Dossier

Im Reich des gefroreren Wassers

Wüsten sind nicht immer aus Sand und sengend heiss. Sie können eine Menge Wasser enthalten, allerdings in festem Zustand. Einblicke in zwei Projekte die sich mit der Kältewüste auf dem grönländischen Eisschild und mit Permafrost im Hochgebirge befassen.

Wo Wasser ist, ist Leben. Dieser Leitsatz hat sich auf der Erde so fest bewährt, dass ihn mittlerweile auch Astronomen befolgen: Sie suchen damit im Weltall nach weiteren Planeten, die eventuell von Lebewesen bewohnt und bevölkert sind. Doch der Satz setzt den flüssigen Aggregatszustand des Wassers voraus. Sobald es gefriert, wird es für Lebewesen ungleich schwieriger, zu gedeihen und sich fortzupflanzen.

Auch auf unserem Planeten gibt es Gebiete, die zwar rein mengenmässig reich an Wasser sind, aber trotzdem zu den Wüstengebieten der Erde zählen. Solche Gebiete werden umgangssprachlich auch Eis- oder Kältewüsten genannt, auch wenn in der Forschung meist andere Begriffe verwendet werden. «Wir sprechen von der Kryosphäre», sagen Christian Hauck und Horst Machguth vom Departement für Geowissenschaften.

Der Ausdruck ist vom Altgriechischen abgeleitet und heisst etwas salopp übersetzt so viel wie Eis- oder Frostkugel. Die Kryosphäre bezeichnet die Gesamtheit der Vorkommen festen Wassers auf der Erde und umfasst verschiedene Komponenten wie etwa die polaren Eisschilde, das Meereis, die Gletscher, den Schnee und den Permafrost. Doch wie erforscht man die Kryosphäre? Und was für Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund?

Hier folgt die Annäherung an eine Antwort auf diese Fragen – mit Einblicken in zwei auf den ersten Blick komplett verschiedene Projekte, die bei genauerem Hinschauen aber doch durch mehrere Gemeinsamkeiten verbunden sind. Während Hauck und seine Forschungsgruppe den Permafrost in Hochgebirgen erkunden – etwa in den Schweizer Alpen, aber auch in den südamerikanischen Anden und im zentralasiatischen Alaigebirge an der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan –, interessieren sich Machguth und sein Team für die Schmelzprozesse auf dem grönländischen Eisschild.

Der grönländische Eisschild wird in der Grösse nur vom antarktischen Schild übertroffen; er bedeckt ein Gebiet, das 1,7 Millionen Quadratkilometer umfasst – «also grob die Fläche von Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien zusammengenommen», sagt Machguth. Im Schnitt ist der grönländische Eisschild knapp 2000 Meter dick, aber an den höchsten Stellen türmt sich das Eis auf mehr als 3000 Metern. Insgesamt ist im grönländischen Eisschild also eine schier unfassbare Menge an Wasser in gefrorener Form gespeichert: Wenn der Schild komplett abschmilzt, steigt der Meeresspiegel weltweit um mehr als 7 Meter an. Das dürfte wohl erst in einigen Tausend Jahren der Fall sein. Trotzdem hat sich im Zuge der Klimaerwärmung die Schmelze in den letzten Jahrzehnten deutlich verstärkt und zu einer Versechsfachung des Massenverlusts geführt, wie die Auswertung von Satellitenmessdaten zeigt.

«Aktuell verliert der Eisschild jedes Jahr ungefähr 250 Gigatonnen Eis. Das entspricht der fünffachen Menge aller Gletscher in der Schweiz», sagt Machguth. Von Bedeutung seien dabei zwei Vorgänge: Einerseits brechen Eisberge ab, andererseits schmilzt der Schnee auf der Oberfläche des Eisschilds. Eine knappe Hälfte des Schmelzwassers sickert in das darunterliegende Eis ein – und gefriert wieder. Doch der restliche Teil des Schmelzwassers beginnt im Frühling jeweils Flüsse zu bilden, die das Wasser ins Meer transportieren.

