Dossier

An Marx scheiden sich die Geister

Karl Marx stösst auf grossen Widerstand – oder er trifft mitten ins Herz und findet leidenschaftliche Anhänger. Nicht möglich schien, über lange Zeit, eine distanzierte und objektive Herangehensweise an sein Gedankengut. Der russische Ökonom und Theologe Sergij Bulgakov, einst selber glühender Marxist, begründet 1906 seine Abwendung von Marx und skizziert 1912 in seiner Habilitation eine Alternative.

1981 an der Theologischen Fakultät der Universität Münster: Die fakultätspolitisch engagierte Studentin Angelika Senge reicht ihre Doktorarbeit ein zum Thema «Marxismus als atheistische Weltanschauung. Zum Stellenwert des Atheismus im Gefüge marxistischen Denkens». Die These lautet: «Der Marx’sche Atheismus erweist sich nicht nur als eine – mehr oder minder zufällige – Komponente der Marx’schen Theorie, sondern als deren zentraler Bestandteil». Die Gutachter geben eine sehr positive Bewertung. Doch durch die Fakultät geht ein Aufschrei. Die «Christen für den Sozialismus» werben damals an der Fakultät um Anhänger und fühlen sich angegriffen. Am Ende darf das Kapitel über die Untrennbarkeit des historischen und dialektischen Materialismus vom Atheismus nicht gedruckt werden. Die Zeit für eine wissenschaftlich unvoreingenommene Aufarbeitung des Marx’schen Werks war zumindest innerhalb der Theologie nicht gekommen. Nebenbei bemerkt: Vor etwa zwanzig Jahren reichten die Ausläufer der Münsteraner Debatten durch Freisemester-Studierende bis nach Fribourg…

 

Marxistische Gesellschaftsanalyse?

Szenenwechsel: In den 1960er Jahren kommen in fast allen Ländern Lateinamerikas Militärdiktaturen an die Macht. Grosse Teile der Bevölkerung werden Opfer erheblicher sozialer Ungerechtigkeiten. Kirchliche Kreise stellen sich entschieden auf die Seite der Benachteiligten. Eine der ersten Rezeptionen des II. Vatikanischen Konzils erfolgt durch den Rat der Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen CELAM. In deren Vollversammlungen von Medellín 1968 und Puebla 1979 wird die «Option für die Armen» als eine nicht kontextbedingte, sondern im Evangelium grundgelegte Haltung aller Christen formuliert. 1984 und 1986 erscheinen kritische Instruktionen der römischen Kongregation für die Glaubenslehre: Das erste Dokument kritisiert den Rückgriff auf das Marx’sche Instrumentarium der Analyse: «Wir rufen in Erinnerung, dass der Atheismus und die Negation der menschlichen Person, ihrer Freiheit und ihrer Rechte, sich im Zentrum der marxistischen Konzeption befinden. Diese enthalten auch Irrtümer, die die Wahrheiten des Glaubens über die ewige Bestimmung der Person direkt bedrohen» (Nr. 9). Zwei Jahre später erscheint der Name «Marx» nicht mehr. Vielmehr wird die «starke Sehnsucht nach Befreiung, die unsere Welt bewegt» (Nr. 1) ausdrücklich gewürdigt und zum Einsatz für «wahre Befreiung» im Licht des Evangeliums ermutigt. Zu einer Verständigung mit der befreiungstheologischen Bewegung kommt es nicht. Die Zeit für eine unvoreingenommene Aufarbeitung des Marx’schen Werks war offenbar in kirchlichen Kreisen noch nicht gekommen. Nebenbei bemerkt: Der Namensgeber der «Theologie der Befreiung», Gustavo Gutierrez, ist Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Fribourg…

 

Von der Leidenschaft zur Loslösung

Szenenwechsel: 1888 im südrussischen Provinzstädtchen Orël: Der sechzehnjährige Priestersohn Sergij Bulgakov gerät im Priesterseminar in eine religiöse Krise. Die marxistische Bewegung in ihrer russischen Ausprägung wird für ihn zur Vision einer besseren Zukunft. Er studiert Politische Ökonomie und wird Dozent und Professor mit breiten Kenntnissen der Marx’schen Theorie. Bald gilt er als der aufgehende Stern der sozialistischen Bewegung und wird zu einer Studienreise nach Deutschland geschickt, um die dortigen Vertreter der Sozialdemokratie kennenzulernen. Doch Erfahrung und wissenschaftliche Reflexion machen ihn skeptisch: Kann der Marxismus das menschliche Herz wandeln? Ein sozialistischer Gastwirt antwortet ihm auf die Frage, was die Marxisten wollen: «Sie wollen mehr verdienen…» Seine Studien stellen die Anwendbarkeit der ökonomischen Gesetze der Industrie auf die Landwirtschaft infrage.

