Vormoderne verlangte die Körperhygiene auch von Männern, regelmässig zu bluten. Nach Niedergang der Humoralpathologie gelangten Körper in die Fänge einer naturhaften, zur Reproduktion bestimmten Geschlechtlichkeit, von Trieben, die nicht in erster Linie als lustvoll oder romantisch angesehen wurden, sondern als naturnotwendig und als gegengeschlechtlich gerichtet. Die Metapher des Blutes für Nachkommenschaft und den (weiblichen) Reproduktionsapparat ist ideologisch damit verbunden. «Blutbuch» erteilt dem geschlechterdualistischen Denken eine Absage, denn die Hauptfigur blutet um ihr Leben, sei sie nun weiblich, männlich oder non-binär gelesen, sie glaubt weder an die Binarität noch an ominöse Definitionsmächte. Viel mehr glaubt sie an die Magie der Blutbuche und verlässt den Raum schnöder moderner Wissenschaftslogiken und «Männergeschichten»: Wesen aus Fleisch und Blut zu sein, ist, was uns alle verbindet.
Unsere Expertin Katja Kauer ist Queertheoretikerin und Genderforscherin.
katja.kauer@unifr.ch