Dossier
Die Oper.
Missverständnis, Luxusgut, Heiligtum, Unterhaltung.
Als das oströmische Reich unter dem Ansturm der Osmanen unterzugehen drohte, flohen byzantinische Gelehrte mit den Handschriften, in denen die uns bekannten antiken griechischen Dramen überliefert sind, an die humanistischen Fürstenhöfe in Italien. Gut hundert Jahre später entspann sich in der florentinischen Camerata, einem Kreis von Dichtern, Gelehrten und Adligen, eine Diskussion darüber, wie diese Dramen in der Antike wohl aufgeführt wurden? Es setzte sich die Ansicht durch, dass sie durchgängig musikalisch begleitet waren.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts strebte man eine Wiederbelebung der angeblich antiken Aufführungspraxis an; und einer aus dem Florentiner Kreis, der Dichter Ottavio Rinuccini, schrieb dafür ein Libretto über eine Schäferin namens «Dafne», das ab 1594 von Jacopo Peri vertont und von Jacopo Corsi 1597 oder 98 in seinem Palazzo uraufgeführt wurde. Das war das erste vollständig in Musik gesetzte Drama der Theatergeschichte bzw. die erste «Oper».
Hauptsache Happy End
Die Erfindung einer neuen theatralischen Gattung verdankte sich also einem Missverständnis. Wir wissen heute, dass in den Aufführungen antiker Tragödien nur wenige Sololieder sowie Chorlieder gesungen wurden; begleitet wurden sie nicht von einem Orchester, sondern von einem Aulós Spieler. Gleichviel: Seit rund 430 Jahren gibt es die Oper.
Von der ersten ist die Musik nur fragmentarisch erhalten. Aber schon die zweite Oper, die ebenfalls von Rinuccini und Peri stammende «Euridice», uraufgeführt am 6. Oktober 1600 im Palazzo Pitti zu Florenz anlässlich der Hochzeit des französischen Königs Henri IV. mit Prinzessin Maria di Medici, ist vollständig überliefert. Die Dialogpartien waren angelegt als «cantar recitando», also als einfacher melodisch vorgetragener Text über einem durchgehenden «basso continuo»; am Ende der Szenen erklangen mehrstimmige Chöre. Bei der Konkurrenzvertonung desselben Texts durch Giulio Caccini (1602) gibt es an dramatisch wichtigen Stellen auch Koloraturen im Sprechgesang des Rezitativs: Die Keimzelle der Arien. Und noch ein wichtiges Element eignet schon den ersten Opern: Entgegen der mythologischen Vorlage endet die Geschichte von Orfeo und Euridice glücklich (also mit einem «lieto fine»); die Oper schliesst mit einem Fest zu Ehren des neu vereinten Paares.
Für Aristokratie und Volk
Der «Urknall in Sachen Oper» (Rolf Fath) ereignete sich dann wenige Jahre später mit «L’Orfeo», getextet von Alessandro Striggio, komponiert von Claudio Monteverdi: musikalisch viel reichhaltiger als die ersten Stücke, mit rein instrumentalen Passagen (sinfonia, ritornello), madrigalischen Stücken, virtuosen Koloraturen, beständigem Wechsel von Rezitativ und Gesangsnummern. Uraufgeführt wurde die Oper anlässlich des Geburtstags von Francesco IV. Gonzaga am 24. Februar 1607 im Herzoglichen Palast von Mantova; und seither – wenn auch mit längeren Unterbrechungen – gehört dieses Stück zum Repertoire der Opernhäuser weltweit.
Eine fürstliche Hochzeit, ein fürstlicher Geburtstag: Diese Anlässe für Aufführungen der frühen Opern zeigen bereits an, was aus der neuen theatralischen Gattung rasch wurde: ein bevorzugtes Instrument der fürstlichen Repräsentation. Das galt aber vor allem für die Länder nördlich der Alpen.
Im Geburtsland der Oper, in Italien, wurde sie nach ihren aristokratischen Anfängen nämlich bald schon zu einer volkstümlichen Angelegenheit. Mit Eröffnung des ersten öffentlichen, kommerziell geführten Opernhauses in Venedig 1637 wurden die Opern auf den Geschmack eines breiten, wenn auch im Zuschauerraum sozial separierten Publikums ausgerichtet; und das Publikum, Aristokratie und Volk, liebte die Oper. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts entstanden sechs weitere Opernhäuser, die sich über Jahrzehnte halten konnten, vier davon sogar bis ins 19. Jahrhundert.
Im Norden dagegen war die Oper fast überall eine höfische Unterhaltung. Sie war neben dem Bauen und dem Soldatenwesen eines der beliebtesten und teuersten Luxusvergnügen fürstlicher Regenten. «Die Kosten spielten hier keine Rolle mehr. Der Begriff der Rentabilität war unbekannt. Beruht der Ruf eines Geschäftstheaters auf der Höhe seiner Einnahmen, so der eines Hoftheaters auf der Höhe seiner Ausgaben» (Richard Alewyn). Wenn im «Mercure Galant» über eine Opernaufführung in Versailles berichtet wurde, dann wurde ausführlich über Anlass und Ausstattung berichtet, aber nur wenig über Text und Musik gesagt.
Dabei hatte sich seit Monteverdi die Musik aus ihrer Funktion, ausschliesslich Dienerin des Textes zu sein, befreit. Sie war zu einer eigenen Ausdrucksweise für Emotionen aller Art geworden: individualisiert und situationsbezogen, zärtlich oder zornig, üppig oder heroisch.
