Dossier

Hoffnungsträgerin und Sorgenkind

Krisen hin, Revisionen her: die AHV gibt es seit 75 Jahren. Was es heisst, in der Schweiz alt zu sein hat sich durch sie völlig verändert.

«Für ein gutes Alter braucht es zwei Dinge», stellt Alix Heiniger gleich einleitend klar. «Eine gute Gesundheit und ein bisschen Geld.» Heiniger ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Und sie ist eine, die sich auch mit den Schattenseiten des Lebens auskennt. Sie hat sich mit der Geschichte der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» beschäftigt, mit der Armut in der Schweiz und mit dem Alter.

«Bis weit ins 20. Jahrhundert fürchtete man sich davor, alt zu werden. Denn wer nicht mehr in der Lage war zu arbeiten, verarmte oft und musste schlimmstenfalls in die Altersanstalt. Diese Asyle für alte Menschen hatten einen miserablen Ruf. Man schlief zu Dutzenden in grossen Schlafsälen, das Essen war schlecht, die Leute steckten sich gegenseitig mit Krankheiten an und die Pflege war beinahe inexistent.» Wer keine Familie hatte, die sich im Alter um einen kümmerte (und auch nicht starb, bevor es so weit kam), landete schliesslich aber trotzdem in einer dieser Anstalten. Und bei diesen hatten die Gemeinden in erster Linie die Kosten im Blick – nicht das Wohl der Alten. Das klingt alles sehr nach düsterem 19. Jahrhundert, «aber das war bis in die 1970er-Jahre an vielen Orten in der Schweiz die Realität! Wir vergessen viel zu leicht, wie schlecht es um die alten Leute in unserem Land bis vor kurzer Zeit noch bestellt war!»

JA zur AHV

Die zentrale Zäsur für das Schicksal der Alten war 1948 die Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Auch damit war die Schweiz wieder einmal spät dran. Deutschland führte eine ähnliche Sozialversicherung bereits 1889 ein, in der Schweiz hingegen betrachtete die Politik die Altersvorsorge lange als Privatangelegenheit. Vor 1947 gab es nur in einzelnen Kantonen und für einzelne Berufsgruppen (etwa für Beamte) eine garantierte Rente. «Zwar gab es auf nationaler Ebene schon in den 1890ern einen ersten Vorstoss und dann wiederholte Versuche im frühen 20. Jahrhundert. Aber die scheiterten entweder im Parlament oder an der Stimmbevölkerung.»

Immerhin: Als die Schweizer Stimmbevölkerung sich 1947 erneut zu einer Altersversicherung äussern konnte, resultierte ein geradezu historisches Ja. «Die AHV-Abstimmung war ein Jahrhundertereignis», konstatiert Heiniger, «79 Prozent der Stimmberechtigten nahmen Teil und 80 Prozent von ihnen stimmten Ja!» Man kann also problemlos von einem der am breitesten abgestützten Volksentscheide des 20. Jahrhunderts sprechen (das heisst natürlich: wenn man grosszügig darüber hinwegsieht, dass sich lediglich die Schweizer Männer zur Vorlage äussern konnten).

Zum Schutz der Demokratie

«Dass die AHV just nach dem Krieg eingeführt wurde, ist kein Zufall», präzisiert Heiniger. «Wir dürfen nicht vergessen, wie tief der Schweizer Politik die Erfahrung des Erstens Weltkriegs noch in den Knochen steckte.» Damals mündete der Krieg in massive soziale Spannungen. Während manche von der Katastrophe profitiert hatten, waren viele andere in die Armut abgerutscht. Soziale Sicherheitsnetze waren noch wenig ausgebaut und der Ärger der Menschen manifestierte sich im Landesstreik. Anderen Ländern ging es nach dem ersten Weltkrieg nicht besser. «Mancherorts fanden Revolutionen statt, andernorts wandten sich die verarmten Massen den Versprechen der Kommunisten zu. Später waren verarmte Leute – gebeutelt durch Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise – besonders empfänglich für die Versuchungen faschistischer Ideologien. Beim Aufbau der Sozialversicherungen ging es deshalb auch darum, die Demokratie zu schützen.»

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In der Schweiz wurde 1939 die EO geschaffen, die «Erwerbsersatzordnung», welche den Soldaten zugutekam. Nach diesem Modell funktionierte dann ab 1947 auch die AHV. Wobei: Was Rentnerinnen und Rentner in den ersten Jahren erhielten, war mehr ein Zustupf als eine Rente. Im Schnitt waren es anfänglich etwa 10 Prozent eines Durchschnittseinkommens. Erst ab den 1970ern wurden die Renten substanziell erhöht, das Dreisäulensystem wurde 1972 in einer Volksabstimmung angenommen und 1985 trat das Bundesgesetz über die Altersvorsorge (BVG) in Kraft, das vielen (aber nicht allen) Arbeitnehmenden die zweite Säule vorschrieb.

