Forschung & Lehre

Muskeln aus dem 3D-Drucker

Lassen sich die Funktionen unserer Skelettmuskulatur mit nanotechnologischen Verbundwerkstoffen nachbauen? Mit ihrer kühnen Idee haben Forschende der Universität Freiburg millionenschwere Fördergelder des europäischen Inno­vationsrates eingeworben. Nun geht es an die Umsetzung.

Wer das Vorhaben von Alessandro Ianiro und José Berrocal verstehen will, muss sich von gängigen Vorstellungen lösen: Die künstlichen Muskeln, die die beiden Forschenden am Adolphe-Merkle-Institut gemeinsam mit dem Professor für Biophysik Michael Mayer sowie weiteren Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden, Frankreich, Italien und Belgien in den nächsten vier Jahren entwickeln wollen, bestehen nicht aus Fleisch und Blut – sondern aus einem mit Flüssigkristallen versetzten Hydrogel. In Zukunft könnten sie verletzten Menschen helfen, ihre Arm- oder Beinprothesen zu bewegen. Aber Ianiro und Berrocal denken, dass ihre nanotechnologischen Muskeln aufgrund ihres geringen Gewichts vielleicht auch in der Robotik eine wichtige Rolle spielen könnten.

Während unsere Muskeln dank ineinander verwobenen Eiweissfäden Arbeit verrichten und sich zusammenziehen können, basiert der künstliche Muskel «auf einer völlig anderen Chemie», sagt Berrocal. «Der künstliche Muskel ist eine osmotische Maschine», fährt Ianiro fort. Die Maschine schwillt an, wenn sich Wasser im Hydrogel einlagert. Und wenn die Maschine das Wasser abgibt, schrumpft sie wieder zusammen. Die andere Komponente des nanotechnologischen Verbundwerkstoffs soll aus einem präzise angeordneten Gerüst aus Flüssigkristallen bestehen. Es dient dazu, den Volumenveränderungen des Hydrogels eine bestimmte Form zu geben, damit sich die «weichen und dennoch starken Nanoverbundmaterialien wie biologische Muskeln in eine bestimmte Richtung verkürzen und ausdehnen können», schreiben die Forschenden im Kurzbeschrieb ihres Projekts namens Integrate.

Integrate ist eines von nur 56 Projekten, das der europäische Innovationsrat Ende letzten Jahres aus insgesamt 868 Projekten im so genannten Pathfinder-Programm ausgewählt hat. Mit dem Programm will die EU die «Erforschung von kühnen Ideen für radikal neue Technologien» fördern und die «gesamte Wertschöpfungskette und Umwandlung dieser innovativen Technologien in erfolgreiche Unternehmen in Europa» unterstützen. Fast so bombastisch wie diese Ankündigungen ist auch die Höhe der Fördergelder: Dem Projekt Integrate hat der europäische Innovationsrat knapp drei Millionen Euro zugesprochen. Wie die anderen Pathfinder-Projekte sei auch Integrate mit einem hohen Risiko behaftet, zu scheitern, meinen Ianiro und Berrocal. Doch gleichzeitig eröffne es die Aussicht auf grosse Gewinne und wissenschaftliche Durchbrüche. «Es geht nicht um inkrementelle, sondern um disruptive Fortschritte», sagt Ianiro.

Futuristisch klingende Idee

Das tönt grossspurig und überheblich, aber der Ton hat mehr mit dem Duktus der europäischen Ausschreibung als mit den Persönlichkeiten der beiden Forschenden zu tun. Im Gespräch in der Cafeteria des AMI zeigt sich rasch, dass Ianiro und Berrocal ganz anders – viel nahbarer, bescheidener und pragmatischer – ticken. Sie verfolgen zwar Ideen, die ziemlich abgehoben und eindeutig futuristisch klingen. Aber Ianiro und Berrocal gehen dabei sehr durchdacht vor. Und sie erwecken den Eindruck, dass sie sich auch den Schwierigkeiten und vielfältigen Herausforderungen genau bewusst sind.