Auch die Texte waren nicht nur «belanglose Stimuli der Musik», wie es Theodor W. Adorno von den Opern des 19. Jahrhunderts behauptete. Im Gegenteil: Das Libretto befriedigte die literarischen Bedürfnisse einer geistigen Elite. Das Musiktheater hatte das Sprechdrama als «das schwerste und grösste Gedicht» abgelöst: «Die Opera ist der Spiele Königin», hiess es 1725. Der Hamburger Literat Barthold Feind zog in seinem Aufsatz «Von Erregung der Gemüths-Bewegungen in Schau-Spielen» (1709) eine durchgehende entwicklungsgeschichtliche Linie von der Zeit des «einfältigen Hirten Gesprächs» bis zur elaborierten Opera seiner Gegenwart, wobei selbst die Meisterstücke des 17. Jahrhunderts, etwa von Gryphius oder Racine, nur als Vorstufen des musikalischen Schauspiels seiner Gegenwart in Betracht kamen.
Die Oper im 18. und 19. Jahrhundert
So kam es, dass die Oper, etwa als Ausdruck einer abzulehnenden aristokratischen Kultur, im Zeitalter des Bürgertums nicht abgeschafft wurde. Bereits früh im 18. Jahrhundert hatten sich bürgerliche Autoren und Komponisten der Gattung bemächtigt. Einher ging das mit einer «Reform» der Oper: Sie wurde den Formen des Sprechtheaters angenähert; analog zu Trauer- und Lustspiel gab es die «opera seria» und die «opera buffa». Bürgerliche Moral und Satire herrschte in beiden.
Und es musste auch nicht mehr stets ein «lieto fine» geben: Es durfte auch aus Mitleid mit der verlassenen Heldin in «Didone abbandonata» geweint werden. Den Text dieser Oper hatte Pietro Metastasio, der unbestrittene Meister der «opera seria», 1724 gedichtet; und sie war in den Jahrzehnten danach rund vierzig Mal vertont worden. Erneut war also der Text dominant.
Die grosse Zeit der «opera seria» endete jedoch mit dem 18. Jahrhundert. Die «opera buffa» lebte länger. Sie war thematisch flexibler und näher an aktuellen theatralischen Moden, etwa dem Rührstück oder dem Märchen. Dabei konnte sie durchaus ein vielschichtiges Kunstwerk sein, wie «Don Giovanni» (1787) zeigt: ein Meisterwerk von Lorenzo Da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart. Nun wurde wieder die Musik primär: «Prima la musica, poi le parole» hiess ein «divertimento musicale» von Antonio Salieri aus dem Jahr 1786.
Eine Blütezeit der Oper war das bürgerliche 19. Jahrhundert. Die meisten Opern, an die passionierte Theaterbesucher sofort denken, stammen aus dieser Zeit: «Aïda», «La Bohème», «Der Freischütz», «La Muette de Portici», «Nabucco», «Der Ring des Nibelungen» und wie sie alle heissen… Das Bürgertum hatte sich die Oper angeeignet und zelebrierte sie.
Belanglos? Teuer? Nötig!
Die Texte wurden aber, wie gesagt, relativ belanglos. Das hat damit zu tun, dass die Kunst im 19. Jahrhundert «eine quasi religiöse Funktion» erhält: «Das Kunstwerk wird, so bezeugt es der Sprachgebrauch seit der Romantik, Gegenstand von Weihe, Andacht, Pietät und Verehrung. Der Besuch des Konzerts wird mit dem der Kirche verglichen, das Publikum wird Gemeinde, das Sichversenken des Einzelnen in ein Kunstwerk ist Gottesdienst» (Thomas Nipperdey). Das lässt sich am besten erleben, wenn die Leute in der Musik schwelgen; Wörter lenken da nur ab. Deswegen ist es den meisten Opernfans auch egal, wenn sie vom gesungenen Text nichts verstehen. Die Oper wurde kulinarisch genossen.
Die Kulinarik machte die Oper in der Moderne zu einer umstrittenen Sache. Ein Ausweg war die Literaturoper, die im 20. Jahrhundert ungewöhnlich dominant war: also die Vertonung anerkannt ‹progressiver› Dramen (zum Beispiel: Bergs «Wozzeck», Rihms «Hamletmaschine») oder dramatisch verarbeitete Texte des Kanons der erzählenden Literatur (Hindemiths «Cardillac», Müller-Wielands «Märchen der 672. Nacht»).
Immer mal wieder wurde seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Kritik laut, dass Opernhäuser zu hoch subventionierte «Kunsttempel» seien, in denen bloss Stücke der Vergangenheit abgespielt würden. Ernsthaft geschadet hat das der Oper als Institution und Gattung bisher nicht. Im Gegenteil: Auch heutige Autor_innen und Komponist_innen schaffen Opern (z.B. Johanna Doderers «Der tollste Tag» wurde am 10. Oktober 2025 uraufgeführt); und das nicht nur in der sogenannten E-Musik, sondern seit den 1960er Jahren auch in der Rockmusik: «Tommy» von The Who oder «The Wall» von Pink Floyd sind klassische Nummernopern.
Wir können die Oper noch gut gebrauchen.
Unser Experte Arnd Beise ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte am Departement für Germanistik.
arnd.beise@unifr.ch
