Dossier

Terra Incognita?

Es gibt nicht nur die Sahara. Wüsten können aus Sand sein, aus Stein, Kies, aber auch aus Eis. Wir haben Christine Bichsel und Olivier Graefe vom Departement für Geowissenschaften getroffen. Sie ist Expertin für zentralasiatische Steppen, er Fachmann für die Wüste Namib.

Christine Bichsel, Olivier Graefe, woran denken Sie, wenn Sie an die Wüste denken?

Christine Bichsel: Ich denke spontan an einen weiten, offenen Raum. An eine Fläche, wobei ich natürlich weiss, dass Wüsten auch Gebirge beinhalten können. Ich denke an die Wüsten Zentralasiens, an ihre unstrukturierten Räume, denke an Trockenheit, Staub, Hitze, an wenig Vegetation und an die grossen, leuchtenden Farbkontraste, wenn es plötzlich doch grünt und blüht. Das sind meine spontanen Assoziationen.

Olivier Graefe: Ich denke eher an Sand. Meine Referenzen sind nun mal die Namib und die Sahara. Und ich verbinde mit Wüsten ein Gefühl der Erhabenheit. Des Im-Lot-Seins. Die Wüste vermittelt mir so eine … auf Französisch sagt man «sérénité». Gelassenheit.

Und dies, obwohl Sie sich beruflich tagtäglich mit Wüsten beschäftigen?

Olivier Graefe: Ja. Und obschon ich auch zu Konflikten arbeite und weiss, dass mitnichten alles im Lot ist. Aber ich habe für die Menschen in der Wüste eine grosse Bewunderung. Sie haben eine andere Beziehung zum Leben. Dabei will ich diese Menschen weder romantisieren noch ein Idyll auf sie projizieren, aber sie haben einen anderen Bezug zur Welt. Trotz der Konflikte, trotz der Probleme, trotz der Spannungen zwischen Klassen, Gruppen oder Generationen. Die Menschen der Wüste haben mir in meiner Arbeit immer sehr imponiert.

Und Ihnen, Christine Bichsel, geht es gleich?

Christine Bichsel: Ja. Wobei die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, meist nicht selbst in die Wüste – oder in vielen Fällen auch: die Steppe – migriert sind, sondern dorthin migriert wurden. Sie wurden zu Zeiten der Sowjet­union umgesiedelt.

Olivier Graefe: Moment, die Menschen in der Namib haben auch nicht immer schon dort gelebt! Das sind einheimische Gruppen, die von den Weissen in die Wüste gedrängt worden sind. Die Weissen haben ihre ursprünglichen Gebiete besetzt – für ihre Farmen, für die Landwirtschaft. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither leben die Menschen in der Namib und mussten sich an die Wüste anpassen. Ich denke, der grosse Unterschied zu Zentralasien ist, dass die Leute in die Steppe verfrachtet wurden mit der Idee, dort Baumwollplantagen anzulegen und diese Menschen als Arbeitskräfte zu nutzen, während in Namibia ganz einfach eine Bevölkerung vernichtet werden sollte, indem man sie in die Wüste schickte.

Christine Bichsel: Nebst der Baumwollproduktion ging es auch darum, Menschen aus dem schwer erreichbaren tadschikischen Hochland ins Tiefland zu bringen, wo man mehr Kontrolle über sie hatte. Begründet wurde das oft zivilisatorisch. Also etwa im Sinn von «diese Leute haben da oben wenig Entwicklungschancen. Also tun wir ihnen einen Gefallen, wenn wir sie ins Tiefland bringen, wo sie Baumwollarbeiterinnen werden». Darin spiegelt sich die sowjetische Zivilisationsmission in Zentralasien, bei der es einerseits darum ging, die Menschen zu Sowjetmenschen zu machen und andererseits darum, politische Kontrolle über sie zu erlangen. Das ging nicht nur den Tadschiken so, da gibt es auch Parallelen zu den Tataren auf der Krim oder zu den sowjetischen Koreanern in Ostsibirien, die beide ebenfalls umgesiedelt wurden. In Namibia wurden die Leute in die Wüste getrieben, weil man sie nirgendwo haben wollte. Und in der Sowjetunion wurden sie dorthin gebracht, weil man sie ganz genau da haben wollte. 

