Dossier

Politische Freundschaften – darf man das?

Freundschaften werden in der Politik gerne mit Seilschaften assoziiert und haben keinen guten Ruf. Dabei ist Civic friendship in einer Demokratie durchaus salonfähig und politisch sinnvoll. 

«Der Begriff Freundschaft hatte im Zusammenhang mit Politik schon immer einen pejorativen Beigeschmack», sagt Nicolas Hayoz. Der Professor für Politikwissenschaften erklärt auch gleich, wieso: «Es gibt grosse Debatten darüber, ob Freundschaft in der Politik etwas zu suchen hat.» In der Realität ist Politik ohne Freundschaften allerdings kaum vorstellbar. Die Schweiz ist ein gutes Beispiel dafür, sie ist das Land der informellen Beziehungen, der Partei- und Gewerkschaftsfreund_innen. Die Grenze hin zu problematischen Freundschaften verläuft mitunter fliessend; wenn es um Machtspiele geht, Filz entsteht und bei der Postenbeschaffung auch die politische Couleur eine Rolle spielt, wie zuletzt bei Christian Levrats Nominierung zum Verwaltungsratspräsidenten der Schweizerischen Post. «Solche Dinge kann man bedauern und muss man im Auge behalten – aber eine Demokratie muss damit umgehen können.»

Negativbeispiel Russland

Ganz anders sieht es aus, wenn es um Machtmissbrauch geht. Eine klare Grenze wird dort gezogen, wo es um illegale Machenschaften geht, um Korruption etwa. Gerade in vielen südlichen und osteuropäischen Ländern ein verbreitetes Problem. «Nehmen wir zum Beispiel Wladimir Putins Freundschaften – sein ganzes System in Russland lebt von Beziehungen, bei denen sich bereichern kann, wer die richtigen Leute kennt.» Es sind asymmetrische Freundschaften, die in Richtung Klientelismus und Patronage gehen. Die Devise lautet: Wenn ihr mir helft zu gewinnen, kann ich euch in die richtige Position bringen.

Das Problem: Wenn in bestimmten Ländern immer mehr Geld vorhanden ist, steigt auch die Korruptionsgefahr. «Putin etwa steht so viel Geld zur Verfügung, dass er seine Freund_innen locker bei der Stange halten kann. Es lohnt sich für sie, hat aber seinen Preis – sie müssen liefern und schweigen. Demokratiepolitisch ist das natürlich fatal.» Nicht umsonst lautet in Russland ein Sprichwort, hundert Freund_innen seien wichtiger als hundert Rubel. «Doch wenn man nur über Beziehungen Ärzt_innen findet, die die kranke Mutter operieren, ist das problematisch.»

Aristoteles wiederentdeckt

Wann aber sind Freundschaften demokratiepolitisch sinnvoll? «Wenn es nicht um Macht geht, vielleicht sogar über Parteigrenzen hinaus Freundschaften entstehen. Wenn man gemeinsam schaut, dass das Ganze stimmt – also nicht die Eigeninteressen, sondern die kollektiven Interessen in den Vordergrund stellt. Damit nähern wir uns bereits der zivilen Freundschaft an», erklärt Hayoz.

Der Begriff Civic Friendship, ins Deutsche mal mit «politische Freundschaft», mal mit «zivile Freundschaft» übersetzt, hat in den letzten Jahren in der Politikwissenschaft an Bedeutung gewonnen. Es ist eine eher abstrakte Vorstellung von Freundschaft, die der politischen Philosophie entstammt. «Sie wurde lange vernachlässigt, dabei sagte bereits Aristoteles, Freundschaft solle etwas sein, das auch in Richtung einer guten Beziehung unter den Bürger_innen gehe.» Nicolas Hayoz findet den Begriff ein gutes Konstrukt, um demokratiefeindlichen Entwicklungen entgegenzustellen. «Die Demokratien stehen vielerorts unter Druck, werden herausgefordert von mächtigen Gruppen, die eine nationalistische Konzeption vertreten. Das ist in Polen und Ungarn genauso der Fall, wie in den USA. Auch in der Schweiz sind Teile der Bevölkerung nationalistisch orientiert.» Nationalismus und Populismus funktionieren immer über Abgrenzung und Ausschluss, egal ob von Andersdenkenden oder von Ausländer_innen. Sie sind damit das Gegenteil von ziviler Freundschaft, die für Öffnung, Integration und Rücksichtnahme steht. «Wir leben in einer anonymisierten Gesellschaft, in der Freundschaft im öffentlichen Raum marginalisiert und völlig privatisiert wird.» Hier setzt der Begriff der politischen Freundschaft an, um zu versuchen, die Beziehung zwischen mehrheitlich Fremden dennoch auszudrücken. Statt eine Gesellschaft im extrem liberalen, egozentrischen Sinn zu betrachten, in der alle bloss für sich selbst schauen, bietet er eine normative Vorstellung von einer Gesellschaft, die auf gemeinsamen Werten aufbaut.

