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Taktgeber der inneren Uhren

Jede einzelne Zelle in unserem Körper hat eine innere Uhr. Für die Synchronisation sorgt die Hauptuhr im Gehirn. Das Wissen über die genauen Abläufe soll nun auch bei der Behandlung von Depressionen helfen, erklärt Biochemiker Urs Albrecht.

Wenn der Mittag naht, kriegen wir Hunger, am Abend werden wir müde. «Dass es so etwas wie eine innere Uhr gibt, wussten die Menschen schon vor hundert Jahren», sagt Urs Albrecht. Er ist Professor am Departement für Biologie der Universität Freiburg und forscht seit 23 Jahren auf dem Gebiet. Albrecht hat sich der Aufgabe verschrieben, durch Experimente wissenschaftlich zu fundieren, was uns unser Bauchgefühl oft bereits vermuten lässt. Es «molekular und mechanistisch zu fassen», wie er sagt.

Alles hat seine Zeit

Um zu verstehen, wie die innere Uhr genau funktioniert, experimentierten Forschende in den 1970er Jahren zunächst mit Fliegen, ehe sie in den Neunzigern bei Mäusen und Menschen begannen, Uhren-Gene zu entdecken. «Mittlerweile wissen wir, dass es in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers eine solche innere Uhr hat. Sie besteht aus Genen und Proteinen, die miteinander interagieren.» Alles hat seine Zeit, jeden Tag beginnt alles neu. Der Kreislauf der Expression – der Produktion und des Abbaus der Proteine – dauert ungefähr 24 Stunden. «Wir sind ein grosser Uhrenladen», sagt Albrecht und weist darauf hin, dass das zu Problemen führen kann. «Wenn ich um 9 Uhr mit einem Freund abmache, treffe ich ihn nur pünktlich, wenn unsere Uhren die gleiche Zeit anzeigen.» Deshalb gibt es Atomuhren, die dazu dienen, die Uhren zu synchronisieren.

Auch der Körper hat eine Schaltzentrale, die für die Synchronisation der inneren Uhren zuständig ist: das Gehirn. Die Hauptuhr sitzt ganz im Zentrum, im suprachiasmatischen Nukleus (SCN), unter dem Hypothalamus, gleich über dem optischen Chiasma. «Diese Hauptuhr taktet alle anderen Uhren. Das Gehirn sagt zum Beispiel: Jetzt ist es in der Leber Zeit für Metabolismus, wir brauchen Energie.»

Das Gehirn korrigiert ständig

Nun ist es für uns Menschen nicht sinnvoll, als isolierte Zeitsysteme herumzulaufen. «Wir müssen uns ja auch unserer Umwelt anpassen. Um die Prozesse im Innern des Körpers zu koordinieren, muss die Hauptuhr im Gehirn deshalb immer auch wissen, wie es zeitlich um uns herum aussieht.» Darum ist der SCN empfindlich auf Licht. Konkret projizieren spezielle Nervenzellen – Intrinsically photosensitive retinal ganglion cells genannt – vom Auge direkt in den SCN die Information, ob wir Licht oder Dunkelheit sehen. Damit kann unser Gehirn die zahlreichen Uhren im Körper mit der Umgebung synchronisieren. Weil der Zyklus der inneren Uhr beim Menschen einen Tick länger dauert als 24 Stunden, korrigiert die Hauptuhr im Gehirn dank der Lichtinformationen die Uhr jeden Tag um eine bis zwei Minuten. Sie ermöglicht aber auch grössere Korrekturen. «Fliegen wir in die USA, passt sich unser Körper via Zentraluhr über die Lichtsignale Schritt für Schritt an. Insgesamt dauert das aber etwa eine Woche. Bis dahin haben wir einen Jetlag.»

Gefahren des modernen Lebensstils

Der Jetlag ist das gängigste Beispiel, bei dem wir erleben, was passiert, wenn unsere innere Uhr durcheinandergerät. Wir sind müde, gereizt und unkonzentriert. Entsprechend wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden sei ein getaktetes Leben, sagt Urs Albrecht. «Da sagt zum Beispiel der Körper: ‘Es ist Abend, wir müssen die Zellen reparieren oder eliminieren.’ Das ist wichtig, weil sie sonst entarten und dadurch zum Beispiel Krebszellen entstehen können. Wird nun das Zeitsystem durcheinandergebracht, wird die Reparatur verschoben, im schlechtesten Fall auf den Sankt Nimmerleinstag. Dadurch steigt das Risiko, Krankheiten
zu entwickeln.» Ein konkretes Beispiel: Die innere Uhr reguliert die Zellerneuerung der Haut. Reise ich nun nach Australien und lege mich dort gleich an die Sonne, ist das UV-Licht besonders gefährlich, weil sich die Haut im Nachtmodus befindet und die Zellschädigung um diese Zeit wesentlich grösser ist.

