Dossier

«Hirnlos, herzlos, ahnungslos?»

In der hebräischen Überlieferung des Alten Testaments begegnet uns kein eigenes Wort für das «Gehirn». Wenn dies nicht an einer Überlieferungslücke liegt, so hat der Befund weitreichende Folgen für das antike, biblische Menschenbild. Eine Spurensuche lohnt sich.

Was bedeutet es, wenn in einer alten, toten Sprache ein Wort nicht belegt ist? Grundsätzlich kann dies Zufall sein: So ist zum Beispiel im Alten Testament das Wort für «Brücke» nicht überliefert. Dass es aber in der alten Welt (inkl. Israel) deshalb keine Brücken gegeben habe, stellt einen ganz klassischen «logischen Fehlschluss» dar. Brücken sind auf dreitausend Jahre alten Bildern und Reliefs aus dem Nahen Osten immer wieder abgebildet. Aber für Palästina/Israel spielten Brücken wohl keine entscheidende Rolle: Ausser dem Jordan, der durch Furten überquert wurde, bestand schlicht keine Notwendigkeit für umfangreiche Brückenkonstruktionen. Darum hat das Wort (gischru/gaeschַer) keine Verwendung in der alttestamentlichen Literatur gefunden. Ganz ähnlich verhält sich die Angelegenheit bei dem Wort für «Gehirn»: Dieses Organ existierte im menschlichen Organismus schon vor dreitausend Jahren – völlig unbestritten. Nur wurde ihm ganz offensichtlich keine entscheidende Bedeutung zugemessen. Wie lässt sich dies erklären?

Hirnlose Antike?

Das Gehirn (keilschriftlich muchchu, Bedeutung: «das, was im Schädel ist», aber auch «Knochenmark» ganz allgemein) wird damals wohl hauptsächlich im Kontext von Unfällen oder anderen körperlichen Versehrungen wahrgenommen. Bei starken Kopfverletzungen in Folge eines Sturzes oder aber einer kriegerischen Auseinandersetzung tritt mitunter das Gehirn aus den Schädelknochen heraus. Wahrscheinlich galt es schlicht als glibbrige Masse im Innern des Kopfes. Diese deutliche Abwertung des Gehirns, der oft gerühmten «Schaltstelle des Nervensystems», ging mit der Aufwertung anderer Organe einher, denen wir leider heute weit weniger Bedeutung für kognitive Prozesse zuerkennen.

Herz und Nieren

Forschungen zur Anthropologie der orientalischen und biblischen Welt haben mit deutlicher Klarheit herausgefunden: «Der Hebräer denkt mit dem Herzen und fühlt mit den Nieren.» Die letztgenannte Assoziation ist uns heute noch bekannt, wenn uns ein unangenehmer Sachverhalt sprichwörtlich «auf die Nieren» geht. Auch das berühmte Prüfen auf Herz und Nieren hat biblischen Ursprung: Wir finden diesen Zusammenhang im Alten Testament (Psalm 7 Vers 10 und Jeremiabuch 11 Vers 20). Herzensaktivitäten erfahren heutzutage im übertragenden Sprachgebrauch oft eine Engführung auf starke emotionale Affektiertheit (Liebe, Hass) – ein Erbe der Romantik. Erst neuere und ganzheitliche Ansätze, die beispielsweise auch vom «Bauchhirn» sprechen, lassen die Reduktion unserer denkenden Aktivitäten auf das Gehirn in einem ambivalenten Licht erscheinen. Zur Zeit des Alten Testaments war schon klar: Herz, Nieren und Leber spielen für die Vitalität eine entscheidende Rolle. Sie wurden in dieser Hinsicht dem Gehirn vorgeordnet. 

Das Herz als Gehirn

Gut dreitausend Jahre alte Texte lassen aber vor allem die Bedeutung des Herzens für zahlreiche Prozesse erkennen, die wir heute aus Gewohnheit mit dem Gehirn in Verbindung bringen. So würden wir normalerweise den Akt des «Hörens» als Interpretation eines (über die Ohren aufgenommenen) akustischen Musters verstehen. Diese Interpretation findet, der modernen Vorstellung zu Folge, im Gehirn statt. Schon in alten ägyptischen Hieroglypheninschriften aber wird der Pharao, der König von Ägypten, als weiser Herrscher mit einem besonderen Attribut beschrieben: Er soll im Idealfall «ein hörendes Herz» besitzen. Schaltzentrale der akustischen Eindrücke ist – diesem frühen Beispiel zu Folge - also ganz offensichtlich das Herz und nicht das Gehirn. In dieser Linie steht auch die Aussage, die König Salomo im so genannten Tempelweihgebet (des Tempels von Jerusalem) vorträgt: «So wollest du deinem Knecht (= Salomo) ein gehorsames Herz geben, dass er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist» (1. Königebuch 3 Vers 9). Auch können Menschen in ihrem Herzen «sprechen» (z.B. Psalm 74 Vers 9). Es zeigt sich an zahlreichen Stellen des Alten Testaments, dass das Herz der antiken Vorstellung nach als «Personenzentrum» aufgefasst werden konnte. Denken, überlegen, hören, sprechen – wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz sind ihrem Ursprung nach im Herzen zu suchen. Damit wäre der Mensch im alten Israel viel mehr herz- als hirnbestimmt. Vor allem aber müsste gefolgert werden: Das Herz ist nicht nur wichtiger als das Hirn, es erfüllt vielmehr die Funktionen des Gehirns in umfassender Weise.