Bulgakov verteidigt die Lebensfähigkeit des Kleinbetriebs und fordert Eigentumsrecht für die Bauern. Die anfängliche Weggemeinschaft mit Lenin zerbricht. Bulgakov lässt es keineswegs an sozialer Sensibilität fehlen. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des illegalen «Befreiungsbundes», arbeitet mit am Programm der Konstitutionell-Demokratischen Partei, engagiert sich als «christlicher Sozialist» in der Duma 1907 und sucht Verbündete für eine breite christlich-soziale Bewegung. Ausdruck der intellektuellen Redlichkeit gegenüber seiner eigenen Vergangenheit ist der erstmals 1906 im «Moskauer Wochenblatt» erschienene Artikel «Karl Marx als religiöser Typus», der später neu abgedruckt und in viele Sprachen übersetzt wird. Hier spricht ein Mensch, «der im Laufe einiger Jahre unter einem starken Einfluss von Marx gestanden, sich der Aneignung und Weiterentwicklung von dessen Ideen völlig hingegeben und sich danach nur mühe- und qualvoll von der Hypnose dieses Einflusses befreit hat». Nun will er «den Gegenstand hitziger, junger Leidenschaft mit abgekühltem und kritischem Blick betrachten».

 

Der wahre Marx

Zwei bis heute verbreitete Bilder will Bulgakov verabschieden: Marx, der «die ausgebeuteten Arbeiter liebte und bemitleidete, die nach Beute strebenden Kapitalisten hasste und daneben an den Anbruch der lichten Herrschaft des Sozialismus grenzenlos geglaubt hat» – und Marx, der direkte Erbe des klassischen Deutschen Idealismus. Psychologie und Philosophie greifen bei Marx ineinander. Bulgakov weist nach: «Marx ist ein Anhänger Feuerbachs», dessen Werk «Das Wesen des Christenthums» er 1848 begeistert aufgriff. Von Feuerbach übernimmt er die Aufhebung des Individuums in die «Gattung». Die Absonderung von den gesellschaftlichen Prozessen schafft die Entfremdung des Menschen von seinem Gattungsleben und findet Ausdruck in der «Religion», die daher radikal beseitigt werden muss. Hier sieht Bulgakov den Kern des Problems, die «charakteristische Ohnmacht des atheistischen Humanismus, der nicht in der Lage ist, die Person und das Ganze gleichzeitig aufrecht zu erhalten und deshalb ständig von einem Extrem ins andere fällt: Einmal zerstört die Person in ihrer Rebellion das Ganze und lehnt im Namen der Rechte des Individuums die Gattung ab (Stirner, Nietzsche), ein anderes Mal wird die Person im Ganzen aufgehoben, in einer Art sozialistischem Sparta wie bei Marx».

Hier rechnet nicht der gekränkte ehemalige Jünger mit seinem Meister ab – hier übernimmt der von ideologischen Fesseln befreite Denker intellektuelle Verantwortung für die Geschichte, denn in der Tat: Das «Problem der Individualität» muss gelöst werden! Sonst bleibt über der sozialen Bewegung eine tiefe Ambivalenz: Der Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit kann unbemerkt in die Zerstörung der nicht auf ökonomische Gesetze reduzierbaren Person umschlagen. So gibt Vladimir Solov’ev dem Antichrist in seiner «Legende vom Antichrist» die Gestalt des vollendeten Sozialisten. Hier stellt sich die Aufgabe einer Unterscheidung der Geister für Fortgeschrittene: «genau hier haben wir die feine und gefährlichste Verführung, wenn sich Gut und Böse nicht äusserlich, sondern innerlich unterscheiden».

Bulgakov selbst hat die Herausforderung angenommen: 1912 habilitiert er sich an der Moskauer Universität mit einer «Philosophie der Wirtschaft». Eine entrüstete Abkehr vom Marxismus allein reicht nicht: «Praktisch sind die Wirtschaftswissenschaftler Marxisten, selbst wenn sie den Marxismus hassen.» Bulgakov arbeitet an einer konstruktiven Überwindung des ökonomischen Materialismus, an einem «christlichen Materialismus», der im Gedanken der Personalisierung der Natur als Schöpfung Individuum und Gemeinschaft zu versöhnen vermag. Szenenwechsel: Universität Freiburg 2018 – Das Wissenschaftsmagazin «universitas» publiziert eine Ausgabe über Karl Marx. Ein Zeichen, dass die Zeit einer unvoreingenommenen Aufarbeitung nun gekommen ist?

 

Unsere Expertin Barbara Hallensleben, Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene, ist Direktorin des neu gegründeten Zentrums für das Studium der Ostkirchen am Institut für Ökumenische Studien und mitverantwortlich für das Doktoratsprogramm «De civitate hominis. Theologie im post-ökumenischen Zeitalter».

barbara.hallensleben@unifr.ch

Die Zitate stammen aus den Werken Bulgakovs in deutscher Übersetzung, die von Prof. Barbara Hallensleben und Dr. Regula Zwahlen in der «Forschungsstelle Sergij Bulgakov» der Universität Freiburg vorbereitet und publiziert werden.

http://fns.unifr.ch/sergij-bulgakov