 

© Nadja Baltensweiler

Es muss aber nicht immer eine Reise in eine andere Zeitzone sein, um unsere Uhr durcheinanderzubringen. Der moderne Lebensstil birgt zahlreiche Gefahren. Das blaue Licht der Bildschirme etwa, nicht zuletzt durch Handys omnipräsent, unterdrückt das Schlafhormon Melatonin. «Am Abend lange auf einen Bildschirm zu starren ist deshalb alles andere als ideal.» Erst recht, wenn es mit «verstreutem Snacken», wie Albrecht es nennt, verbunden wird. «Wir kommen nach Hause, setzen uns vor den TV, wo in der Werbung mit Pizza, Chips und Schokolade unser Belohnungssystem im Gehirn getriggert wird. Wir essen, ohne wirklich Hunger zu haben. Wo soll der Körper in der Nacht mit dieser Energie hin? Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie zu speichern.» Auch für Nahrungsaufnahme und Verdauung gibt es eine vorgesehene Zeit, Volkskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes haben deshalb auch mit dem Durcheinanderbringen der inneren Uhr zu tun.

Urs Albrecht will nicht alarmistisch sein, ab und zu seien solche Störungen kein Problem. «Aber wenn die Uhr chronisch durcheinandergerät eben schon, dann wird der Prozess zerstückelt, der innere Zusammenhalt schwindet, die Koordination wird schwieriger.» Er vergleicht es mit einem Kind in der Schule, das ständig abgelenkt wird. «Es versucht dann trotzdem, alles irgendwie zu machen, aber womöglich alles gleichzeitig und nichts richtig.»

Uhren-Gene gegen Depressionen

Mit ihrer Forschung versuchen Albrecht und sein Team nicht nur das Bewusstsein für die Vorgänge zu stärken, sondern auch Wege zu finden, die durcheinandergeratenen Prozesse wiederherzustellen oder sogar zu optimieren. Derzeit untersuchen sie die Zusammenhänge zwischen der inneren Uhr und dem Wohlbefinden. «Leute, die oft zwischen den Zeitzonen hin- und herreisen, tragen am Morgen eine Sonnenbrille. Sie wissen, dass Licht zum falschen Zeitpunkt den Jetlag verstärken und zu Sehstörungen und Verwirrtheit im Kopf führen kann.» Der SCN ist nicht die einzige Region im Gehirn, die lichtsensitiv ist, auch Regionen, die das Wohlbefinden und das Belohnungssystem regulieren, sind es. «Licht zum falschen Zeitpunkt kann leichte Depressionen auslösen, zum richtigen Zeitpunkt diese aber auch unterdrücken. Wir sind zurzeit daran, bei Mäusen mit Lichtbehandlungen depressive Effekte aufzuheben.» Und zwar, indem ihre innere Uhr nach vorne geschoben wird. Einmal pro Woche werden sie um vier Uhr morgens 30 bis 60 Minuten lang starkem Licht ausgesetzt. Dadurch wird nicht nur das Uhren-Gen im SCN induziert, sondern auch ein Uhren-Gen in einer anderen Hirnregion, der Habenula, angestellt. Das Spezielle an diesem Gen: Es reagiert nur spät in der Nacht, beziehungsweise früh am Morgen. «Wird es aber angestellt, sorgt es dafür, dass sich das Wohlbefinden verbessert.»

Depressionen können auch im Zusammenhang mit den Uhren-Genen stehen, davon ist Albrecht überzeugt. «Je nachdem, welches Gen wir bei den Mäusen herausnehmen, reagieren sie nicht mehr auf Licht und werden stark depressiv.» Eine Erkenntnis, die auch für Therapien bei Menschen wertvoll sein könnte. «Sie kann dabei helfen, gewisse Formen von Depressionen abzuschwächen.» Er denkt da vor allem an den seasonal affective disorder, der im Winter entstehen kann, wenn die Tage kurz sind. Das Belohnungssystem im Gehirn schüttet unter anderem den Neurotransmitter Dopamin aus, im Volksmund auch bekannt als Glückshormon. Die Menge variiert je nach Tageszeit. Leute, die depressiv sind, weisen aus biochemischen Gründen oft ein niedriges Level davon auf. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Ausschüttung zu erhöhen: etwa durch Psychopharmaka, Alkohol, Drogen oder körperliche Aktivität. Die meisten sind jedoch nicht nachhaltig und haben Nebenwirkungen. «Licht ist eine billige und gesunde Alternative. Zur ungewöhnlichen Zeit präzise eingesetzt, kann es die Amplitude der Neurotransmitter verbessern – das System also boosten und dafür sorgen, dass wir uns besser fühlen.»

 

Unser Experte Urs Albrecht  ist Professor am Departement für Biologie der Universität Freiburg. Die Forschung an der inneren Uhr gehört seit 23 Jahren zu den Kerngebieten des Biochemikers.

urs.albrecht@unifr.ch