Dossier

Die Angst auf dem Prüfstand

Furcht und Angst lassen sich nur schwer beweisen. Genau dies wird in einem gewissen Ausmass aber von Flüchtlingen erwartet, die um Asyl bitten.

Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 des Asylgesetzes). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken.

 

Die Definition des Flüchtlings im schweizerischen Recht ist angelehnt an die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951, die Flüchtlinge als Personen definiert, «die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befinden, deren Staatsangehörigkeit sie besitzen, und die den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen». Anders als das AsylG definiert die Genfer Flüchtlingskonvention den Begriff der Verfolgung nicht, man kann aber aus Art. 33 GFK ableiten, dass jedenfalls Bedrohungen des Lebens oder der Freiheit als Verfolgungshandlungen gelten. Der Wortlaut der beiden Bestimmungen ist zwar auf den ersten Blick nicht identisch, der Flüchtlingsbegriff des schweizerischen AsylG wird aber völkerrechtskonform ausgelegt und Abweichungen sind (nach dem Willen des Gesetzgebers, bestätigt durch die Rechtsprechung) rein sprachlicher Natur.

 

Wie prüft man Furcht?

Die Verfolgungsfurcht ist damit ein zentrales Kriterium für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die wiederum in der Regel zur Asylgewährung führt. Hierzu sei bemerkt, dass die Asylgewährung ein staatlicher Akt des «Schutzgebens» ist, der von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vorausgesetzt wird, solange die Standards der Konvention in Bezug auf Flüchtlinge eingehalten werden. Es ist also nicht zwingend, Flüchtlingen Asyl zu gewähren. In der Schweiz erhalten Flüchtlinge jedoch regelmässig Asyl und damit eine B-Bewilligung; es gibt aber auch Flüchtlinge, die lediglich vorläufig aufgenommen werden (F-Ausweis, vgl. Art. 83 Abs. 8 AuG), weil sie asylunwürdig sind (Art. 53 AsylG) oder sie erst durch ihr Verhalten nach ihrer Ausreise aus dem Heimatland Flüchtlinge geworden sind (Art. 54 AsylG). Wie kann man nun feststellen, ob eine Person begründete Furcht vor Verfolgung (oder ernsthaften Nachteilen) hat? Diese Frage ist in der Praxis nicht einfach zu beantworten.

 

Nach dem «Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft» des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) ist der Begriff der Furcht ein Ausdruck seelischer Verfassung und subjektiven Empfindens. Dieser wird durch das Wort «begründet» eingeschränkt. Nicht allein die seelische Verfassung der betroffenen Person entscheidet über ihre Flüchtlingseigenschaft, sondern diese muss auch durch objektive Tatsachen begründet sein. Fest steht somit, dass alle anderen Fluchtgründe als der Grund der «begründeten Furcht vor Verfolgung» nicht berücksichtigt werden. Opfer einer Hungersnot oder einer Naturkatastrophe oder auch eines Bürgerkrieges (ohne, dass sie individuell verfolgt werden) können demnach keine Flüchtlinge sein.

Die Würdigung des subjektiven Moments der Furcht ist laut UNHCR untrennbar mit der Beurteilung der Persönlichkeit des Antragstellers verbunden. Die psychische Reaktion von Personen unter äusserlich gleichen Bedingungen muss nicht identisch sein. Beispielsweise können Kinder, Eltern, oder kranke Personen schneller ängstlich reagieren, als gesunde, erwachsene und ausschliesslich für sich selbst verantwortliche Personen. Auch eine übertriebene Furcht kann begründet sein. Die Befürchtungen müssen zudem nicht unbedingt auf eigenen Erfahrungen der betroffenen Person beruhen. Beispielsweise sind sogenannte «Reflexverfolgungen» möglich: Dabei handelt es sich um Verfolgungshandlungen, die darauf abzielen, eine dritte Person zu schädigen oder zu einem Tun oder einem Unterlassen zu bewegen (etwa Eltern, Geschwister oder Freunde).