Olivier Graefe: Die Wüste hatte schon immer diese doppelte Bedeutung. Einerseits als potenzieller Nutzraum für landwirtschaftliche Besiedelungs- oder Städtebauprojekte. Andererseits war die Wüste immer – oder sagen wir: lange – ein Ort, der sich der Staatsmacht entzogen hat. In der Wüste konnte man ursprünglich nur durch Nomadismus überleben und dieser war vielen Regierungen ein Dorn im Auge. Man wusste nicht, wer wo was macht. Und das ist heute noch ein Problem – etwa in Mali, im Niger, in Südlibyen oder im Nordtschad. Das sind Räume, die entziehen sich der zentralstaatlichen und jetzt sogar der internationalen Kontrolle. Selbst mit Satelliten und ausgefeilter Technik, lässt sich dieser Raum nicht überwachen und das haben der Islamische Staat und andere Terrorgruppen sehr wohl verstanden. Das sind Zwischenräume, die sie nutzen können. Auch im Nordirak oder Nordwest Syrien sind es genau diese wüstenhaften Gebiete, die nur schwer unter Kontrolle zu bringen sind.

Gibt es denn nebst den Menschen, die in die Wüste gedrängt oder verfrachtet worden sind, auch solche, die freiwillig dort leben? 

Olivier Graefe: Absolut. Die meisten Menschen, die in der Wüste leben, könnten heute auch in die Stadt ziehen – viele tun dies ja auch. Gerade die Jüngeren, die den Komfort suchen, Internet, Konsummöglichkeiten. Aber es gibt auch jene, die dort verharren, die verstanden haben, dass das Leben in der Wüste mehr Lebensverwirklichung ist als das Leben in der Grossstadt oder auf dem Bauernhof oder als Arbeiter, der sein Brot verdienen muss. Menschen, die sich sehr bewusst für die Wüste entscheiden.

Wüsten können sehr unterschiedlich aussehen. Sand, Kies, Fels oder gar Eis. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, die diese Landschaften bewohnen? Ein verbindendes Element zwischen Inuits und Beduinen?

Christine Bichsel: Auf jeden Fall. Es braucht in diesen weiten, unstrukturierten Räumen ganz spezifische Strategien. Dazu gehört, dass das Leben dort sehr oft mit Mobilität verbunden ist. Die kann durchaus saisonal sein, also dass man den Winter in gewissen Gebieten verbringt und den Sommer in anderen. Damit passt man sich an die Wanderungen der Tiere an, aber auch daran, dass die Räume selbst nicht übers ganze Jahr gleichbleiben.

Nomadisieren als Anpassung an die Wüste.

Christine Bichsel: Auch. Wir sollten uns aber vergegenwärtigen, dass Sesshaftigkeit nur für uns die Norm bedeutet. Dass sie sich weitgehend durchgesetzt hat, bedeutet nicht, dass es keine Alternativen gibt. Es gibt noch heute auch hier in der Schweiz Leute, die nicht sesshaft leben. Überdies hatten und haben wir auch bei uns eine ausgeprägte Kultur der Transhumanz, also der saisonalen Migration. Man zog im Sommer auf die Alp und im Herbst wieder ins Tal. Heute wird die nicht-sesshafte Lebensweise gerne als Anomalie dargestellt. Und gerade die Nationalstaaten bevorzugen natürlich Sesshafte, weil diese leichter erfassbar, quantifizierbar, steuerbar, kontrollierbar, und einziehbar sind, wenn man Kriege führen will. Nochmals: Diese Norm, zu denken, dass mit denen, die nicht sesshaft leben etwas nicht stimmt, das ist unsere Idee.

Die Sesshaftigkeit war, beziehungsweise ist also auch politisch gewollt.

Christine Bichsel: In der Sowjetunion definitiv.

Olivier Graefe: Wie in vielen kolonialen Staaten, übrigens. Die Wüste war auch immer ein Traum von Kolonialmächten und Imperien. Und eine Nostalgie. Ein Gegenpol zum westlich-zivilisierten Raum.

Olivier Graefe: Das ist ein Motiv, das man auch sehr schön in Kinofilmen sieht. Oder in der Literatur.

Die Wüste als Sehnsuchtsort?

Christine Bichsel: Genau. In Zentralasien waren es oft imperiale Narrative von Gebieten, die einst – unter einer alten Zivilisation – geblüht haben, aber dann zerstört wurden. Die kolonialen Herrscher versprachen, sie wieder zum Blühen zu bringen. Sie erforschten die Wüsten aber auch intensiv, mit dem Ziel, Traditionen zu finden, an die sie anknüpfen konnten. Oft endete das dann in gross angelegten Bewässerungsprojekten. Gerade in Zentralasien gab es dieses koloniale Narrativ, dass frühere Zivilisationen dort basierend auf bewässerten Wüsten grossartige Reiche erstellt hatten.