Auf diese Flüsse haben es die Forschenden um Machguth abgesehen. Sie wollen verstehen, wie die Flüsse entstehen – um dadurch deren Anteil am Massenverlust des grönländischen Eisschilds besser abschätzen zu können. Die Forschenden setzen dabei auf Satellitenmessungen, aber auch auf Feldarbeit. Soeben sind sie von ihrer Mess-Expedition zurückgekehrt, die sie möglichst jedes Jahr durchführen (wenn nicht gerade ein neues Virus eine Pandemie auslöst und damit ihre Pläne über den Haufen wirft). Für Machguth gehört der Aufenthalt in der Eiswüste zu den aufregendsten, aber auch anstrengendsten Wochen im Jahr. Nur schon die Reise tönt abenteuerlich – und erfordert «einen riesigen logistischen Aufwand»: Zuerst geht es mit dem Flugzeug nach Kangerlussuaq, einem «ziemlich grossen Flughafen, der aus einer US-amerikanischen Luftwaffenbasis des zweiten Weltkriegs hervorgegangen ist und in einem eigenartigen Kontrast zum kleinen Dorf am Flughafen und der Leere ausserhalb des Dorfs steht», sagt Machguth.

Endloses Weiss

Von Kangerlussuaq geht es mit dem Helikopter weiter. Er fliegt die Forschenden und ihre Ausrüstung (inklusive Toilettenzelt) über die Randzone des Schilds, wo das Eis tiefe Spalten aufweist – und deshalb nicht begangen werden kann. «Vom Ort, wo uns der Helikopter absetzt, fahren wir nochmals 100 Kilometer mit den Schneemobilen weiter», sagt Machguth. Dass sie am Ziel angelangt sind, also dort, wo sie ihr Camp aufschlagen und die Entstehung der Schmelzwasserflüsse untersuchen, verraten ihnen ihre GPS-Ortungsgeräte, denn: «Eigentlich sieht alles genau gleich aus: ein endloses, sanft gewelltes Weiss.»

Auch wenn zwischen den höchsten und tiefsten Gebieten des Eisschilds mehr als 3000 Höhenmeter liegen, wähnt man sich wegen der riesigen Ausdehnung auf einer komplett flachen Ebene. Die sanften Wellen des eisigen Untergrunds kontrastieren mit der harschen Oberfläche, wo der vom Wind verfrachtete Schnee Abertausende von sehr harten, kleinen Dünen formt, die die Forschenden um Machguth «Zastrugi» nennen. «Das ist vom russischen ‹strugat› für ‹hobeln› abgeleitet», führt Machguth aus. Wie die Wanderdünen in der Sahara ist auch die ganze Oberfläche des Eisschilds in dauernder Bewegung. «Der Wind weht eine unglaubliche Menge an Schnee herum.»

Die Erfahrung hat ihn gelehrt, bei den Expeditionen mindestens einen Drittel mehr Zeit einzuberechnen als für die Durchführung der Versuche nötig wäre. Denn: «Die beiden Eisschilde gehören zu den lebensfeindlichsten Gebieten der Erde», sagt Machguth. Wenn es stürmt, löst sich der Horizont im weissen Nichts auf, die Sicht verkürzt sich auf wenige Meter. Und der Schnee kriecht in alle Ritzen. Unter diesen Umständen lassen sich keine Experimente machen. Es gilt, im Zelt zu bleiben und das Ende des Sturms abzuwarten. Und danach, die Zelte aus dem Schnee zu graben. «In Grönland halten wir uns an das Motto: Der Eisschild gewinnt immer», so Machguth.

Einfach und effizient

Wenn sich im Sommer die Lufttemperaturen erwärmen, schmilzt ein Teil des Schnees auf der Oberfläche. Das Schmelzwasser folgt zuerst der Schwerkraft durch die Poren des Schnees. So gelangt es rasch bis zum Eis, das unter der Schneeschicht liegt. Doch auf dem Eis ändert sich die Fliessrichtung des Wassers, weil es nur sehr langsam weiter nach unten sickern kann.

Das Wasser beginnt deshalb seitwärts abzufliessen, indem es der ganz leichten Neigung folgt, die im Entstehungsgebiet der Schmelzwasserflüsse vorherrscht. Mit ihren Versuchen messen die Forschenden, wann wieviel Schmelzwasser entsteht – und wie schnell es abfliesst. Dabei hat das Team um Machguth kürzlich versucht, auch Drohnen einzusetzen. «Wir konnten damit einige Flüge machen, hatten dann aber viele Probleme», sagt Machguth. «Für mich sind einfache Messmethoden die zuverlässigsten.»