 

© Nadja Baltensweiler
Hirntod und Herztod

Diese Sichtweise schafft vor allem für ethische Diskussionen eine neue Ausgangslage. Denn zentrale Fragen in Philosophie und Ethik beschäftigen sich mit den Übergängen vom Leben zum Tod und umgekehrt. Welche Rolle kann also der Hirntod als signifikantes Kennzeichen des «Todes» spielen, wenn doch die alten Texte, auf denen sich unsere heutige Kultur nach wie vor gründet, gerade das Gehirn geflissentlich übergehen? Man könnte einwenden, dass sich dies alles mit dem Beginn der Neuzeit gewandelt habe und solche alten Texte ohnehin keine Relevanz hätten. Hier darf natürlich jede_r Einzelne seine_r persönlichen Kulturignoranz nach Lust und Laune frönen. Es bleibt aber unbestritten, dass die Texte des Alten und Neuen Testaments zu den entscheidenden Quellen für Kulturschaffen jeglicher Art (Bildende Kunst, Musik, Philosophie, Rechtswissenschaften, Sprachforschung, Staatstheorie) gehören. Sie an den Stellen für obsolet zu erklären, an denen es gerade nicht ins heutige Zeitverständnis passt, wäre eine nicht unwesentliche Inkonsequenz. Eine religiöse Gruppe (neben dem Christentum) bezieht sich mit ungebrochener Intensität auf die Schriften des Alten Testaments, in denen, wie gesagt, das Gehirn keine Rolle spielt: das Judentum.  

Judentum und Gehirn 

Wie verhält sich nun die Nichtnennung des Gehirns in den Heiligen Schriften Israels zur Definition des Todes? In Israel existiert zum Beispiel seit 2008 ein Hirntod-Gesetz: Es wurde detailliert in der Jüdischen Allgemeinen (3.4.2008) diskutiert und kontextualisiert. Das Hirntod-Kriterium spielt auch in der Gesetzgebung in Deutschland und der Schweiz eine entscheidende Rolle. Eben diese Problematik wurde 2018 von Stephan Probst im gleichen (oben genannten) Medium wieder aufgenommen. Seine Zentralaussage lautet: «Wer die Organspende befürwortet, sieht einen hirntoten Menschen als Toten an» (18.05.2018). Aus der Sicht des Judentums müsste die Angelegenheit zu Gunsten eines «Herztodes», bzw. eines «Mehrfach-Organ-Todes» entschieden werden. Die halachische (religionsrechtliche) Diskussion dauert aber noch an und es gibt Rabbiner die der Hirntod-Hypothese den Vorrang einräumen. Dies wohlgemerkt ohne dass die Bedeutung des Gehirns in den religionsrechtlich fundamental bedeutsamen Texten überhaupt gegeben wäre. Wenden wir den Blick erneut auf die Situation im 21. Jh., so kann aus dieser Problemstellung eine wichtige Einsicht gezogen werden.

Wider den Gehirn-Reduktionismus

Die starke Fokussierung auf das Gehirn, welche an vielen Stellen medizinisch sicherlich nicht grundsätzlich falsch ist, blieb im Laufe der Geschichte nicht einfach unwidersprochen stehen. Vielmehr zeigt sich in den frühen Quellen geradezu ein Skeptizismus bezüglich der überragenden Bedeutung des Gehirns. Die Lehre, die aus den Jahrtausende alten Texten gezogen werden kann, ist geradezu als Plädoyer der vernetzten Anthropologie zu verstehen: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Organe und auch nicht durch hierarchische Organordnungen beschreibbar. Vielmehr liegt im Zusammenspiel der Komponenten ein entscheidender Schlüssel. Dies haben die biblischen Schriften mit ihrer Betonung von Herz, Nieren und Leber versucht zu verdeutlichen. In moderner Perspektive darf das Gehirn in diese Reihe hineingenommen werden. Dominieren aber sollte es diese aber nicht. Denn viel zu häufig sind wissenschaftliche Ideologien einem Reduktionismus auf den Leim gegangen – machen wir hier nicht den gleichen Fehler: Bei der Beschreibung des Menschen ist der These «Alles nur Gehirn» durchaus selbstbewusst ein «Viel mehr als nur Gehirn» entgegenzusetzen. Und dies ist, wie oben angedeutet, ganz modern und ganz biblisch zugleich.    

 

Unser Experte Florian Lippke ist Diplomassistent am Departement für Biblische Studien und Kurator für Vorderasien am BIBEL+ORIENT Museum der Universität Freiburg. Seine Spezialgebiete sind semitische Sprachen, biblische Exegese und die Archäologie Syriens und Palästinas.

florian.lippke@unifr.ch

Literatur

Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019

Rupert Sheldrake, The Science Delusion, Freeing the spirit of enquiry, London 2012