Dossier
Kuh versus Karotte
Wie komplex sind die Zusammenhänge zwischen Fleischkonsum und Klimawandel? Gedanken über In-Vitro-Burger, furzende Kühe und vegane Hunde.
Tierethikerin Angela Martin denkt viel über Tiere nach. Zu ihrem Job gehört dazu, Fragen zum Zusammenleben mit Tieren und zu deren Verwendung im Alltag zu stellen. Tierethik ist noch ein wenig behandelter Forschungsbereich. Erstaunlich, dass seit erst rund vierzig Jahren unsere moralische Verantwortung gegenüber Tieren auf systematische Art und Weise verhandelt wird, obwohl unsere Beziehung zu ihnen seit Jahrtausenden besteht. «Wir erleben gerade eine rasante Entwicklung. Immer mehr Forschende mit unterschiedlichen Hintergründen, z.B. aus der politischen Theorie oder Psychologie, befassen sich neu mit dieser Art ethischer Fragestellungen. Vieles, was in der Tierethik behandelt wird, hat einen Einfluss auf die Frage, wie wir Menschen leben sollten. Dabei kommt es teilweise zu interessanten Paradoxien: Manche Tiere nutzen wir, andere nicht – das macht den Forschungsbereich so spannend», erklärt Martin.
Klimakiller Kuh
Martin besitzt keine Haustiere – dafür fehlt ihr aktuell die Zeit. Eine Konsequenz ihrer intensiven Auseinandersetzung damit, wie wir mit Tieren zusammenleben sollten, war der Schritt zum Veganismus. Eine vegane Lebensweise verursacht nicht nur am wenigsten Tierleid – allein in der Schweiz werden jährlich 60 Mio. Tiere für den Fleischkonsum getötet – sie trägt auch massgeblich dazu bei, Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu reduzieren. Nutztierhaltung belastet Klima, Wasser, Land und Luft: Wenn eine Kuh rülpst oder pupst, trägt sie zum Treibhauseffekt bei, weil sie Methan ausstösst, das 25 Mal schädlicher ist als CO2. Gülle aus der Massentierhaltung verschmutzt Grundwasser und Luft. Monokulturen für den Futtermittelanbau beanspruchen eine Menge an Ressourcen wie Wasser und Land. «Mindestens 70 Prozent der angebauten Sojabohnen werden nicht etwa für die Produktion von Tofu benutzt, sondern als Viehfutter verwendet», sagt Martin. Ein Rind setzt nur 10 Prozent der eingenommenen Kalorien in Fleisch um. Damit ein Steak auf dem Teller landet, braucht es 4000 Liter Wasser.
Klimakumpel Karotte
Etwas ressourcenfreundlicher ist der Labor-Burger. Bei diesem In-vitro-Verfahren werden Rindern Muskelstammzellen entnommen. Damit sich diese vermehren können, müssen sie in ein Kälberserum gelegt werden. Dafür wird eine trächtige Kuh geschlachtet und dieser dann der Fötus herausgeschnitten. Dem noch lebenden und nicht betäubten Kalbsfötus wird über eine Nadel, die ins schlagende Herz gestossen wird, so viel Blut abgesaugt, bis keines mehr übrig ist und das Tier stirbt. Ist dieses Prozedere ethisch vertretbar? «Aus ethischer Sicht sind alternative, 100 Prozent pflanzliche Ersatzprodukte zu begrüssen. Beim In-vitro-Fleisch sind die Diskussionen kontrovers und die Forschung ist daran interessiert, irgendwann nicht mehr auf ein Nährserum tierischen Ursprungs angewiesen zu sein. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung für diejenigen, die nicht auf den Geschmack von Fleisch verzichten wollen. Die meisten Menschen wollen Klima und Tieren nicht aktiv schaden. In der Praxis wissen sie aber oft zu wenig über die klimatischen Zusammenhänge und die Verhältnisse in der Nutztierindustrie, oder nehmen den Schaden in Kauf. Viele sind motiviert, schaffen aber den Schritt zum Veganismus nicht, weil er ihnen zu aufwendig erscheint. Dabei ist es heute einfacher und gesellschaftlich akzeptierter, vegan zu leben als noch vor ein paar Jahren.»
