Forschung & Lehre

Lohnende Knochenarbeit

Der Bioinformatiker Daniel Wegmann hat mit seiner Gruppe eine Methode weiterentwickelt, mit der sich Informationen aus schwer beschädigter DNA von alten Knochen gewinnen lassen. Das brachte Licht in die komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den ersten Bauerngruppen der Welt.

Alte Knochen und Zähne können von längst vergangenen Zeiten erzählen. Um sie zum Sprechen zu bringen, braucht es jedoch Glück, Know-how und Teamarbeit. Glück, weil man die Knochen erst mal finden muss. Nicht viele überleben die Jahrtausende und wenn doch, sind sie mehr oder weniger tief in der Erde versteckt. Hat man einen entdeckt, braucht es Wissen aus verschiedenen Disziplinen, um zu verstehen, wie alt der Knochen ist, zu welcher Kultur «sein» Mensch gehört hatte und wie der zu seiner letzten Ruhestätte kam.

Aus Knochen werden Buchstaben

Daniel Wegmann vom Department für Biologie der Universität Freiburg ist einer der Experten, der Informationen aus den Überresten längst verstorbener Menschen holt. Das Spezialgebiet des Bioinformatikers ist die Genetik. Er schaut das Erbgut von Lebewesen an, konkret die DNA. Nur: Sobald jemand stirbt, verfällt der grösste Teil des Körpers schnell. Knochen und Zähne sind zwar robuster. Wenn sie jedoch Tausende Jahre im Boden gelegen haben, bleibt auch in ihnen nicht mehr viel Erbinformation übrig. Aber immerhin: Bruchstücke des Genoms sind noch da. Die Methoden, mit denen man sie herausholt, hat etwas von Detektivarbeit. Zuerst kommen die (Stein-)Zeitzeugen in ein ultrareines Labor, damit sie nicht kontaminiert werden, zum Beispiel über die Atemluft. Hier wird der Knochen gründlich geputzt. Denn hätte vorher etwa eine Archäologin den Knochen mit blossen Händen berührt, wäre mehr von ihrer DNA an der Probe als vom Menschen, zu dem er mal gehörte. Dann nimmt man ein kleines Stück Knochen – mit Vorliebe den Amboss, einen kleinen, extrem harten Knochen im Mittelohr – und pulverisiert es. Aus dem Pulver wird die DNA gelöst und in ein Sequenzierzentrum geschickt, das die DNA-Bausteine, Nukleotide genannt, identifiziert. Es gibt vier verschiedene Bausteine, die sich nur durch einen Bestandteil unterscheiden: eine Base. Die Nukleotid-Typen werden mit den Anfangsbuchstaben der Basen bezeichnet: A für Adenin, G für Guanin, T für Thymin und C für Cytosin. Am Schluss der Sequenzierung steht also ein Buchstabensalat oder, in wissenschaftlicher Sprache: Roh-Sequenzierdaten. Nun kommt Daniel Wegmann ins Spiel. Sein Part ist es, den Salat so zu ordnen, dass sich etwas über den ehemaligen DNA-Träger sagen lässt: Über sein Aussehen, seine Krankheiten, seine Vorfahren. Eine Art genetischer Fingerabdruck. Um aus den wenigen übriggebliebenen DNA-Stückchen die genetische Ausstattung der Person herauszuschälen, nimmt Wegmann das komplett sequenzierte Genom von modernen Menschen zu Hilfe. Er schaut, an welche Stelle auf dem DNA-Strang die Puzzleteile am besten passen und kann sich so ein Bild vom Genom des Knochenmenschen machen. Das ist jedoch aus mehreren Gründen knifflig: Zum Beispiel, weil sich Basen im Lauf der Zeit verändern können: Aus Cytosin kann beispielsweise Thymin werden. Ein zweites Problem: Trotz aller Vorsicht lassen sich Kontaminationen nicht ganz vermeiden, es werden also fremde Buchstaben im Salat sein. Und last but not least: Die Sequenziermaschine macht Fehler. Eine ganze Menge von Schwierigkeiten, aber keine, die sich nicht beheben liessen, sagt Wegmann: «Wir haben ein Modell entwickelt, das all diese Probleme sauber schätzen kann.» Er und seine Gruppe arbeiten seit sechs Jahren mit diesem Modell und haben es so weit perfektioniert, dass sie viel und akkurate Information aus dem Genom herausbekommen.