Mit Schneeschaufeln graben die Forschenden an einer Stelle die Schneeschicht weg, bis das darunterliegende Eis zum Vorschein kommt. Wenn das Team dann an der befreiten Stelle der Eisoberfläche etwas Salz ins sachte fliessende Wasser streut, erhöht sich die elektrische Leitfähigkeit, sobald sich das Salz auflöst und Ionen bildet. Doch allmählich fliessen diese Ionen mit dem Schmelzwasser weg, hinunter in Richtung des weit entfernten Meers. An ihrer Messstelle verfolgen die Forschenden, wie die elektrische Leitfähigkeit wieder sinkt – und berechnen daraus die Fliessgeschwindigkeit des Schmelzwassers.

© Valentin Rime

Erta Ale, Dépression du Danakil | 29.01.2019 | 14.2405°N, 40.2972°E

Aujourd’hui, nous avons réussi LA photo! Nous mesurions la topographie de l’Erta Ale avec une aile volante (le point orange sur le cratère) et nous avons pris le pari de la photographier avec un second drone juste au-dessus du cratère. Après avoir raté un premier décollage à cause du vent, nous avons réussi à capturer l’instant précis où l’aile volante se trouvait sur le cratère. Ce volcan est en activité constante, depuis le début des observations à la fin des années 1960 par un certain… Haroun Tazieff. Le cratère volcanique fait environ 120 m de diamètre. On aperçoit quelques géologues en haut à gauche du bord du cratère. Les laves qui entourent le cratère semblent encore en mouvement. Elles sont extrêmement fraîches, puisqu’elles datent d’une éruption de 2017.

Wo nur noch Flechten wachsen

Die Messung der elektrischen Leitfähigkeit spielt auch in den Forschungsarbeiten von Christian Hauck und seiner Gruppe eine grosse Rolle. Sie setzen solche Messungen jedoch nicht im unendlichen Weiss auf Grönland ein, sondern in verschiedenen Hochgebirgsketten der Erde. Weit oben, wo höchstens noch Flechten auf zerklüftetem Gestein und Geröll wachsen, halten die Forschenden nach Perma­frost Ausschau – also nach gefrorenem Wasser im Boden.

«Das ist wie eine Schatzsuche», sagt Hauck. Denn oft verraten sich Permafrost-Vorkommen nicht durch Anzeichen an der Oberfläche. Deshalb lassen sie sich – etwa im Unterschied zu vergletscherten Gebieten – auch nicht einfach mittels Satellitenbildern kartieren, sondern müssen eigens vor Ort aufgespürt werden. Mit verschiedenen so genannten geophysikalischen Methoden hat das Team um Hauck kürzlich herausgefunden, wie gross das Permafrost-Vorkommen in typischen Hochlagen der zentralen Anden in Chile und Argentinien ist.

An sechs Standorten, die zwischen 3500 und 5200 Meter über Meer liegen, haben die Forschenden während mehrjähriger Messkampagnen jeweils Dutzende Metallstäbe in den Boden geschlagen. Dann haben sie eine Spannung  zwischen den Stäben aufgebaut – und den elektrischen Widerstand im Untergrund gemessen. «Vom Prinzip her lässt sich das mit den Elektroden vergleichen, die an verschiedenen Stellen am Oberkörper angebracht werden, um den Anteil des Körperfetts zu bestimmen», sagt Hauck. Fett isoliert – und leitet den elektrischen Strom im Vergleich zum restlichen Gewebe im Körper viel schlechter weiter: Der Widerstand wächst, wenn der Fettanteil steigt. Bei den geophysikalischen Messmethoden steht die Leitfähigkeit von Wasser im Vordergrund. «In flüssigem Zustand ist Wasser ein guter Leiter», sagt Hauck. «Doch in festem, also gefrorenem Zustand, leitet es den Strom nur sehr schlecht weiter.»

