Dossier

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Ob wir etwas bewusst wahrnehmen oder nicht, hängt mit den Sinnesorganen und dem Gehirn zusammen. Aber nicht nur. Auch körperliche Vorgänge wie der Herzschlag und die Atmung spielen eine Rolle. Welche genau, untersucht Juliane Britz mit ihrem Team.

Die Versuchsperson trägt eine Art Badekappe mit 128 Elektroden. Zwei weitere sind aufs rechte Schlüsselbein und den linken unteren Rippenbogen geklebt. Unterhalb der Rippen ist der Atemgürtel befestigt, ein Gummiband, in dem einiges an teurer Elektronik steckt. Diese Geräte zeichnen auf, was Hirn, Herz und Atmungsorgane tun. Damit die Signale nicht verfälscht werden, sitzt der verkabelte Mensch in einer elektromagnetisch abgeschirmten Kabine ohne Tageslicht im Keller des Psychologiegebäudes. Vor sich hat er einen Bildschirm, auf dem jeweils für wenige Millisekunden graue Quadrate eingeblendet werden. Sie sind mehr oder weniger deutlich schraffiert, wobei die Linien entweder nach rechts oder links oben zeigen. Die Versuchsperson gibt auf einer Tastatur zuerst links oder rechts ein und danach, ob sie die Ausrichtung wirklich gesehen oder nur geraten hat. Die visuellen Reize sind so gesetzt, dass sie an der Wahrnehmungsschwelle liegen. Das heisst, die Versuchsperson kann die Orientierung der Schraffur nur in der Hälfte der gezeigten Quadrate überhaupt erkennen.

Faszinierende Phänomene

Dieses Experiment ist Teil des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts «Brain, Body and Consciousness», das von der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Juliane Britz geleitet wird. Sie möchte herausfinden, welche Rollen Gehirn und Körper bei der bewussten Wahrnehmung der Umwelt spielen. Dass beide eine Rolle spielen, ist bekannt, offen ist die Frage, ob und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. «Für dieses Zusammenspiel interessieren wir uns», sagt Britz. Um zu verstehen, wie die Forscherin vorgeht, hier eine kurze Nachhilfelektion in Wahrnehmungsphysiologie: Sinnesorgane registrieren einen Reiz visueller, akustischer, taktiler oder olfaktorischer Art und wandeln ihn in elektrische Signale um. Diese werden vom Hirn verarbeitet und – meist – bewusst wahrgenommen.

Der gleiche Stimulus führt dabei oft zur gleichen Wahrnehmung. Es gibt aber ein paar Beispiele, in denen dies nicht der Fall ist. Sie sind für die Forschung besonders interessant. Bekannt ist etwa die Rubin’sche Vase. Wir sehen entweder eine Vase oder zwei sich zugewandte Gesichter im Profil. Es ist unmöglich beides gleichzeitig wahrzunehmen und so wechseln die Bilder in unserem Kopf von Zeit zu Zeit. Der Wechsel kann nur bedingt gesteuert und nicht willentlich unterdrückt werden. Dieses Phänomen wird als multistabile Wahrnehmung bezeichnet. Ein zweites Beispiel ist die sogenannte binokulare Rivalität: Wenn einem Auge ein ganz anderes Bild präsentiert wird als dem anderen, sehen wir immer nur eines.

 

© Nadja Baltensweiler
Sehen oder nicht sehen

Die Schwellenstimuli im eingangs beschriebenen Experiment sind ein dritter, verwandter Fall. Hier springt unsere Wahrnehmung nicht zwischen zwei Bildern hin und her, sondern zwischen Sehen und Nicht-Sehen. Die Elektroden in der Badekappe zeichnen auf, was dabei im Gehirn passiert. Vereinfacht lässt sich sagen, dass das Elektroenzephalogramm (EEG) etwas stärker ausschlägt bei Stimuli, die es in unser Bewusstsein schaffen. Einen Ausschlag gibt es aber auch bei jenen, die wir nicht bewusst wahrnehmen.

Juliane Britz ist in früheren Experimenten der Frage nachgegangen, woran es liegen könnte, dass wir bei multistabiler Wahrnehmung einmal das eine und dann wieder das andere Bild sehen und wann wir einen Schwellenstimulus erkennen und wann nicht. «Ich konnte zeigen, dass es vom Zustand des Gehirns kurz vor dem visuellen Stimulus abhängt.» Eine Erkenntnis, die nicht zu den gängigen Vorstellungen in der kognitiven Neurowissenschaft passen will. «Traditionell wird die Hintergrundaktivität des Gehirns, die nicht durch die Stimulusverarbeitung entsteht, als ‘Rauschen’ rausgemittelt», erklärt Britz. Die herkömmliche Frage laute: Was macht ein Stimulus mit dem Hirn? «Wir fragen: Was macht das Hirn mit dem Stimulus.» Das Hirn reagiert nicht nur, sondern agiert auch aus sich heraus.