Pragmatik oder Konsequenz
In «How to create a vegan world – a pragmatic approach» vertritt Aktivist Tobias Leenaert die Meinung, dass wenige Veganer_innen einen kleineren positiven Impact auf das Klima haben, als wenn tausende «Steakholder» zu Flexitarier_innen werden. Ist es okay, als Veganer_in für eine Fleischreduktion anstatt für Verzicht zu plädieren? «Es gibt auf der einen Seite die Konsequentialist_innen. Für sie zählt vor allem, was zum besten Endresultat führt, und hier sind, realistischerweise, möglichst viele Flexitarier_innen – also Omnivoren, die öfter mal vegetarisch oder vegan essen – das Beste. Auf der anderen Seite gibt es die «Veganer_innen aus Prinzip», die den Veganismus als Boykott verstehen und keine Ausnahmen tolerieren. In der Philosophie unterscheiden wir auch zwischen idealer und nichtidealer Theorie nach John Rawls. In der idealen Theorie verhalten sich alle ethisch korrekt, sprich: Alle würden vegan leben. In der Realität verhalten sich aber nicht alle Menschen moralisch. Eine rein vegane Welt in der Zukunft ist illusorisch. Nach der nicht-idealen Theorie ist es besser, möglichst viele Menschen dazu zu motivieren, den schädlichen Fleischkonsum zu reduzieren», erklärt Martin. Sind wir überhaupt dazu verpflichtet, uns Klima und Tier gegenüber moralisch zu verhalten? «Eindeutig», ist Martin überzeugt. «Ob wir der Natur gegenüber verpflichtet sind, ist umstritten. Das ist aber nicht der einzige Faktor, der zur Beantwortung dieser Frage relevant ist. Wir haben eine Pflicht zukünftigen Generationen gegenüber, die ein Anrecht darauf haben, dass natürliche Ressourcen für sie bewahrt werden. Zudem haben wir direkte Pflichten empfindungsfähigen Tieren gegenüber. Wer Fleisch isst, schadet dem Klima und tötet ein Tier, obwohl das verursachte Leid gar nicht notwendig wäre. Ich habe meine Zweifel, dass gustatorische Gründe diese Schäden rechtfertigen.» Sind Tiere auch dem Klima gegenüber verpflichtet? «Es gibt Veganer_innen, die ihre Haustiere vegan ernähren. Bei Hunden ist es scheinbar einfach, bei Katzen ist es schwieriger, weil sie Taurin benötigen, das oft in Fleisch enthalten ist. Taurin kann synthetisch hergestellt werden, aber es ist wichtig, dass die Katze ausgewogen ernährt wird. Ich glaube nicht, dass Tiere verpflichtet sind, sich vegan zu ernähren. Es ist aber moralisch unproblematisch, solange es ihnen gut dabei geht.»
Bürgerrechte für Tiere
Eine neue politische Annäherung an die Tierethik hat die Betrachtung auf Tiere und deren Nutzung stark beeinflusst, sagt Martin. Will Kymlicka und Sue Donaldson revolutionierten vor wenigen Jahren die Tierethik mit ihrem Werk «Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte». «Darin plädieren sie für ein Umdenken in Bezug darauf, wie wir mit Tieren zusammenleben. Bisher war der Abolitionismus vorherrschend. Demnach sollen Nutztiere gänzlich abgeschafft werden: Auf der einen Seite sind die Menschen, auf der anderen die Tiere und es soll keine Interaktion zwischen ihnen geben, weil der Mensch dazu neigt, Tiere auszubeuten. Donaldson und Kymlicka hingegen sagen, dass wir Tieren gegenüber eine Verantwortung haben, weil wir sie einst zum Teil der Gesellschaft machten. Mit Hund und Katze können wir bereits in einem positiven Verhältnis zusammenleben, ohne ihnen Leid anzutun. Dies sollte mit Nutztieren auch möglich sein.» Aber was hat das alles mit dem Klimawandel zu tun? «Donaldson und Kymlicka betrachten wilde Tiere als souveräne Staaten. Deshalb sollte der Mensch nicht eingreifen und von Gebieten, in welchen diese Tiere Leben, die Finger lassen. Immer weiter zu expandieren in der Form, wie wir es aktuell tun, wäre unzulässig. Der Klimawandel ist ja vom Mensch verursacht. Es entwickelt sich gerade ein neuer Forschungszweig, der sich mit der Frage beschäftigt, ob wir Hilfs- und Kompensationspflichten Tieren gegenüber haben, die Opfer des Klimawandels sind.» Jäger_innen behaupten, durch den Abschuss von Wildtieren Überpopulation und Wildschäden vorzubeugen. Macht dies die Jagd ethisch vertretbar? Angela Martin meint: «Viele Tierbestände würden sich auch ohne unser Eingreifen von selbst regeln. Das Expandieren in den Lebensraum von Tieren und die Jagd sind sehr stressvoll für sie. Wenn ein_e Jäger_in jagt, dann vermutlich nicht mit der Idee, das schwächste Tier zu erschiessen, weil es für die Gruppendynamik gut ist. Angenommen, Jagd wäre ökologisch sinnvoller als andere Methoden, dann müsste dies auf staatlicher Ebene durch Biolog_innen geschehen und nicht von einzelnen Individuuen, die vermutlich wenig Ahnung haben von komplexen biologischen Gruppenprozessen. Empfängnisverhütung beispielsweise erachte ich als eine der besseren Alternativen, denn gut ist, was dem Tier so wenig Stress und Schmerz wie möglich verursacht.»
Unsere Expertin Angela Martin ist Doktorassistentin in der Sektion Ethik und Politische Philosophie am Departement für Philosophie. Sie ist spezialisiert in Bioethik.