 

© Jérôme Berbier

Da dem subjektiven Element so viel Bedeutung beigemessen wird, ist eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Person des Antragstellers unerlässlich. Der familiäre Hintergrund, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (religiösen, ethnischen, sozialen, etc.) Gruppe und die persönlichen Erfahrungen der Antragsteller müssen daher genau untersucht werden. Die Begriffe der «Verfolgung» bzw. der «Furcht vor Verfolgung» gehören allerdings nur selten zum Vokabular der geflüchteten Person. Eine individuelle Würdigung der geschilderten Erlebnisse und Fluchtgründe ist sehr wichtig. Für das objektive Element («begründet») können hingegen vorgelegte Indizien (z.B. Briefe, Drohungen per E-Mail oder Nachweise von etwaigen Verletzungen) und die Kenntnis der Verhältnisse im Herkunftsland bedeutende Faktoren sein.

 

Auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVGE 2010/57 E. 2.5) geht in diese Richtung: Das Gericht weist ebenfalls darauf hin, dass die begründete Furcht ein subjektives und ein objektives Element enthält. Die Gefahr muss daher objektiv für andere Personen erkennbar sein und subjektiv muss eine Furcht vor Verfolgung vorliegen. Die asylsuchende Person muss aufzeigen, inwiefern bereits konkrete Massnahmen ergriffen wurden, die eine zukünftige Verfolgung wahrscheinlich machen. Es wird darauf abgestellt, ob ein «vernünftiger Dritter» in der gleichen Situation ebenfalls Furcht vor Verfolgung hätte. Wer bereits Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt war, hat objektive Gründe für eine ausgeprägtere (subjektive) Furcht (BVGE 2010/57 E. 2.5). Die Anforderungen an die objektiven Gründe sind in diesem Fall herabgesetzt.

 

Die schwierige Aufgabe der Prüfenden

Die Verfolgung muss sowohl bezüglich ihrer Wahrscheinlichkeit als auch bezüglich der zeitlichen Absehbarkeit ihres Eintreffens konkret sein. Es müssen also hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohungslage vorliegen. Laut Bundesverwaltungsgericht kann aber manchmal auch eine «allgemeine Verfolgungsgefahr» genügen. So können Personen, die sich öffentlich gegen das Regime in ihrem Heimatland gestellt haben, begründete Furcht vor Verfolgung haben, auch wenn sie bis zu ihrer Flucht keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren. Beispielsweise bestätigte das Bundesverwaltungsgericht bei einer Fichierung von politisch unbequemen Personen in der Türkei, dass eine begründete Furcht vor zukünftiger Verfolgung bestehe (BVGE 2010/9). Dieses Beispiel zeigt, dass die Kompetenz und Sachkenntnis der beurteilenden Person von erheblicher Bedeutung ist, um dem komplexen Begriff der «begründeten Furcht vor Verfolgung» Rechnung zu tragen – keine leichte Aufgabe angesichts der Arbeitsbelastung des Staatssekretariats für Migration. Der oder die «perfekte» SachbearbeiterIn im Asylbereich sollte also idealerweise halb JuristIn, halb PsychologIn sein, jedenfalls aber über sehr viel Menschenkenntnis und Sachverstand verfügen, wenn er oder sie die «begründete Furcht vor Verfolgung» untersucht.

 

Unsere Expertin Sarah Progin-Theuerkauf ist seit 2009 Professorin für Europarecht und Migrationsrecht an der Universität Freiburg. Sie forscht u.a. zum Europäischen Asylrecht, dem umstrittenen Dublin-System und anderen Rechtsfragen im Zusammenhang mit Flucht und regulärer Migration. Zudem ist sie Co-Direktorin des Zentrums für Migrationsrecht und Leiterin eines Projekts zur Migration von Drittstaatsangehörigen in die EU im NCCR On the move, einem durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsnetzwerk. Sarah Progin-Theuerkauf hat in Bonn und Freiburg (CH) Jus studiert und in Freiburg (CH) dissertiert. Vor ihrer Tätigkeit als Professorin war sie als Rechtsanwältin tätig.

sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch