Dossier

Eisskulpturen gegen die Dürre im Himalaya

Mit riesigen künstlich erschaffenen Eisskulpturen lassen sich im indischen Ladakh die Folgen des Klimawandels abmildern. Die Technik dieser Eis-Stupas könnte auch für die Schweiz interessant werden.

Manchmal entpuppen sich komplizierte Dinge als verblüffend einfach. Ein Mittel gegen die Dürre in Ladakh beispielsweise. Oder der Name unseres Protagonisten. «Suryanarayanan Balasubramanian» sagt der junge Mann schmunzelnd, «oder einfach Surya». Nach seinem Mathematik-Studium entschied sich der aus dem südindischen Chennai stammende Surya für ein Jahr Freiwilligenarbeit. Eine Organisation in Indien schickte ihn, der noch nie Berge gesehen hatte, in den Himalaya, wo gerade ein Versuch mit Eis-Stupas gestartet war. Stupas sind buddhistische Sakralbauten «und die Leute in Ladakh sind sehr religiös. Dass sie unsere Eisstrukturen so genannt haben, war ein Zeichen der Akzeptanz».

Ladakh ist abgelegen, Surya arbeitete auf 3’600 Metern über Meer und noch höher, und doch ist die Gegend mit der Welt verbunden. Oder von der Welt betroffen. Durch die Klimaerwärmung fällt im Winter bloss noch etwa halb so viel Schnee wie früher und die Gletscher befinden sich auf dem Rückzug. Das drängendste Problem der Bauern aber ist ein anderes: Gerade im April und Mai ist es neuerdings zu trocken. Hier kam die Idee des Ingenieurs Sonam Wangchuk ins Spiel: Die Eis-Stupas. Ein international erfolgreiches Crowdfunding ermöglichte es, das Projekt in die Tat umzusetzen.

«Das Prinzip ist eigentlich sehr einfach», erklärt Surya. «Aus dem Gletscher fliesst auch im Winter ein Gletscherbach, von dem wir Wasser mit Röhren abzweigen. Wir leiten es etwa drei Kilometer über Land und rund 60 Meter nach unten, dann lassen wir es vom Wasserdruck in die Luft sprudeln. Oder besser: sprühen. Wenn es kalt ist und wir das Wasser gut dosieren, gefriert es. Wenn es zu warm ist, halten wir die Leitung ganz einfach geschlossen. Damit unsere Eisskulptur einigermassen strukturiert wächst, verwenden wir Schnüre und Fischernetze, mit denen wir das Eis leiten. Am Ende entsteht ein grosser Klotz, der aussieht wie ein gefrorener Vulkan, ein Eis-Stalagmit oder eben wie ein buddhistischer Stupa». Die Arbeiten beginnen stets mit der Konstruktion eines Iglus. So kann man unter den Eisberg gelangen, die Röhre von unten verlängern und die Eiskonstruktion höher und höher machen. «Unsere höchsten Konstruktionen erreichen 24 Meter. Sie speichern bis zu 3.7 Millionen Liter Wasser und beim Schmelzen geben sie dann täglich etwa 11’000 Liter Wasser ab – und das vor allem im April und Mai. Also genau dann, wenn die Bauern es benötigen.»

Manchmal entpuppen sich einfache Dinge aber auch als verblüffend kompliziert. «Eine Schwierigkeit ist es, die Leitungen am Einfrieren zu hindern. Und das herausströmende Wasser soll Eis werden, nicht Schnee. Außerdem sollte die ganze Konstruktion möglichst stabil werden. Das ist aber vor allem wegen des unberechenbaren Windes gar nicht so leicht. Der Wind ist bei der Formierung der Stupas die wohl schwierigste Variable.»

 

© Chappatte

Nach seinem Jahr Freiwilligenarbeit und zwei weiteren Wintern im Himalaya ist Surya nach Freiburg gekommen. Die Eis-Stupas beschäftigen ihn nun in seiner Dissertation am Departement für Geowissenschaften. Wie baut man eine ideale Konstruktion? Wie spannt man Schnüre und Netze so, dass sich diese aufbaut? Wie ist das Schmelzverhalten unterschiedlicher Eisformen? Kann man den Wind vielleicht doch wenigstens annähernd berechnen? Und wie schafft man möglichst effizient möglichst viel Eis? Bei den Eispalästen in der Nähe des Schwarzsees im Kanton Freiburg betreibt Surya nun im Winter eine Versuchsstation. Dort testet er verschiedene Anlagen und Konstruktionen und misst die Ergebnisse.