Olivier Graefe: Vor allem im 19. und bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Wüste – insbesondere die Sahara – aber auch als Raum der Extreme gesehen. Als Fremdes, Anderes. Das hatte etwas ungemein Anziehendes. Die Menschen, die dorthin aufgebrochen sind, waren oft solche, die sich in der eigenen Gesellschaft nicht besonders wohlgefühlt haben. Leute, die nach etwas gesucht haben. Oft hatten sie dabei sehr romantische Vorstellung vom «Edlen Wilden», sei es in Form von Beduinen auf der arabischen Halbinsel oder von Tuareg in der Sahara. Dieser stolze Mann personifizierte das Exotische. Dies führte gerade bei europäischen Reisenden oft zu einer Mischung aus zivilisatorischem Willen und der Sehnsucht, sich diese Lebensart, diese Kultur anzueignen.

 © Valentin Rime

Bada, Dépression de Danakil 11.02.2019

14.5258°N, 40.0990°E

Nous sommes à 95m d’altitude, mais nous découvrons des coraux et des sédiments marins. Cela montre la puissance des phénomènes tectoniques actifs dans l’Afar. En déterminant l’âge des coraux, nous pourrons calculer qu’ils se sont élevés de presque 1 mm par an depuis leur déposition. Ces mouvements d’élévation des marges de la dépression ne pourront probablement pas empêcher l’inondation de cette vallée dans les millénaires, voir les siècles à venir, à cause du réchauffement anthropogénique, formant une nouvelle mer aussi vaste que la Romandie.

Das erinnert spontan an den frühen Alpinismus. Die Schweizer Bergler waren für die Engländer des 19. Jahrhunderts ja auch eine Art Edle Wilde. Und wie die Wüste waren auch die Berge etwas, das es zu erobern, zu zähmen, zu domestizieren galt.

Christine Bichsel: Ich sehe da durchaus Parallelen. Bei der ersten russischen Gletscherexpedition hat der russische Geograph Muschketov, als er auf dem Gletscher war, diesen mit der Karakum-Wüste verglichen. Ob Eis oder Steppe: Das Motiv der Wüste als des radikal Anderen gab es auch in der Sowjetunion. So wurden in Turkmenistan, der Teilrepublik mit den meisten Wüsten, auch verschiedene Science-Fiction-Filme gedreht. Die Wüste wurde – wie auch der Mond – mit dem Begriff «tselina» bezeichnet, den man in diesem Kontext mit «Terra Incognita» übersetzen könnte, oder wörtlich mit «noch nie betretenes Land». Dieses Land zu erschliessen, barg massive Probleme. Schon bei der Eroberung Zentralasiens konnten die Russen schlecht in diese Räume vordringen. Dafür brauchten sie Kamele als Lasttiere, und mit diesen konnten sie nicht umgehen. Die Tiere starben wie die Fliegen und so scheiterten einige Versuche zur Eroberung Zentralasiens. Das Gebiet wurde deshalb als schwierig, anders und unnahbar angesehen und diese Vorstellung wurde auch auf die dort lebenden Menschen übertragen.

Olivier Graefe: Das Thema dieser «Frontiers» hat auch eine wichtige kulturelle und politische Bedeutung. Ganz deutlich etwa in den USA, wo die Erschliessung des Westens einerseits Gründungsmythos ist, dann aber auch von John F. Kennedy wieder aufgegriffen wurde, als es darum ging, das Weltall zu erschliessen.

Western und Science Fiction erzählen ja ohnehin oft dieselben Geschichten. Grosses Thema ist das Verschieben der «Frontier» zwischen Wildnis und Zivilisation. 

Olivier Graefe: Genau darum ging es auch den Franzosen, Briten oder Deutschen in Afrika.

Ein ganz anderer Topos ist der «Gang in die Wüste», wo die Stille wartet oder die Einsamkeit oder Gott. Ist das ein spezifisch christliches Motiv oder spielt die Wüste auch in anderen Religionen diese Rolle?

Christine Bichsel: Biblisch ist die Wüste natürlich sehr stark geprägt und das gilt auch für den Koran, wobei ich diesen jetzt zu schlecht kenne, um da in die Tiefe zu gehen.

Olivier Graefe: Dass die Wüste auch religiös aufgeladen ist, hat für mich etwas mit Resonanz zu tun. Also in dem Sinn, dass es keine anderen Störungen gibt. Man ist sich selbst ausgesetzt. Und ich denke, das Suchen nach Sinn oder nach Eingebung ist in der Wüste einfacher als andernorts, wo man ständig so vielen Reizen ausgesetzt ist. Zumindest in unserer westlichen Vorstellung.

