Dossier

Gute Freundschaft, schlechte Freundschaft

Warum sind Freundschaften für Jugendliche wichtig? Wann können sie gefährlich werden? Wer ist besonders beeinflussbar? Und welche Rolle spielen die sozialen Medien? Christoph Müller, Professor für Sonderpädagogik, gibt im Interview Antworten.

Christoph Müller, was verstehen Sie unter Freundschaft?

Es gibt verschiedene Merkmale, die eine Freundschaft definieren. Freundschaften sind immer freiwillig, das ist ein entscheidender Unterschied zu Familienbeziehungen, die man sich nicht aussuchen kann. Zudem besteht eine emotionale Nähe. Ebenfalls wichtig: Freundschaften beruhen auf Gegenseitigkeit.

Welche Rolle spielen Freundschaften in der Entwicklung von Jugendlichen?

Eine sehr wichtige! In der Jugend stehen körperlich und geistig grosse Umbrüche an, gleichzeitig werden wichtige Entscheide gefällt, was die Zukunft betrifft. In dieser Situation bieten Freund_innen eine interessante Alternative zu der Perspektive der Eltern. Freundschaften bieten aus­serhalb der Erwachsenenwelt einen geschützten Raum, in dem Jugendliche experimentieren können – auch mit Identitäten. Wollen sie eher zu den Punks in der Klasse gehören? Oder doch zu den Sportbegeisterten? Dieses Ausprobieren ist wichtig für die Entwicklung einer eigenen Identität.

In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft wird es teils auch als negativ empfunden, sich einer Gruppe zuzuordnen. Zu Unrecht?

Das kommt natürlich auf die Gruppe an. Aber grundsätzlich bieten Gruppen Jugendlichen viele Möglichkeiten, Sachen voneinander zu lernen – zu kooperieren zum Beispiel, Kompromisse einzugehen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Dadurch erleben Jugendliche Selbstwirksamkeit. Wenn sie sich etwa via Musik, Sport oder einer Umweltschutzbewegung zu einer grösseren sozialen Identität zusammenfügen, ist das gut für ihr Selbstbewusstsein. Man weiss auch, dass Freundschaften gegen Mobbing schützen. Problematisch ist es, wenn Gruppen sehr hierarchisch sind und wenige Figuren alles bestimmen, während der Rest gehorchen muss.

Es ist davon auszugehen, dass sich Jugendliche gegenseitig nicht nur positive Dinge abschauen.

Tatsächlich kann sowohl prosoziales als auch antisoziales Verhalten gefördert werden. Prosozial ist ein Verhalten, wenn es helfend und unterstützend ist. Zu antisozialem Verhalten zählen beispielsweise Aggression und Delinquenz. Studien zeigen, dass in beiden Bereichen die Peergruppen und speziell die Freund_innen eine wichtige Rolle spielen. Anders als Kinder befinden sich Jugendliche während eines Grossteils ihres Alltags unter Peers, sei es in der Schule oder in der Freizeit. Dadurch entstehen prägende Lernerfahrungen und soziale Vergleiche.

Was entscheidet darüber, welches Verhalten gefördert wird?

Beim Peereinfluss muss unterschieden werden zwischen Selektion und Sozialisation.

Beginnen wir bei der Selektion. Was entscheidet darüber, mit wem Jugendliche befreundet sind?

Das wird erst mal durch die Begebenheiten vor Ort bestimmt. Das kann in der Nachbarschaft sein oder in der Schule. Der wichtigste Ort zum Aufbau von Freundschaften ist in der Jugend die Schulklasse. Es geht sogar so weit, dass die Sitzposition in der Klasse eine Rolle spielt, weil diese beeinflusst, mit wem man viel Kontakt hat. Innerhalb dieses Kontexts hat dann durchaus das Sprichwort «Gleich und gleich gesellt sich gern» seine Richtigkeit. Wer ähnliche Verhaltensweisen und Interessen aufweist, findet sich eher. Es kann aber auch andere Beweggründe geben, etwa, dass sich Jugendliche erhoffen, von einer Freundschaft zu profitieren, weil die andere Person einen höheren Status hat.

