Dossier
Die vermeintliche Entdeckung Amerikas
Als Kolumbus Amerika «entdeckte», begann die Kolonialisierung – und damit die Geschichte unseres Überflusses. Was für grosse Teile der indigenen Bevölkerung verheerende Folgen hatte, wurde in Europa zur Grundlage der Konsumgesellschaft. Warum kam es so?
Ob als Kartoffelstock, Rösti oder Gschwellti zum Raclette: was wäre die Schweizer Küche ohne Kartoffel? Oder Italien ohne Tomatensauce? Undenkbar. Ebenso undenkbar wie Belgien oder die Schweiz ohne Schokolade. Aber: Kakaobohnen, Tomaten und Kartoffeln kommen ursprünglich aus Amerika. Wir haben sie uns angeeignet, ja sprichwörtlich einverleibt, und zu unserer europäischen Kultur gemacht.
«Ausgangspunkt der Kolonialisierung mit all ihren Folgen war die so genannte Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus», sagt Vitus Huber, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Freiburg. Er hat mehrere Bücher über diese «Entdeckung» geschrieben und setzt dieses Wort dabei stets in Anführungszeichen. Denn entdeckt wurde Amerika nicht – dort lebten bekanntlich bereits Menschen und florierten Hochkulturen. Sie hatten den Kontinent rund 20’000 Jahre vor Kolumbus besiedelt. «Der Begriff ist ein Überbleibsel unserer einseitigen europäischen Perspektive», sagt darum Huber. Dennoch gilt die Landung der Seefahrer um Kolumbus im Jahr 1492 heute als welthistorisch, weil dadurch eine durchgehende Verbindung um die Welt entsteht. Jetzt ist der Globus vollständig.
Beutemachen als Zwang und Antrieb
Was danach geschah, wissen wir: Die Europäer verschaffen sich Zugang zu Handelsgütern aus der «Neuen Welt», das Christentum wird in Amerika verbreitet, die Hochkultur der Inka und zahlreiche weitere indigene Völker werden zerstört oder verdrängt – in Schlachten oder durch eingeschleppte Krankheiten. So rotteten die spanischen Konquistadoren etwa die Taínos, die damals auf dem Inselgebiet der heutigen Länder Kuba, Haiti und Dominikanische Republik lebten, nahezu vollständig aus. In Yucatán, der Halbinsel, die den Golf von Mexiko vom Karibischen Meer trennt, verbrannten christlich-religiöse Eiferer unzählige Schriften der Maya und löschten so einen Teil von deren Kultur unwiederbringlich aus. Und die indigene Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Mexiko wurde durch drei aufeinanderfolgende Grippeepidemien massiv dezimiert.
Der Weg nach Westen
Hätte es anders kommen können? Antworten auf diese Frage liefert Vitus Hubers Arbeit. Unter anderem befasste sich der Historiker in seiner Forschung mit der Rolle der Beute während der «Conquista». «Man muss sich vor Augen halten, dass die ersten Expeditionen nicht aus königlichen Armeen bestanden, die solide finanziert nach Plan vorgingen», sagt Huber. Zwar war die erste Expedition von Kolumbus noch hauptsächlich von der spanischen Krone finanziert. Dies vorallem aus ökonomischem Antrieb: 1453 hatten die Osmanen Konstantinopel erobert, was den Handelsweg über Land gen Osten nach China und Indien teurer und riskanter gemacht hatte. Zugleich hatte der Papst das alleinige See-Hoheitsrecht vor Westafrika Portugal zugesprochen. So war den Spaniern auch der Seeweg um Afrika herum nach Asien verwehrt. Sie brauchten eine neue Route nach Asien: jene über das Meer nach Westen. Und so landete Kolumbus unverhofft in Amerika.
Doch die Besatzungen von Kolumbus und der nachfolgenden Seereisen bekamen von der Krone keinen Sold. Stattdessen hofften die Männer auf Beute. «Das waren quasi private Unternehmen, die sich auszahlen mussten, wollten die Männer nicht verarmt heimkommen», erklärt Huber. Und je mehr Ressourcen ein einzelner zum Unternehmen beisteuerte – Pferde und Waffen etwa – desto höher war seine Chance auf einen grossen Teil der Beute. «So formierten sich die Schiffsbesatzungen bereits mit dem gemeinsamen Ziel, Beute zu machen.»
Vom Beutezug zur Kolonialisierung
Tatsächlich fanden die Konquistadoren in der neuen Welt etwas Gold, Silber und Edelsteine. Doch zunächst längst nicht so viel, wie sie sich erhofft hatten. So verlegten sie sich von mobiler Beute zu immobiler – zum Land und zu dessen Bewohnern nämlich. Trafen die Männer an einem Ort nichts Wertvolles oder kein fruchtbares Land an, zogen sie weiter, bis sie fündig wurden. Sie erhielten jeweils ein Gebiet inklusive Tributrechten zugeteilt, was ihnen aus europäischer Sicht das Recht verlieh, von den indigenen Menschen Abgaben und Arbeitseinsätze zu fordern. «Hätten die Spanier aufgegeben und wären in die Heimat zurückgekehrt, hätten sie diese Privilegien verloren», sagt Huber. Also blieben sie. So wandelte sich der ursprüngliche Beutezug zur Kolonialisierung.