Welche Beziehung haben die Menschen, die tatsächlich dort leben, zur Wüste?

Olivier Graefe: Namibische Jugendliche würden vermutlich sagen: «Die Wüste ist langweilig, sie ist tot.» Andere würden sagen: «Nein, die Wüste lebt. Auch wenn es nicht danach aussieht, da passiert immer etwas.» Bei den Tuareg wiederum habe ich beobachtet, wie sie in der Stadt nervös sind. Für sie ist die Wüste das, was für uns eine romantische Hügellandschaft ist.

Christine Bichsel: In der Sowjetunion wurde das Versprechen der blühenden Gärten nie eingelöst. Es gab zwar grosse Projekte zur Umleitung sibirischer Flüsse, geklappt hat das allerdings nicht. Und so wird die Wüste heute oft als defizitäre Landschaft wahrgenommen.

Olivier Graefe: In Marokko gibt es am Rand der Wüste viele Leute, die eine Migrationsgeschichte haben. Ältere Bauern, die mal in Europa oder in den Städten gearbeitet haben und von dort nun zurückgekehrt sind. Denen behagt das einfache Leben am Wüstenrand. Zugleich wurden die Beamten in denselben Dörfern meistens dorthin strafversetzt und regelrecht in die Wüste geschickt. Daraus ergeben sich sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Wüste.

Wenn wir von blühenden Gärten sprechen, müssen wir auch von Oasen sprechen, von Karawanenstädten und von Orten wie Timbuktu, deren Namen einen geradezu mystischen Klang haben.

Christine Bichsel: Dieser Mythos speist sich wohl auch daraus, dass die Wege durch die Wüste schon immer beschwerlich waren. Man reiste allein oder mit einer Karawane durch die Leere und dann plötzlich traf man auf die Fülle dieser Städte! In Zentralasien waren es die Metropolen der Seidenstrasse – Buchara etwa oder Samarkand. Oder Chiwa zur Zeit der arabischen Besetzung. Blühende Gärten, hochstehende Wissenschaft! Algorithmus kommt von Al-Chwarizmi, was «der Chwarismier» bedeutet, und aus dem Gebiet stammt, dessen Hauptstadt Chiwa war. 

Olivier Graefe: Timbuktu war eine der letzten Städte der Sahara, die von Europäern betreten worden ist, weil sie für Nichtgläubige verboten war. Wenn man das Tagebuch von René Caillié liest, der die Stadt als erster Europäer betrat, sieht man allerdings seine Enttäuschung. Denn die europäische Vorstellung war – seit der Römerzeit übrigens – völlig überzogen. Man wusste, dass in Timbuktu Sklaven und Elfenbein, Tierhäute und Straussenfedern gehandelt wurden und war überzeugt, dass Timbuktu eine immens reiche, riesige Stadt sein musste. Die Realität war indes eine andere. Trotzdem hat sich der Mythos der Karawanenstadt Timbuktu lange gehalten.

Zu den Karawanenstädten gehört das Bild von Kamelen. Welche Rolle spielen sie heute noch in der Wüste?

Olivier Graefe: Ihre Bedeutung hat markant abgenommen. Freilebende Tiere gibt es kaum noch und für den Transport wurden sie grösstenteils durch Geländewagen, insbesondere Toyota, ersetzt. Wenn Sie heute Satellitenbilder der Sahara anschauen, entdecken Sie ein Netz von Radspuren grosser Autos.

Die moderne Welt hinterlässt ihre Spuren also auch in der Wüste.

Christine Bichsel: Natürlich. Von ausrangierten Flugzeugen bis hin zu Raketenteilen. Sagt Ihnen der Name Baikonur etwas? 

Das russische Cape Canaveral; die Startrampe der Weltraummissionen.

Christine Bichsel: Exakt. Die Geschichte von Baikonur ist komplex, aber ein Grund, weshalb es genau dort gebaut wurde, war, dass die Tanks der Raketen nach dem Start abgeworfen werden. In Baikonur wusste man, dass sie in der Steppe landen würden – also in wenig besiedeltem Gebiet. Man betrachtete die Wüste als «Waste Lands», als sorgenfrei verschmutzbares Gebiet. Das erklärt auch, weshalb Wüsten immer wieder als experimentelle Räume für Waffen und andere Technologien genutzt wurden und zum Teil bis heute genutzt werden. Ich erinnere diesbezüglich etwa an die Atombombentests von Semipalatinsk (RUS), von Nevada oder in der damals noch franco-algerischen Südsahara.