Und wie wird im Zuge der Sozialisation prosoziales oder antisoziales Verhalten gefördert?

Ein wichtiger Mechanismus ist das Lernen am Modell. Häufig imitieren Jugendliche ein Verhalten, bei dem sie beobachten, dass es zu Erfolg führt. Zweiter wichtiger Mechanismus ist das Verstärkungslernen. Viele Studien zeigen, dass sich Jugendliche im Bereich von antisozialem Verhalten in Gesprächen gegenseitig verstärken. Wenn zwei Personen stark antisoziales Verhalten zeigen, macht die eine vielleicht einen Witz mit einer Gewaltfantasie. Die andere lacht, setzt eins obendrauf – und so schaukeln sie sich gegenseitig hoch. Interessant ist, dass sich dieselbe Dynamik auch in Bezug auf ängstliches und depressives Verhalten zeigt, obwohl das eigentlich etwas ganz anderes ist als aggressives Verhalten. Auch dort kann in Freundschaften eine negative Spirale entstehen. Durch exzessives, nicht lösungsorientiertes Diskutieren eigener Probleme erleben Jugendliche zwar soziale Nähe, bestätigen sich manchmal aber auch gegenseitig in ihrem problematischen Verhalten.

Eltern wünschen sich für ihre Kinder die richtigen Freund_innen. Woran erkennen sie, welche Peers ihren Kindern guttun?

Es gibt beispielsweise zwei Bereiche, auf die Jugendliche selbst oder auch Eltern bei der Beurteilung von Freundschaften achten können: Der erste ist das Befinden. Wenn Eltern wahrnehmen, dass ihr Kind nach dem Kontakt mit den Freund_innen bedrückt nach Hause kommt, sich zurückzieht, unterdrückt fühlt, dann ist das der Moment, sich zu fragen: Was ist los? Der zweite Punkt ist das Verhalten. Merkt man, Jugendliche gehen in einer Freundschaft auf, entwickeln neue Kompetenzen oder erweitern ihr Interessenfeld, sind das positive Zeichen.

Sollten Eltern versuchen Einfluss auf die Auswahl der Freund_innen Jugendlicher zu nehmen?

In der Kindheit spielen Eltern eine grosse Rolle bei der Auswahl der Peers, weil sie im Alltag des Kindes fast alles strukturieren. In der Jugend lässt dieser Einfluss nach und das ist auch erst einmal gut so. Es ist eine Entwicklungsaufgabe, dass Jugendliche lernen, positive Beziehungen aufzubauen, Freund_innen zu suchen, Konflikte zu haben, diese auszuhalten und zu lösen. Gleichzeitig ist es nachvollziehbar und eigentlich auch gut, dass sich Eltern Sorgen machen oder Hoffnungen haben. Haben sie das Gefühl, Jugendliche rutschen ab in eine delinquente Laufbahn, sollten sie selbstverständlich versuchen, das zu verhindern.

Wie sollten sie dabei vorgehen?

Was die Forschung ganz klar zeigt: Drakonische Strafen und nur Verbote sind keine Lösung. Am problematischsten ist, wenn sich Jugendliche komplett verschliessen, den Eltern nichts mehr erzählen, sich über Verbote hinwegsetzen und unerreichbar werden. Deshalb sollte vielmehr in die Beziehung zum eigenen Kind investiert werden. Wichtig ist, dass immer Raum dafür bleibt, wo Jugendliche ohne
Vorverurteilung auf die Eltern zukommen können. Grundsätzlich können Eltern Jugendliche ermutigen, Freundschaften zu suchen, und ihnen Tipps geben – basierend auf den Interessen und darauf, was die Kinder gut können. Wenn sich jemand für Joggen interessiert, kann man aufzeigen, wo es einen Lauftreff gibt. So finden Jugendliche Gleichgesinnte – auch in einem strukturierten Kontext.