Beide Forscher sind in der gleichen Gegend nördlich von Rom aufgewachsen, doch kennengelernt haben sie sich im nieder­ländischen Eindhoven, wo Ianiro doktorierte und Berrocal einen Postdoc absolvierte. Als Chemiker hat Berrocal vordergründig natürlich andere Forschungsinteressen als der Materialwissenschaftler Ianiro, trotzdem merken die beiden, dass sie gerne zusammenspannen. Deshalb bleiben die beiden in Kontakt, auch nachdem sich ihre Wege vorerst trennen. Berrocal kommt 2019 als Gruppenleiter nach Freiburg – und setzt sich dafür ein, dass ein Jahr später auch Ianiro zum Adolphe-Merkle-Institut stossen kann. Schon vor seiner Ankunft in der Schweiz trägt Ianiro die Idee eines aus verschiedenen Nanomaterialien zusammengesetzten künstlichen Muskels mit sich herum. Doch erst im Verlauf der Diskussionen mit Berrocal und anderen Forschenden gewinnt die Idee an Konturen, sie wird zusehends fassbarer. «José und ich haben zwar unterschiedliche Expertisen, aber sie überlappen sich auch ein Stück weit. Deswegen können wir miteinander sprechen – und uns dabei auch verstehen», sagt Ianiro.

Der Kontrast springt ins Auge. Die beiden Wissenschaftler wirken vernünftig, sie strahlen nüchterne Kompetenz aus und wählen ihre Worte mit Bedacht. Doch ihr Vorhaben gemahnt an eine Schnapsidee eines durchgeknallten Science-Fiction-Autors: Die Steuerung der osmotischen Maschine, also die Kontrolle über die Ausdehnung und Verkürzung des künstlichen Muskels, soll mit Lichtsignalen erfolgen. Und die Energie, die es braucht, um Licht zu erzeugen, aber auch um den künstlichen Muskel zu bewegen, soll vom Körper stammen.

 

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Jedem sein Knackpunkt

Zum Extrahieren und Ausnützen der Energie, die Lebewesen mit ihrem Stoffwechsel um- und freisetzen, haben Michael Mayer und seine Mitarbeitenden, zu denen auch Ianiro zählt, kürzlich mehrere Aufsehen erregende Artikel publiziert. Bei ihren Arbeiten haben sie sich von den elektrischen Organen der Zitteraale und Zitterrochen inspirieren lassen. Und so zum Beispiel ein Gerät entwickelt, welches das beim Ausatmen entweichende Kohlendioxid auffangen und in Ionengradienten umwandeln kann. Die in diesen Gradienten enthaltene Energie reicht aus, um eine Lichtdiode zum Leuchten zu bringen.

Um den künstlichen Muskel zu betätigen, braucht es jedoch deutlich mehr Energie. Hier sieht Ianiro auch den grössten Knackpunkt des Projekts. Berrocal und seine Gruppe werden sich in den nächsten Jahren hingegen vor allem mit der chemischen Zusammensetzung der Polymere und Flüssigkristalle im Hydrogel beschäftigen. Das grösste Fragezeichen setzt Berrocal deshalb eher hinter die Frage, ob sich der künstliche Muskel als biokompatibel erweisen wird – und in der Interaktion mit dem menschlichen Körper nicht irgendwelche unbeabsichtigten Abstossungsreaktionen hervorruft.