«Ich gehe das Ganze von zwei Seiten an», sagt er. «Einerseits berechne ich, was unter verschiedenen Bedingungen geschieht. Andererseits experimentiere ich und sammle Daten.» So will er im Laufe seiner Dissertation Realität und Modell in Übereinstimmung bringen und so das Prinzip der Eis-Stupas weiter verbessern. Dabei erweist sich die zweite Phase – der Schmelzprozess – als noch komplizierter, noch chaotischer als der Entstehungsprozess der Stupas. Die Sonne kreiert die verrücktesten Formen, die Schattenseite schmilzt langsamer und irgendwann kollabiert die Struktur. «Aber das Ziel der Stupas ist ja nicht, möglichst hohe Eistürme zu bauen, sondern den Wassermangel zu bekämpfen.»

«Klar, mit Eis-Stupas lassen sich weder Klimawandel noch Gletscherschwund aufhalten. Aber vielleicht gelingt es, einige seiner Folgen etwas abzudämpfen.» In Ladakh versorgt ein Eis-Stupa immerhin eine Plantage mit etwa 5’000 Bäumen in den trockenen Monaten mit Wasser. Dieses wird mit einem feinen Röhrensystem bis zu den einzelnen Pflanzen gebracht. In den ersten Tests waren es vor allem Weiden und Pappeln, in Zukunft dürften es auch Weizen und Gerste sein, die im himalayischen Hochland oft angebaut werden. «Im Prinzip sind die Stupas riesige Wassertanks», sagt Surya. Und diese Tanks werden erfolgreich kopiert. Dutzende Stupas entstehen inzwischen jeden Winter im Himalaya – und im Engadin.

Denn auch in der Nähe des Morteratsch-Gletschers werden neuerdings Eis-Stupas gezüchtet. Felder mit Wasser zu versorgen ist hier zwar nicht das Ziel, aber die Konstruktionen helfen, auf den Klimawandel, den Gletscherschwund und auf deren globale Dimension aufmerksam zu machen. Außerdem dienen die eisigen Skulpturen dem Austausch. Die Stupas werden von Dorfbewohnern aus Ladakh betreut, die nebenbei etwas über den Tourismus lernen, während sie zugleich ihr Wissen über die Stupas an Einheimische weitergeben. Um die Formgebung kümmern sich nicht zuletzt Kinder aus der Region. Und Studierende der Academia Engiadina reisen inzwischen nach Indien um vor Ort zu lernen, wie die Stupas geformt werden. Surya ist dabei zum Bindeglied zwischen der Schweiz und Indien geworden. Er koordiniert die Aktivitäten der Stupa--Macher in den beiden Ländern.

«Insgesamt ist es in der Schweiz leichter», sagt er. «Die Gletscher sind nicht so religiös aufgeladen wie im Himalaya. Die Leute sind grundsätzlich offen für alles, was helfen kann, sie zu schützen.» In der Schweiz könnten Stupas ganz einfach als Trinkwasserreservoirs für Berghütten dienen. Aber die Technik kann auch verwendet werden, um aus Gletscherseen saisonales Eis zu gewinnen. Besonders verlockend scheint zudem die Aussicht, sensible Gebiete von Gletschern zu beschneien, um die Reflexion der Sonnenstrahlung zu erhöhen, und somit die Schmelze zu vermindern. Am Morteratsch ist ein solches Projekt durchaus realistisch.

«Wir sind noch ganz am Anfang der Forschung», so Surya. «Interessant wird es, wenn wir die Technik verbessert haben und sie auf grösserer Skala einsetzen können. Dann können wir den Leuten im Himalaya noch besser helfen.»

© Lobzang Dadul

Unser Experte Suryanarayanan Balasubramanian hat in Chennai, Indien, Mathematik studiert. Er schreibt seine Dissertation über Eis-Stupas am Departement für Geowissenschaften bei Professor Martin Hoelzle.

suryanarayanan.balasubramanian@unifr.ch