 

© KEYSTONE SDA | «Finding Nemo»

Wie gross ist der Einfluss von Peers – etwa im Vergleich zu demjenigen der Eltern?

Das unterscheidet sich je nach Bereich stark. Eltern bleiben auch in der Jugend sehr einflussreich für gewichtige Fragen, was die Zukunft betrifft, in Sachen Berufswahl zum Beispiel. Peers sind sehr wichtig im Bereich Sozialverhalten und bei Fragen von sozialen Beziehungen. Was gilt als cool? Was als uncool? Dazu gehören auch Konsumentscheidungen. Was kauft man? Was nicht? Jugendliche orientieren sich dabei stark an den Normen, die innerhalb einer Gruppe herrschen. Diese repräsentieren eine Art typisches Verhalten der Gruppe. Wer von dem zu stark abweicht, muss Sanktionen befürchten durch die Peers und droht, weniger populär zu sein. Das Verhalten vieler Jugendlicher ist deshalb stark auf Konformität zu bestimmten Peergruppen ausgerichtet.

In welchem Alter sind Jugendliche besonders beeinflussbar?

Zwischen 11 und 16 Jahren gibt es einen Peak. Durch die allmähliche Ablösung von den Eltern entstehen Unsicherheit und der Wunsch nach Orientierung. Zudem konnte auch neurologisch aufgezeigt werden, dass das Gehirn in der Jugendphase eine besonders hohe Sensitivität für sozialen Vergleich und soziale Verstärkung aufweist. Kognitive Kontrollprozesse sind weniger stark ausgeprägt als später bei Erwachsenen. Deshalb steigt bei Jugendlichen die Risikobereitschaft, wenn sie unter Peers sind. In den USA hat zum Beispiel eine Studie aufgezeigt, dass Jugendliche viel mehr Autounfälle verursachen, wenn Peers im Auto dabei sind.

Welche Jugendlichen sind besonders beeinflussbar?

Unsere Studien in Bezug auf antisoziales Verhalten zeigen, dass erstens Jugendliche, die eine geringe Impulshemmung aufweisen – also Mühe haben, sich in einer dynamischen Situation zurückzuhalten – besonders beeinflussbar sind. Sie überlegen sich nicht, welche längerfristigen Konsequenzen es hat, mit den Peers mitzugehen. Zweitens haben wir auch aufgezeigt, dass risikobereite Jugendliche empfänglicher sind. Genau wie solche, die von sich berichteten, häufig unstrukturierten Freizeitaktivitäten nachzugehen – zum Beispiel im Park abhängen. Was ich sehr interessant finde: In unserer Studie hat sich gezeigt, dass Jugendliche, die von den anderen als cool und sozial dominant empfunden werden, selber stärker beeinflussbar sind als der Durchschnitt.

Warum ist das so?

Eine Erklärung könnte sein, dass sie als Entwicklungs­pioniere immer einen Tick voraus sein müssen. Sie müssen sich mehr trauen, aber nicht zu viel. Sie müssen also selbst schauen, was unter den Peers cool ist, was erwartet wird, weil auch ihr Verhalten letztlich darauf basiert. Die Leader haben also nicht nur viel Einfluss, sondern brauchen auch ein gutes Gespür für die Situation.

Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede?

In Bezug auf antisoziales Verhalten spielt das Geschlecht eine wichtige Rolle. Bei stark nach aussen gerichtetem antisozialem Verhalten sind Buben deutlich beeinflussbarer durch die Peers als Mädchen. Interessanterweise ist es beim ängstlich-depressiven Verhalten genau umgekehrt. Dort sind vor allem die Mädchen beeinflussbar. Aus der Forschung weiss man, dass es für Mädchen noch wichtiger ist, soziale Nähe zu erleben, viel Zeit miteinander zu verbringen, miteinander zu reden, während bei Buben das Freizeitverhalten stark auf Aktivitäten ausgerichtet ist. Von Buben wird antisoziales Verhalten oft als besonders männlich wahrgenommen und deshalb mehr zum Vergleich untereinander herbeigezogen.