Das Team um Hauck kombiniert die Vermessung des elektrischen Widerstands im Boden mit seismischen Messverfahren. Die Daten speisen die Forschenden dann in vereinfachte Modelle der Beschaffenheit des Untergrunds ein – und erhalten so jeweils die prozentualen Anteile an Eis, Wasser, Luft und Gestein im Boden. Zu ihrer grossen Überraschung sind die Forschenden auch in den trockenen Tälern der zentralen Anden auf «bedeutende Eisvorkommen gestossen, die in ihrer Summe viel grösser sind als bisher angenommen», sagt Hauck.

Unterirdischer Lavastrom aus Eis und Gestein

Denn bis anhin ging die Wissenschaft davon aus, dass sich das Eis im Untergrund vor allem in so genannten Blockgletschern befindet. Hauck beschreibt diese Landschaftsform als ein von Gesteinsblöcken überdeckter «Lavastrom aus Eis und Gestein», der langsam hangabwärts fliesst. Die Messdaten seines Forschungsteams belegen nun, dass auch ausserhalb der eisreichen Blockgletscher Permafrost vorhanden ist.

Trotzdem werden die Eisvorkommen nicht reichen, um den künftigen Wasserbedarf in der Region zu stillen, wenn die Gletscher alle weggeschmolzen sind, schätzt Hauck. Denn der Permafrost taut viel langsamer auf. «Einige Blockgletscher sind sehr alt», sagt Hauck. «Sie werden oft auch als thermisches Fossil bezeichnet, weil sie warme Perioden viel besser überstehen können als normale Gletscher aus Eis.»

Blockgletscher gibt es auch in den Alpen. Als nüchterner Wissenschaftler versucht Hauck, Spekulationen zu vermeiden. Nur zögerlich lässt er sich zur Aussage verleiten, dass auch hierzulande «die Blockgletscher im Wallis und im Engadin den Wassermangel eher nicht auffangen» werden, der sich mit dem Schwinden der Gletscher zusehends akzentuiert.

Obwohl Hauck und Machguth an sehr unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Themen forschen, stehen sie oft vor ähnlichen logistischen Herausforderungen. Die Kältewüsten der Kryosphäre liegen in sehr unzugänglichen Gebieten, weit abseits der menschlichen Zivilisation. «Wir suchen den Austausch, wenn es etwa darum geht, wie man an abgelegenen Orten ohne Internetanschluss grosse Datenmengen sammelt – und wie man sie dann übermittelt», sagt Hauck. Beide Forschungsgruppen verwenden auch ähnliche Methoden. «Wir bohren Löcher, und auch sie bohren Löcher», sagt Machguth. Deshalb stünden ihre Doktoranden und Mitarbeitenden oft auch vor eng miteinander verwandten Problemen, etwa bei der mathematischen Modellierung von schmelzendem Eis. Solche, oft auch unerwarteten Parallelitäten tauchen während den je einmal pro Woche stattfindenden Vorträgen der Institutsmitglieder immer wieder auf, bezeugen Hauck und Machguth.

Ob Blockgletscher die polaren Eisschilde überdauern oder umgekehrt, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Doch fest steht jedenfalls, dass die Kryosphäre vor enormen Umwälzungen steht, wie beide, Machguth und Hauck, betonen. «Die Prozesse, die uns interessieren und die für die Geschwindigkeit der Tauprozesse entscheidend sind, finden unterhalb der Oberfläche statt», sagt Hauck. «Doch beide Prozesse werden von Veränderungen an der Oberfläche unseres Planeten angetrieben», ergänzt Machguth.

Sogar wenn man die Entwicklung über die letzten 800’000 Jahre verfolge, seien die aktuellen Kohlendioxid Konzentrationen ein extremer Ausreisser, meint Machguth. «Das Schmelzen des Eisschilds lässt sich nur aufhalten, wenn die weltweiten CO2 Emissionen sinken.» Auch Hauck sieht einen dringenden Handlungsbedarf. Wenn die Menschheit nicht bald lernt, wie es sich leben lässt, ohne Unmengen von CO2 in die Luft zu pusten, wird es – «wohl schon in den nächsten hundert bis zweihundert Jahren», so Hauck – vielerorts auf unserem Planeten sehr ungemütlich. 

Unser Experte Horst Machguth ist Assistenzprofessor am Departement für Geowissenschaften der Unifr.

horst.machguth@unifr.ch

Unser Experte Christian Hauck ist Professor am Departement für Geowissenschaften der Unifr.

christian.hauck@unifr.ch