DNA beantwortet Gretchenfrage

In das Gebiet eingestiegen ist Wegmann vor rund zehn Jahren als ihn der Evolutionsbiologe Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz anfragte, ob er für ihn Roh-Sequenzierdaten von frühen Bauern aufbereiten könnte. «Das Thema steckte damals noch in den Kinderschuhen und ich sah sehr viele Möglichkeiten, zur Verbesserung der Analysemethoden», sagt Wegmann. «Das hat mich als Bioinformatiker interessiert. Ich finde es langweilig, Standardanalysen durchzuführen.» Die Frage, um die es beim ersten gemeinsamen Projekt ging, war vergleichsweise einfach: Burger war der erste, der DNA von den ersten ägäischen Bauern hatte und wollte wissen, ob sie mit ersten Bauern aus Zentraleuropa verwandt waren. «Wir haben die DNA sauber aufgearbeitet, verglichen und konnten sagen: Die gehören genetisch zur gleichen Gruppe», sagt Wegmann. Das beantwortete die alte Frage, wie die Landwirtschaft, die vor gut 13'000 Jahren im Nahen Osten ihren Anfang genommen hatte, nach Europa gelangt war: Hatten frühe Bauern aus dem Nahen Osten kolonisiert oder hatten europäische Jäger und Sammler den neuen Lebensstil kopiert? Die Archäologie musste vor diese Frage kapitulieren. Denn sie sieht zwar, dass ein neues Bauerndorf entstand, aber nicht wer es gründete: der einwandernde Bauer oder der kopierende Jäger und Sammler vor Ort. Die Genetik hingegen kann genau das. Nach der Untersuchung von Wegmann und Burger war klar: «Einwanderer haben die Landwirtschaft nach Europa gebracht.»

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Daran schloss sich die Frage an, wie die Landwirtschaft in die Ägäis gekommen war. Denn die neolithische Revolution hatte ja nicht dort stattgefunden, sondern weiter im Osten, im sogenannten fruchtbaren Halbmond. Das bogenförmige Gebiet umfasst Teile des heutigen Iran, Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, Israel und Palästina. Eine neue Probe aus einer Höhle im westlichen Iran, also mitten aus dem fruchtbaren Halbmond, schien geeignet, das Rätsel zu lösen. Wegmann und Burger erwarteten, dass sie damit würden zeigen können, dass die Bauern von dort in die Ägäis eingewandert waren. Doch Fehlanzeige: «Die beiden Gruppen haben genetisch nichts miteinander zu tun», sagt Wegmann. Diese Überraschung gab den Anstoss für eine weitere Studie: «Wir wollten nun wissen, woher die ersten europäischen Bauern wirklich kamen.» Im Mai dieses Jahres wurden die Resultate dieses Forschungsprojekts in der renommierten Zeitschrift «Cell» publiziert. Um es vorwegzunehmen: Die Antwort ist kompliziert.