Einer der Gründe, dass sich immer mehr Konquistadoren und Siedler auf die lange Seereise in die «Neue Welt» aufmachten, waren die Heldenerzählungen mancher Konquistadoren, die es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahmen. Beispielsweise Hernán Cortés: Er verbreitete in seinen Reiseberichten, er habe allein mit seinen 630 Männern das gesamte Aztekenreich im heutigen Zentralmexiko und dessen Hauptstadt Tenochtitlán erobert, in der vermutlich über 200’000 Menschen wohnten. «Das ist schlicht falsch», sagt Huber. «Die ethnische und politische Landschaft war vielfältig und Cortés konnte auf zehntausende Kämpfer von benachbarten Stadtstaaten zählen, die mit Tenochtitlán verfeindet waren.» Allerdings hatten die Konquistadoren ein Interesse daran, als Eroberer ganzer Völker dazustehen, denn damit stieg ihre Chance, in der «Neuen Welt» zu Reichtum und Macht zu kommen. Und durch ihre Erzählungen wurde für die Menschen daheim in Europa das ferne, unbekannte Gebiet fassbarer. Einen grossen Einfluss hatte dabei der Buchdruck, den es damals seit 40 Jahren gab. Damit kamen die Reiseberichte der «Entdecker» rasch unter die Leute.
Ein schwarzes Loch für das Christentum
«Auf heute übertragen kann man die Unternehmen von Kolumbus oder Cortés mit einer Expedition in ein schwarzes Loch vergleichen», veranschaulicht Huber. Plötzlich müssen die Menschen über die zuvor vorstellbaren Grenzen der Welt hinausdenken. «Das ist intellektuell herausfordernd.» Eine Institution, die mit den Reiseberichten der «Entdecker» ihre liebe Mühe hat, ist die katholische Kirche. Denn ab 1507 wird durch die Reise Amerigo Vespuccis klar, dass es sich bei der gefundenen Landmasse um einen bisher unbekannten Kontinent handelt. «Dies brachte die Kirche in Erklärungsnot», sagt Huber. Denn Amerika fehlt in der Bibel und damit in der christlichen Erklärung der Weltentstehung völlig. Wie also kamen Abkömmlinge von Adam und Eva in die «Neue Welt»? Die Kirche antwortet mit verschiedenen – aus heutiger Sicht absurden – Narrativen. Eines davon lautet, dass Amerika das Königreich des Johannes sei, der «hinter Bergen und Tälern» eine christliche Gemeinschaft führe.
Während die Kirche daheim mit Erklärungsversuchen beschäftigt ist, verbreiten die Konquistadoren und Siedler das Christentum bereits in Südamerika. Denn sie dürfen von den Indigenen Abgaben und Arbeitsleistung verlangen, haben aber im Gegenzug von der spanischen Krone den Auftrag, für deren «christliche Bildung» zu sorgen, erzählt Huber. Zusätzlich wirken Missionare verschiedener Ordensgemeinschaften, wie Franziskaner, Dominikaner, Jesuiten. Erfolgreich ist etwa die Strategie der Jesuiten: «Sie lernten die lokalen Sprachen wie Quechua und Aymara und gründeten Schulen für die Kinder der indigenen Herrscherklasse», sagt Huber. «So verbreiten sie das Christentum quasi im Trickle-down-Effekt.» Heute bekennen sich 85 bis 90 Prozent der Menschen in Südamerika zum Christentum.
Konsum, Konsum
Aber auch Europa durchlebt einen Wandel. «Durch die neue globale Verflechtung kam es zu einem regen Austausch von Waren, Menschen und Ideen», sagt Huber. So fliesst durch die Eröffnung verschiedener Silberminen vor allem auf dem Gebiet der heutigen Länder Mexiko und Bolivien Reichtum in die «Alte Welt». Und die Besiedlung von Amerika erleichtert und intensiviert den Kolonialhandel mit Luxusgütern aus Asien. «Die Welt war grösser, aber die Distanzen waren kleiner geworden», veranschaulicht Huber. Zum Beispiel Tee aus Asien, Kaffee aus Afrika, Kakao und Tabak aus den Amerikas landen zunehmend rascher und in grösseren Mengen in Europa. «So entstand die Konsumgesellschaft, in der wir noch heute leben.»
Doch zurück zur Frage: Hätte es auch anders kommen können? «Unbedingt», sagt Huber. «Zwar ist es einladend, die Geschichte rückblickend als geradlinig anzuschauen, doch sie entsteht aus Zufällen und ganz verschiedenen Motivationen und Schicksalen.» So habe es durchaus Aussteiger aus der Beute-Dynamik gegeben – solche, die sich mit dem kleinen Reichtum, den sie nach Hause brachten, zufriedengaben. Und schliesslich hätte Kolumbus auch scheitern können, etwa mitten auf dem Ozean in einem Sturm untergehen. Was dann?
Unsere Experte Vitus Huber ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement für Geschichte. Er forscht zur sogenannten Eroberung Amerikas, zur Geschichte des Körpers, der Nacht und zu autobiographischem Schreiben.
vitus.huber@unifr.ch
