Dossier

Widersprüche willkommen

Zwei Herzen schlagen in seiner Brust: Gilbert Casasus ist schweizerisch-französischer Doppelbürger und seit 30 Jahren darum bemüht, das Verständnis zwischen Frankreich und der Schweiz zu fördern. Im Gespräch versucht der Professor für Europastudien, Frankreich sowohl kritisch-distanziert zu analysieren und gleichzeitig wohlwollend zu erklären.

Er versteht sich nicht einfach als distanzierter und analytischer Beobachter, sondern als Vermittler zwischen den Kulturen – das merkt man rasch, wenn einen Gilbert Casasus in seinem kleinen Büro an der Uni Perolles mit herzlicher Bestimmtheit einlädt Platz zu nehmen und er gleich mit grossem Engagement ins Gespräch eintaucht. Und man merkt, dass es dem Veteranen auch nach über 30 Jahren Tätigkeit als Politologe nicht verleidet ist, über Frankreich und seine Besonderheiten zu reden. Es ist ja allerdings auch eine spannende Zeit für die Grande Nation, die sich vielleicht gerade wieder einmal fragt, wie gross sie denn eigentlich ist – und sein will. 

 

Fangen wir gleich mit einem wunden Punkt in der Nachbarschaftsordnung an: Was bedeutet das starke Abschneiden des Front National bei der Präsidentschaftswahl dieses Frühjahr – muss man sich da Sorgen machen?

Gilbert Casaus: Das Phänomen Le Pen wurde von den Analysten hierzulande weitgehend überschätzt. Ich habe keine Sekunde mit dem Gedanken gespielt, dass Marine die Präsidentschaftswahl wirklich hätte gewinnen können. Das war unmöglich.

 

Der Wahlausgang gibt Ihnen nun natürlich recht, aber dachte man nicht auch, dass eine Wahl Trumps unmöglich sein würde?

Nein! Das kann man nicht vergleichen. Ein Wahlsieg des Front National ist in etwa so wahrscheinlich wie der Gewinn von sechs Bundesratssitzen für die SVP. Das französische Mehrheitswahlsystem funktioniert da als sehr effiziente Staumauer.

 

Gut, nennen wir es einen Achtungserfolg, allerdings ohne echte politische Ausbeute. War das der Zenit dessen, was für den Front National drinliegt? Man muss natürlich immer aufpassen mit solchen Prognosen – aber ja, damit ist das Potential wohl ausgeschöpft. Und nach dem schlechten Abschneiden bei der Parlamentswahl ist die Partei nun sowieso stark zerstritten.

 

Parlament: das ist ein gutes Stichwort. Man hat im Ausland ja eigentlich fast nur von der Präsidentschaftswahl gesprochen – spielt das Parlament denn in Frankreich wirklich kaum eine Rolle?

Doch, durchaus. Im Prinzip wäre das System so angelegt, dass die Parlamentswahl als Bestätigung der Präsidentenwahl fungiert. Das hat bis 1986 auch sehr gut funktioniert, es war die Basis der legendären «Fünften Republik», der politischen Ordnung, die sich 1958 als Folge des Militärputschs von Algier etabliert hatte.

 

Und was ist dann passiert?

Dann haben wir bis 2002 einige «Cohabitations» erlebt, mit einem Präsidenten aus einem politischen Lager und einer Parlamentsmehrheit aus dem anderen. Nach dieser Periode gab es Reformen, womit man weitere Cohabitations verhindern konnte. Doch das Vertrauen in das Funktionieren der Fünften Republik schwand, vor allem nach den Amtszeiten von Sarkozy und Hollande.

 

Das politische System wurde grundlegend in Frage gestellt?

Ja, eigentlich ging man davon aus, dass das System der Fünften Republik zusammenbrechen muss und dass eine neue, eine Sechste Republik an seine Stelle treten würde.

 

Was wurde denn konkret in Frage gestellt?

Man dachte vor allem, der republikanische «Monarch» würde nicht mehr in diesem Glanz und dieser Machtfülle auftreten können. Denn der Präsident als zentrale Figur; das war der Inbegriff der Fünften Republik. Und man dachte eben, dieses System bricht 2017 logischerweise zusammen.

 

Ironie der Geschichte also: Le roi est mort, vive le roi. Die alte Formel der Monarchie lebt wieder auf.

Allerdings. Macron hat die Fünfte Republik gerettet.