Genetische Differenzierung

Doch der Reihe nach. Für die Studie wurden die Genome von 25 Knochen unter die Lupe genommen. Gefunden hatte man sie in einem Gebiet, das vom Westen des Iran bis nach Frankreich reicht. Die älteste Probe war rund 14'000-jährig, die jüngste halb so alt. Die Fragestellung war diesmal anspruchsvoller: Es ging nicht mehr nur darum zu entscheiden, ob sich zwei Proben genetisch ähnlich waren. «Wir wollten ein demografisches Modell, das erklären konnte, wie die DNAs an all die Orte gekommen sind, wo sie gefunden worden waren», erklärt Wegmann. Solche Modelle sind die Spezialität des Populationsgenetikers Laurent Excoffier von der Universität Bern. Seine Gruppe hat aufgrund der geografischen und zeitlichen Verteilung der Genome errechnet, wo welche Gruppen von Steinzeitmenschen gelebt haben könnten, von wo nach wo sie gewandert sind, mit wem sie sich vermischt haben und mit wem nicht. Um das tun zu können, hat das Forschungsteam bis zur letzten Eiszeit zurückgeschaut. Diese hatte ihren Höhepunkt vor 25’000 bis 18’000 Jahren. Weite Teile Europas waren von dicken Gletschern bedeckt, was den damaligen Jägern und Sammlern das Leben zur Hölle machte. Die ohnehin kleine Bevölkerung wurde dezimiert und in zwei Gruppen getrennt. Eine überlebte am Mittelmeer von der Ägäis an westwärts, die andere im Gebiet des fruchtbaren Halbmonds. Später teilten sich zuerst die Westgruppe und dann auch die Ostgruppe noch einmal auf. Nachdem sich das Eis zurückgezogen hatte, folgte eine Zeit mit stark schwankenden klimatischen Bedingungen. Bei Tauwetter dehnten die Gruppen ihre Territorien jeweils aus, zuweilen so weit, dass sie aufeinandertrafen und sich vermischten. Wurde es wieder unwirtlicher, wurden sie wieder separiert – und unterschieden sich bald auch genetisch voneinander. «Genetische Differenzierung geschieht schnell, wenn Populationen klar getrennt und sehr klein sind.» Als man im Osten mit Ackerbau und Tierhaltung zu experimentieren begann, geschah dies deshalb parallel in drei bis vier Gebieten mit genetisch unterschiedlichen Bevölkerungen. «Zu diesem Zeitpunkt war das genetische Setting im Nahen Osten schon relativ kompliziert», fasst Wegmann zusammen. Für die Entwicklung Europas war eine Expansionsphase vor etwa 12'900 Jahren bedeutungsvoll. Damals breitete sich die westlichste der östlichen Bauerngruppen nach Westen aus. Sie traf dabei (bereits zum zweiten Mal) auf eine der westlichen Gruppen, mit der sie sich erneut vermischte. «Danach ging es so richtig ab», sagt Wegmann. Diese neue Population war es, die via der Ägäais und dann der Donau entlang nach Europa wanderte und dem Kontinent die landwirtschaftliche Revolution brachte.

In groben Zügen ist damit die Populationsgeschichte in Nahen Osten und Europa bis vor 6000 Jahren bekannt. Daniel Wegmann wird die Arbeit jedoch nicht ausgehen. Erstens gibt es noch sehr viele ungeklärte Details aus dieser Zeitspanne und zweitens ist auch danach noch viel passiert. Zum Beispiel die Einwanderung der Jamnaja-Kultur aus den Steppengebieten vor 3500 Jahren, die in den Erbanlagen der heutigen Europäerinnen und Europäer deutliche Spuren hinterlassen hat. Oder die Römer: Auch zu ihrem Einfluss gibt es viele Fragen, zu denen die Bioinformatik etwas beitragen kann. Und erst die Völkerwanderung: «Da ging alles drunter und drüber», sagt Wegmann. Um mehr darüber zu wissen, wird er noch viele Knochen zum Sprechen bringen.

Unser Experte Daniel Wegmann ist Professor für Bioinformatik an der Universität Freiburg. Das Ausgraben und sorgfältige Beproben von alten Knochen im Reinraum ist nichts für ihn. Aber er und sein Team entwickeln statistische Methoden, um die daraus gewonnenen alten Genome trotz ihrer Schäden korrekt zu analysieren und zu vergleichen.

daniel.wegmann@unifr.ch

Marchi et al.: The genomic origins of the world’s first farmers, 2022, Cell 185, 1842–1859  (https://doi.org/10.1016/j.cell.2022.04.008)