 

©KEYSTONE SDA | «The A-Team»
Warum haben Ausländer_innen kein Stimmrecht?

Civic Friendship unterscheidet sich von ähnlichen Begriffen wie Solidarität, Zivilgesellschaft oder Vertrauen. «Der Begriff hat den Vorteil, dass die Mitmenschen als mögliche Freund_innen betrachtet werden, die potenziell gemeinsame Werte vertreten. Und wenn das nicht der Fall ist, ist es eine Einladung, um sich zu fragen: Was können wir machen, um einen gemeinsamen Standpunkt zu finden? Was macht uns gemeinsam aus?» Nicolas Hayoz schiebt als Denkanstoss weitere Fragen nach, die sich in diesem Zusammenhang in der Schweiz aufdrängen: Schliessen wir in diese Freundschaft nur diejenigen mit ein, die den Schweizer Pass haben? Was ist mit den zwei Millionen Ausländer_innen? Sollten die nicht ebenfalls das Stimmrecht erhalten? Was können wir sonst tun, um sie möglichst gut zu integrieren? Und was ist mit den jungen Menschen? Würde womöglich eine Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre dabei helfen, sie als Partner_innen ins Boot zu holen?

Problematische Ungleichheit

Populismus und Nationalismus sind nicht die einzigen Gefahren, denen die zivile Freundschaft ausgesetzt ist. Auch im Zusammenhang mit dem Kapitalismus drängen sich Fragen auf. «Ungleichheit ist Gift», sagt Hayoz. Genau wie Individualismus und Liberalismus. «Obwohl ich selbst ein liberaler Mensch bin, sehe ich ein, dass der Liberalismus korrigiert werden muss. Es braucht eine Antwort auf die Frage, wie wir in Zeiten, in denen alles immer mehr auseinanderdriftet, trotzdem so etwas wie Gemeinsinn bewahren.» Wichtig sei, sich nicht bloss auf sein eigenes Gärtchen zu konzentrieren. «Ich habe in meinem Umfeld schon Menschen sagen gehört, die besten Nachbar_innen seien diejenigen, die man nie sehe. Das sind natürlich nicht beste Voraussetzungen», sagt Hayoz und lacht.

Ähnliche Denkmuster sind in sogenannten «warmen» Gesellschaften erkennbar, in denen nur die eigene Familie zählt und Loyalität im Vordergrund steht. «Das sind meist dieselben Länder, die auf politischer Ebene keinen Gemeinsinn entwickeln und nicht mit Opposition und Dissidenz umgehen können.»

Gefährliche Cancel Culture

Civic Friendship basiert auf Dialog. Klar deshalb, dass ihr auch die Cancel Culture schlecht bekommt. «Die Idee der zivilen Freundschaft besteht ja darin, Werte zu finden, die man teilen kann – auch wenn man noch so lange suchen muss. Das funktioniert natürlich nicht, wenn man andere als Idiot_innen betrachtet, die man mundtot machen und bestrafen muss, nur weil einem die Äusserungen nicht passen.» Tendenzen hin zu einer Zensurkultur sind gefährlich, zu wichtig ist es demokratiepolitisch, auch mit anderen Meinungen umgehen zu können. Ohne diese Fähigkeit droht eine Gesellschaft, in der nur innerhalb von Blasen kommuniziert wird. «Dann befinden sich zwar alle in einem schönen, homogenen Raum, in dem alles wattiert ist und niemand aneckt. Die Idee von Gemeinwohl und gemeinsamer Orientierung geht ohne Meinungsaustausch im öffentlichen Raum allerdings früher oder später verloren.» Die Gesellschaft droht sich dann in ein Nebeneinander von verschiedenen Gemeinschaften aufzulösen, die nichts miteinander zu tun haben.

Frauenbewegungen als positive Beispiele

Stellt sich die Frage: Wie können Bürger_innen all diesen Gefahren entgegenwirken? «Vereine und Verbände sind freundschaftsähnliche Gebilde, in denen unser Gemeinsinn trainiert wird.» Ständig entstehen auch neue Bewegungen. Wie wichtig diese in einer Demokratie sein können, zeigt allein schon die Tatsache, dass autoritäre Regimes sie mit Repression unbedingt verhindern wollen – nicht immer mit Erfolg. «In Belarus haben Tausende Frauen unter extremen Bedingungen die Kraft der zivilen Freundschaft entdeckt.» Wesentlich einfacher haben es die Bürger_innen in funktionierenden Demokratien, wichtig ist ihr Beitrag aber auch dort. «Dass die Jungen und die Frauen in der Schweiz mehr und mehr auf ihre Anliegen aufmerksam machen, ist sehr erfreulich. Solche Bewegungen braucht es auch in Zukunft – deshalb ist politische Bildung so wichtig.»

 

Unsere Experte Nicolas Hayoz ist Politikwissenschaftler und Professor am Departement für Europa­studien und Slawistik.

nicolas.hayoz@unifr.ch