Schönes Altern kostet Geld

Mit der verbesserten wirtschaftlichen Lage der älteren Menschen begann sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts das Bild eines dritten Lebensabschnitts zu formen. «So begann die «Pro Senectute» – eine Institution, die sich lange fast ausschliesslich dem Kampf gegen die Altersarmut verschrieben hatte – nun zusehends, soziale Aktivitäten anzubieten und sich dafür zu engagieren, dass auch alte Menschen als tatkräftig und aktiv wahrgenommen wurden. Als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, die sich um ihre Enkel kümmerten oder ehrenamtliche Vereinsarbeit leisteten.» Auch die Wirtschaft entdeckte zusehends ihr Interesse an aktiven Alten. Ob E-Bikes oder Flusskreuzfahrten, Wellness oder Wanderferien: Alte Leute sind innert weniger Jahrzehnte ein interessanter und umworbener Markt geworden.

Das heisst: Umworben werden bloss jene, die sich die entsprechenden Produkte auch leisten können. «Die Alters­armut ist nicht einfach komplett verschwunden», sagt Alix Heiniger. «Nicht alle können an dieser schönen neuen Welt der Senioren-Unis und Pensionierten- Wandergruppen teilnehmen. Sogar für ein einfaches Sozial­leben braucht es ein bisschen Geld. Man muss es sich leisten können, Freunde im Kaffee zu treffen, sie einzu laden oder etwas mitzubringen.» Manchen Alten mangelt es auch heute noch am Portemonnaie, anderen an der Gesundheit. «Wer seinen Körper in einer aufreibenden Arbeit kaputtgeschuftet hat, dem nützen die schönsten Angebote nichts. Und unfairerweise korrelieren Geld und Gesundheit. Wer einer gut bezahlten Arbeit nachging, ist eher gesund, wer sich kaputtgeschuftet hat, hat das oft auch noch für wenig Lohn getan und ist eher von Alters armut betroffen.» Besonders verletzlich sind dabei einmal mehr Frauen und vor allem Ausländer_innen. Die einen haben oft schlecht bezahlte Verschleiss-Jobs, die andern weisen in ihren Arbeitsbiografien oft Beitragslücken auf (etwa wegen Kinderpausen oder der Pflege der Eltern), die vom Rentensystem auch nicht gerade honoriert werden.

Sparmassnahmen vs. Solidarität

Dennoch: Alles in allem ist die AHV eine Erfolgsgeschichte – und eine mit weitreichenden Folgen. Unsere Vorstellung des Lebens hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Lebenserwartung und Lebensqualität sind gestiegen und an die Stelle des gefürchteten Alters ist ein Lebensabschnitt getreten, der zwar durchaus mit Übergangskrisen verbunden ist, alles in allem aber doch herbeigesehnt wird. Viele Alte sind gesund, verfügen über finanziellen Spielraum, können am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sogar etwas zurückgeben. Nicht wenige machen sich gar nach der Pensionierung nochmals selbständig und arbeiten in einem selbst gewählten Pensum weiter. Beste Perspektiven also für die künftigen Alten? Alix Heiniger ist skeptisch. «Zwar wird die AHV reformiert seit sie geschaffen wurde; seit den 2000ern zielen die Reformen aber verstärkt darauf ab, die Kosten zu senken. Die Beiträge werden erhöht, die Renten gekürzt. Die Politik betrachtet die Altersvorsorge wieder verstärkt als individuelle Aufgabe. Und vom gesellschaftlichen Konsens, der sich in der Abstimmung von 1947 manifestierte, ist in den jüngsten Volksentscheiden zur AHV auch nicht mehr viel übriggeblieben. AHV-Abstimmungen enden sehr oft auf Messers Schneide.» Auch die neueste AHV-Revision wurde äusserst knapp angenommen. Damit wird das Rentenalter der Frauen erhöht. Heiniger stellt die Ergebnisse in einen Zusammenhang: «Die Entscheide, die im September 2022 getroffen wurden, reihen sich in den Anfang 2000 begonnenen Trend der Leistungskürzungen ein, die durch einen Diskurs zur Sicherung der Finanzierung gerechtfertigt werden. Der Diskurs über die Senkung der Sozialausgaben hat alle anderen Überlegungen in den Hintergrund gedrängt. So wird beispielsweise die Steigerung der Arbeitsproduktivität nie berücksichtigt. Es ist jedoch sicher, dass die Verschlechterung des sozialen Schutzes die wirtschaftlichen Ungleichheiten, sowie jene zwischen Männern und Frauen verschärfen wird. Letztendlich wird es auch darum gehen, welche Solidarität wir in der Gesellschaft wollen».

Unser Expertin Alix Heiniger ist Professorin für Zeitge­schichte an der Universität Freiburg. Zu ihren Forsch­ungs­schwerpunkten zählen die Geschichte der Fürsorge­ri­schen Zwangsmassnahmen, der Verdingkinder und die Geschichte des Alters. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt über die Geschichte der Schweizer Gefängnisse im 19. und 20. Jahrhundert.
alix.heiniger@unifr.ch