 

Die Franzosen wollten wieder einen starken Präsidenten?

Offensichtlich. Und Macron hat diese Chance genutzt. Die ganze Bewegung von «En Marche!» war von Anfang an auf diese starke Präsidentschaftsfigur hin ausgerichtet. Eigentlich heisst die Partei ja «La République en Marche!», aber normalerweise braucht man immer noch die alte Kurzform: En Marche, EM. Fällt Ihnen etwas auf?

 

Die Initialen des Präsidenten. Kein Zufall?

Selbstverständlich kein Zufall! Und man sieht ja jetzt, wie Macron auftritt, wie er das Selbstverständnis des republikanischen Monarchen wieder zelebriert.

 

Das ist gerade für einen Schweizer nicht so leicht nachzuvollziehen. Warum haben sich die Franzosen für die Weiterführung dieses – so würde man eigentlich meinen – überkommenen Systems entschieden?

Die Stimmbürger fanden offenbar, dass einer reformierten Fünften Republik der Vorzug zu geben war gegenüber einer Sechsten Republik, die weitgehend ein Experiment gewesen wäre. Es gab kein konkretes Modell, wie diese neue republikanische Ordnung hätte aussehen sollen.

 

Also ist Macron eigentlich ein Bewahrer und gar nicht so sehr der progressive junge Aufbrecher von verkrusteten Strukturen, als den er sich doch so gern gegeben hat?

Nun, das ist eine widersprüchliche Angelegenheit. Ich sage gern: «Frankreich ist ein konservatives Land mit revolutionären Ansätzen.» Im Prinzip ist die Gesellschaft konservativ, aber in diese Beständigkeit hinein kommen immer wieder – und oft unerwartet – sehr progressive oder sogar revolutionäre Momente. Macron ist der Inbegriff dieser Dialektik.

 

Eine Revolution werden wir wohl nicht sehen. Nur schon Reformen sind schwierig in Frankreich. Wie wird er es schaffen, solche durchzusetzen?

Macron ist sich sehr bewusst, wie schwierig das wird. Kürzlich hat er ausdrücklich gesagt: «La France n’est pas un pays réformable, les Françaises et les Français détestent les réformes». Und er meinte, gerade deshalb müsse man sie versuchen. Man müsse dem Volk aber genau erklären, wohin man gehen will.

 

Es scheint fast, als würde er mit dieser Widersprüchlichkeit bewusst spielen. Mit so einer politischen Fusion-Küche lässt sich in Frankreich also durchaus punkten?

Ja, bis zu einem gewissen Grad. Ich koche persönlich auch sehr gern, aber ich weiss: Wenn zu viel drin ist im Rezept, dann schmeckt es am Schluss nicht mehr.

 

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Worauf spielen Sie an?

Macron versucht eine Politik, die gleichzeitig links und rechts ist. Er macht Zugeständnisse für den wirtschaftlichen Aufschwung und muss aber aufpassen, dass er seine Wähler aus dem Mitte-Links-Lager nicht enttäuscht, weil er zu wenig für den sozialen Zusammenhalt tut. Man sieht das an den Umfragewerten derzeit; die Franzosen können da sehr ungeduldig sein. Macron muss unbedingt im Auge behalten, welche Wählerschichten ihm letztlich seinen klaren Sieg beschert haben. Aber im Moment kann er sich unpopuläre politische Positionen durchaus leisten, es droht da keine unmittelbare Gefahr. Niedrige Umfragewerte hin oder her.

 

Wie werden solche konfliktreichen Positionen in Frankreich denn politisch ausgehandelt?

Das geht sehr anders als in der Schweiz vor sich. Eine Konsensgesellschaft – das ist nicht französisch. Man ringt sich zu Kompromissen durch, aber erst nach harten Kämpfen, die es beiden Seiten ermöglichen, sich als Sieger auszugeben und das Gesicht zu wahren. Das wird sich nicht ändern, das ist Teil des französischen Politsystems.

 

Anderes Kampffeld: Könnte es Macron zum Verhängnis werden, dass er ein erklärter Freund der Globalisierung ist?

Da sind wir wieder bei den Widersprüchen: Macron ist Globalisierungsbefürworter in einem Land, in dem Anti-Globalisierung der Grundtenor ist. Gemeint ist das allerdings politisch, als Kritik am Neoliberalismus. Und Macron ist es gelungen, das Positive der Globalisierung zu betonen und die linke Kritik am Wirtschaftssystem aufzunehmen.