Am Projekt Integrate sind auch Forschungsmanager in Belgien (siehe Kasten) sowie drei weitere Forschungsgruppen in Eindhoven, in Paris und in Rom beteiligt. Die Arbeit ist in einzelne Pakete gegliedert – und zwar so, dass jeweils die spezifischen Stärken der verschiedenen am Projekt beteiligten Gruppen zur Geltung kommen: Während etwa die Forschenden in den Niederlanden und Frankreich unter anderem die molekularen Wechselwirkungen der ver­schiedenen nanotechnologischen Werkstoffe simulieren und so an der idealen Mischung tüfteln, wird sich die Gruppe in Italien um den 3D-Druck kümmern. «Auch uns stehen verschiedene Geräte zur Verfügung, aber die Römer sind die wahren Experten auf diesem Gebiet», sagt Berrocal. Das Ziel des Projekts ist ein 3D-gedruckter, ein Zentimeter langer und breiter künstlicher Muskel. Das entspricht ungefähr der Grösse einer Fingerkuppe – und klingt vorerst nach wenig. Aber beim Bau dieser osmotischen Maschine müssen die Forschenden die Kluft überbrücken, die sich zwischen der Nanowelt der Moleküle und der sinnlich erfahrbaren Welt unserer Körper und Muskeln aufspannt. Ein Zentimeter sind 10 Millionen Nanometer. «Das ist, wie wenn wir ein kilometerlanges Strassenstück mit einem ein Millimeter kurzen Lineal vermessen und zusammenstellen müssten», sagt Ianiro.

Keine Angst vor Misserfolg

Es gilt, zuerst herauszufinden, wie die Kolloide der Flüssigkristalle und die Polymere des Hydrogels theoretisch am besten angeordnet werden sollen. Und dann zu bestimmen, wie gut sich die Theorie in die Praxis übertragen lässt. Das sei ein iterativer
Prozess, der in mehreren Rückkopplungs-­Schlaufen erfolge, meint Ianiro. Vorgesehen ist, dass sich das gesamte Forschungskonsortium alle sechs Monate trifft, um sich zu besprechen und gemeinsam allfällige Schlaufen aufgleisen zu können.

Wie beim biologischen Muskel, der sich zuerst in einzelne Fasernbündel, dann Fasern und schliesslich in noch kleinere Myofibrillen aufteilen lässt, setzen auch Berrocal und Ianiro beim künstlichen Muskel auf baukastenartig geordnete, hierarchische Strukturen. Sogar das Projekt Integrate selbst «ist modular aufgebaut», sagt Ianiro. Es sei gut möglich, dass nicht alle Arbeitspakete des Projekts erfolgreich zu Ende geführt werden können. Das gefährdet die Realisierung des Gesamtziels, aber grundsätzlich seien auch schon die Teil- und Zwischenresultate von Bedeutung. «Wir werden Einsichten erlangen, die auch für andere Gebiete – etwa die Erforschung struktureller Farben – interessant sind», sagt Ianiro. «Deshalb habe ich keine Angst vor einem Misserfolg.»

 

Europäisches Forschungskonsortium

Das Projekt Integrate will aus nanotechnologischen Verbundswerkstoffen künstliche Muskeln herstellen, die sich in eine bestimmte Richtung ausdehnen und verkürzen können. Es wird für die Dauer von Juni 2022 bis Mai 2025 mit knapp 3 Millionen Euro von der EU und der Schweiz gefördert. Geleitet wird das Projekt – aus wissenschaftlicher Sicht – von der Universität Freiburg. Doch Ianiro und Berrocal haben die administrative Leitung an ein Forschungsdienstleistungsbüro in der Nähe von Brüssel abgegeben. Denn aufgrund des gescheiterten Rahmenabkommens mit der EU gilt die Schweiz nicht mehr als vollwertiges Mitglied der europäischen Forschungsgemeinschaft: Offiziell dürfen von hier aus keine länderübergreifenden Forschungskonsortien mehr geleitet werden.

Unser Experte Alessandro Ianiro ist Gruppenleiter in der Gruppe Biophysik am Adolphe-Merkle-Institut der Universität Freiburg.

alessandro.ianiro@unifr.ch

Unser Experte José Augusto Berrocal ist Gruppenleiter in der Gruppe Polymerchemie und Materialien am Adolphe-­Merkle-Institut der Universität Freiburg.

jose.berrocal@unifr.ch