Auf den ersten Blick mag das überraschen. Sieht man sich jedoch an, was in unserem Oberstübchen so alles abgeht, erscheint es plausibler. Die Aktivität, die es entwickelt, um etwa einen bestimmten visuellen Reiz zu verarbeiten, macht lediglich zwischen einem und fünf Prozent der gesamten Hirnaktivität aus. Da liegt die Frage nahe, welche Bedeutung der grosse Rest hat. Ist das wirklich bloss diffuses Rauschen im Hintergrund oder ist es für das Bearbeiten einer Aufgabe relevant? Britz vermutete Letzteres und konnte das experimentell auch zeigen: «Das Gehirn bestimmt die unterschiedliche Wahrnehmung des gleichen Stimulus.» Es liegt also am Gehirn, ob wir eine Vase sehen oder ein Gesicht und ob wir erkennen, in welche Richtung eine Schraffur zeigt.

Die Herz-Hirn-Connection

Daran schliesst sich die nächste Frage an: Wer oder was bestimmt, in welchem Grundzustand sich ein Gehirn befindet? Der «Hauptverdächtige» liegt nahe: «Das Gehirn ist unentwirrbar mit dem Rest des Körpers verbunden», sagt Britz. Körperliche Funktionen könnten demnach auch die visuelle Wahrnehmung beeinflussen. Auf den Konjunktiv kann man inzwischen verzichten. In verschiedenen Studien hat man die Messwerte von Hirn und Herz übereinandergelegt und interessante Zusammenhänge gefunden. Zum Beispiel, dass Versuchspersonen Schwellenreize häufiger erkennen, wenn sich das Herz entspannt (Diastole) als wenn es sich zusammenzieht (Systole). Mit anderen Worten: Das Herz bestimmt mit, ob wir etwas sehen. Was physiologisch hinter diesen Vorgängen steckt, ist bekannt. Druckrezeptoren im Aortabogen und der Halsschlagader sind in der systolischen Phase aktiv und behindern die Verarbeitung visueller Reize. Viviana Leupin, die Doktorandin von Juliane Britz, arbeitete in ihrer preisgekrönten Masterarbeit ebenfalls mit dem Herzzyklus, wählte aber einen anderen Ansatz: Sie untersuchte die Reaktion des Hirns auf den Herzschlag und konnte aufgrund dessen vorhersagen, ob ein darauffolgender Stimulus wahrgenommen wurde oder nicht.

Mit Hirn, Herz und Atem

Ähnliche Zusammenhänge wurden zwischen Atem und Wahrnehmung gefunden. Menschen nehmen visuelle Stimuli, die ihnen kurz präsentiert werden, beim Ausatmen besser wahr. Bilder von verängstigten Gesichtern hingegen werden beim Einatmen schneller erkannt. Allerdings nur, wenn durch die Nase eingeatmet wird.

Diese Resultate zeigen, dass körperliche Rhythmen wie der Herzschlag und der Atem die bewusste Wahrnehmung beeinflussen. Wie das aber genau geschieht, ist nicht klar. Vertrackt ist die Situation unter anderem deshalb, weil die körperlichen Rhythmen nicht nur das Gehirn beeinflussen, sondern auch sich untereinander. Das macht es schwierig, direkte und indirekte Effekte auseinanderzuhalten. Mit raffiniert designten Experimenten, bei denen Gehirn-, Herz- und Atmungsaktivitäten gleichzeitig gemessen werden, will das Projekt «Brain, Body and Consciousness» genau das schaffen. Dafür werden sich in den nächsten Monaten viele Studierende in einem abgedunkelten Labor durch Zehntausende von kaum wahrnehmbaren Bildern klicken.

«Wenn wir nachweisen können, dass und wie Gehirnaktivität auch durch körperliche Rhythmen determiniert wird, führt das zu einem fundamental neuen Verständnis», sagt Britz. Ob solche Erkenntnisse dereinst auch von praktischem Nutzen sein könnten, hat sie sich noch nicht überlegt. «Was wir machen, ist Grundlagenforschung.»

 

Unsere Expertin Juliane Britz ist Lektorin am Departement für Psychologie und Doktorassistentin an der Abteilung Medizin.

juliane.britz@unifr.ch