 

Sieht man das auch im Verhältnis zu Europa?

Das war wohl der Hauptfehler von Le Pen: Die Forderung, den Euro abzuschaffen. Dabei wird der Euro in Frankreich hochgeschätzt. Frankreich mag insgesamt europakritisch sein, bleibt aber auf jeden Fall pro-europäisch. Auch dafür ist Macrons Sieg sinnbildlich.

 

Und wie sieht denn seine Politik diesbezüglich aus?

Für ihn ist Europa zentral. Und er weiss, dass Europa ohne Frankreich zum Scheitern verurteilt ist. Also wird er den Deutsch-Französischen Dialog wiederaufleben lassen. Da sendet er einerseits sehr positive Signale zum östlichen Nachbarn hinüber, gleichzeitig aber votiert er für eine starke politische Führung der Euro-Zone, das gefällt Deutschland eher weniger. Da kommt dann wieder der linke europäische Macron zum Vorschein.

 

Macron steht für ein modernes, in die Zukunft aufbrechendes Frankreich, für die Generation der 30-Jährigen. Woher dieser Optimismus in einer krisengeschüttelten Zeit? Frankreich hat doch eine Menge Probleme, zum Beispiel mit Migration und Integration?

Historisch gesehen ist die Integration in Frankreich ein Erfolgsmodell. Heute aber ist das Land mit Problemen konfrontiert, die nicht mehr so einfach gelöst werden können. Meines Erachtens kann man da nun zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen einnehmen: Entweder man versucht, die unterschiedlichen Kulturen möglichst in Ruhe zu lassen, ihnen möglichst viel Raum zu geben. Klingt gut im ersten Augenblick, aber dies löst in der Tat unermessliche kulturelle und politische Gewalt- und Konfliktpotenziale aus. Oder man führt die Tradition des Laizismus fort und setzt damit auch Grenzen.

 

Sie glauben nicht an die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft?

Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber ich glaube fest an den Dreiklang der französischen Revolution: Liberté, Fraternité, Egalité bzw. Solidarité. Und am liebsten ist mir dabei die Freiheit. Doch müssen wir aufpassen wie wir diese verstehen, gerade in einer Gesellschaft, in der verschiedene Kulturen zusammenleben. Ich bin der festen Auffassung, dass wir die Freiheit der Bürger im laizistischen Sinn verstehen müssen, und eben nicht als Laissez-Faire, das mitunter mit dem Multikulturalismus einhergeht. Je nachdem kann dieser auch kontraproduktiv für die Integration sein.

 

Sehen Sie den Laizismus als Grundpfeiler der französischen Gesellschaft in Gefahr?

Nicht unmittelbar. Aber diese Wertediskussion muss geführt werden, und ich glaube, dass Frankreich dazu auch die besten Voraussetzungen hat. Eines jedenfalls hat Macron schon mal geschafft: Er hat die Zerbröckelung der Gesellschaft aufgehalten – das ist ein grosser Verdienst.

 

Und wie geht es nun weiter mit dem Phänomen Macron?

Nun hat er erst einmal fünf Jahre Zeit, um sich zu beweisen. Und man kann nur hoffen, dass seine Präsidentschaft nun mal ein wenig länger dauert.

 

Unser Experte Gilbert Casasus ist seit 2008 Professor für Europastudien an der Universität Freiburg, seit 2015 ist er Direktor des Zentrums für Europastudien. Der schwei­­­zerisch-französische Dop­pel­­­bürger ist in Bern und Lyon auf­gewachsen und hat in Lyon und München Politikwissenschaft, Germanistik und Geschichte studiert. Zwischen 2001 und 2008 lehrte er am deutsch-­französischen Studiengang von Sciences Po Paris in Nancy. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der europäischen Integration, die EU aus politikwissenschaftlicher Sicht und Analyse, das politische Verhältnis der Schweiz zur EU, die deutsch-französischen Beziehungen sowie die Zukunft der Linken und Konser­vativen in Europa. Für sein seit 30 Jahren währendes Engagement als Mediator zwischen den beiden Kulturen wurde Gilbert Casasus 2015 mit dem französischen Verdienstorden, dem «Chevalier de l’ordre national du mérite» ausgezeichnet. 

gilbert.casasus@unifr.ch