Olivier Graefe: Namibia war im Gespräch als Atommüllendlager – also, dass bestimmte Länder ihre alten Brennelemente nach Namibia exportieren könnten. Für ein armes Land ist es sehr schwierig, zu verhandeln, wenn reiche Länder kommen und viel Geld dafür bieten, um ihren Atommüll loszuwerden.

Wobei die Wüste die Dinge aber auch konserviert. Von Plastiksäcken über Ötzi bis hin zu alten Schriftrollen, Mumien oder Pyramiden.

Olivier Graefe: Deshalb sind Wüsten auch eine kulturhistorisch so wichtige Quelle. Es gibt bekannte prähistorische Fundstätten, Gravuren, Felsmalereien. Archäologisch wird sehr viel in Wüsten gearbeitet. Für das Verständnis der Menschheitsgeschichte sind sie absolut zentral.

Christine Bichsel: Aber auch frühe Formen von Landwirtschaft fanden oft am Rand von Wüsten statt. In Mesopotamien, Ägypten oder Zentralasien bepflanzte man die Schwemmflächen mäandrierender Flüsse und zog weiter. Später kam man dann zurück, um zu ernten.

Dann entstand die Zivilisation also in der Wüste?

Christine Bichsel: So weit würde ich nicht gehen, aber Wüsten sind Räume, die Innovationen zulassen und auch erfordern. Und sie waren auch immer Durchgangsräume, wo sich verschiedene Gruppen trafen, wo man gewissermassen am Wasserloch oder am Fluss wieder zusammenkam und Ideen austauschte.

Wie geht es den Wüsten denn heute?

Olivier Graefe: Ihr grösstes Problem ist der Klimawandel. Es ist schon ein Unterschied, ob Sie jetzt bei 45°C arbeiten oder bei 55°C. Der menschliche Organismus hat seine Grenzen. Aber es gibt auch vermehrt Extremwetterereignisse wie etwa Sturzfluten. Das bereitet sowohl der Vegetation als auch den Menschen, die in der Wüste leben, Probleme. Das zweite Problem hat ökonomische Gründe. Es ist schon jetzt klar, dass der Ukraine-Krieg dazu führen wird, dass der Druck zur Erschliessung neuer Erdöl- und Erdgas-Felder nochmals steigen wird. Und diese Felder liegen beispielsweise in der Wüste Algeriens. Auch die Exploration der Sahara wird nochmals zunehmen. In der Namib ist vor allem der Druck des Tourismus grösser geworden. Hinzu kommt das Bevölkerungswachstum. Da will man auf der einen Seite Naturschutzzonen errichten, andererseits gibt es einen erhöhten Bedarf an Anbau- und Weideflächen. Das ist kaum vereinbar.

Christine Bichsel: Angesichts der extremen Bedingungen – in Zentralasien kann es im Winter gut -20°C werden und im Sommer auch mal um die 50°C – können kleine Schwankungen schon grosse Folgen haben. Wenn die Menschen zu gewissen Zeiten nicht mehr auf das Vorhandensein von Wasser zählen können, dann hat das sofort Konsequenzen. Es sind die Extremräume der Welt, von Tuvalu bis Grönland, die vom Klimawandel rasch und nachhaltig betroffen sind. Für die Menschen ist das sicher schlecht, für die Wüsten aber vielleicht sogar gut, weil sie weniger genutzt werden – das ist letztlich eine Frage der Betrachtung.

Was wünschen Sie den Wüsten der Welt?

Olivier Graefe: Mehr Respekt. Mehr Anerkennung.

Christine Bichsel: Sowie mehr Kenntnisse. Mehr Wissen über die Wüste und die Menschen, die sie bewohnen.

Unsere Expertin Christine Bichsel ist Professorin für Humangeographie am Departement für Geowissenschaften und forscht im Bereich der Politischen Geographie und der Umweltgeschichte. Sie beschäftigt sich mit der Geschichte von Steppenräumen und Bewässerungssystemen in Zentralasien.

christine.bichsel@unifr.ch

Unser Experte Olivier Graefe ist Professor für Humangeographie am Department für Geowissenschaften und arbeitet im Bereich der Politischen Ökologie der Ressourcen wie Wasser, Land und Biodiversität, vor allem in ariden Gebieten Afrikas. Er war davor mehrere Jahre Reise- und Expeditionsleiter in der Zentralsahara und in Marokko.

olivier.graefe@unifr.ch