Woher nehmen Jugendliche ihre Rollenvorbilder für Freundschaften – und welche Rolle spielen dabei Konsum und Statussymbole?

Bilder, die in den Medien transportiert werden, haben natürlich einen Einfluss auf ihr Verhalten, ihre Einstellungen und ihre Wünsche. Zwischen den Jugendlichen sind Statussymbole ein Mittel von vielen, um die Identität auszudrücken. Man kann explizit sehr viel Wert auf Statussymbole legen, zum Beispiel bestimmte Markenkleider tragen. Man kann aber auch komplett dagegen sein. Beides ist eine Möglichkeit, sich gemeinzumachen mit einer Gruppe und gleichzeitig von anderen abzugrenzen. Grundsätzlich weiss man aber schon, dass soziale Statussymbole zu besitzen auch mit höherer Popularität korreliert.

Inwiefern haben die sozialen Medien Peerbeziehungen verändert?

Ein ganz grosser Unterschied ist: Jugendliche nehmen ihre Peers heute mit nach Hause. Sie können über soziale Medien auch um 23 Uhr im Bett noch miteinander kommunizieren. Das bietet viele positive Möglichkeiten. Vielleicht war es zu Hause schwierig und sie können sich noch austauschen. Aber es bedeutet auch, dass es schwieriger wird, abzuschalten. Dass selbst zu Hause nicht mal Ruhe ist mit Peers, kann anstrengend sein, gerade beim Thema Cybermobbing sogar sehr unangenehm. Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass soziale Medien nicht per se etwas Schlechtes sind. Wenn wirklich kommuniziert wird, hat das positive Effekte auf Freundschaften, sie sind dann stabiler und besser. Das zeigte sich auch während der Covid-­Pandemie. Wenn Jugendliche mit ihren Freund_innen über soziale Medien weiterhin kommunizierten, hatte das positive Effekte auf ihre psychische Gesundheit.

Erhöht sich durch das Internet und die sozialen Medien aber nicht auch die Gefahr, dass problematisches Verhalten verstärkt wird? Ein Hooligan wird in einschlägigen Foren problemlos andere Hooligans finden.

Das Risiko solcher Foren ist, dass es nur wenige Gegenstimmen gibt. In Bezug auf ungünstige Verhaltensweisen kann so ein Rückzug in eine soziale Blase deshalb problematisch sein. Das Internet bietet in Sachen Freundschaft viele Chancen – sollte aber nicht zum Rückzug in kleine Kreise führen.

Welchen Einfluss auf Freundschaften haben Plattformen wie Instagram, auf denen Jugendliche nicht in erster Linie direkt miteinander-, sondern eher über Bilder kommunizieren?

Auch hier kann positiver Austausch geschehen. Wenn soziale Medien jedoch nur zum sozialen Vergleich untereinander eingesetzt werden, kann das ungünstige Auswirkungen haben. Vor allem dann, wenn sich Jugendliche dadurch nur mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten beschäftigen. Im Bereich des Peereinflusses gibt es Studien, die zeigen, dass Jugendliche schon durch die Anzahl Likes beeinflusst werden in Bezug auf verschiedene Verhaltensweisen. Auch wenn Freund_innen Bilder posten, wie sie rauchen und trinken, kann dies zu Verhaltensänderungen von Jugendlichen beitragen. Insgesamt ist allerdings wichtig: Peereinfluss ist immer nur einer von sehr vielen Faktoren, welche
die Entwicklung von Jugendlichen prägen.

 

 

Unser Experte Christoph Müller ist Professor für Sonderpädagogik an der Universität Freiburg und verantwortlich für das deutschsprachige Studienprogramm Master of Arts in Sonderpädagogik / Vertiefungsrichtung Schulische Heilpädagogik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Peereinfluss, Verhaltensprobleme, geistige Behinderung und Autismus.

christoph.mueller@unifr.ch