Vorlesung: Erkenntnistheorie nach Protagoras (pan, eme)
UE-L01.02564

Enseignant(s): Lienemann Béatrice
Cursus: Bachelor
Type d'enseignement: Cours
ECTS: 3
Langue(s) du cours: Allemand
Semestre(s): SA-2024

Ist der Skeptizismus erst im Hellenismus entstanden oder gab es schon in der klassischen Antike ein Bewusstsein für die Frage, ob und, wenn ja, wie Wissen möglich ist? Die Vorlesung folgt damit der zentralen Idee des Buchs «Epistemology After Protagoras – Reponses to Relativism in Plato, Aristotle, and Democritus» von Mi-Kyoung Lee (2005) und bietet gleichzeitig eine Einführung in die Entwicklung der antiken Erkenntnistheorie aus der Perspektive, wie Platon, Aristoteles und Demokrit auf die Probleme des protagoreischen Relativismus reagiert haben.

Der Sophist Protagoras formuliert in seinem nur fragmentarisch überlieferten Buch mit dem Titel «Wahrheit» (Alêtheia) die Behauptung, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, sowohl von dem, was ist, als auch von dem, was nicht ist. Nach diesem homo-mensura-Satz würde gelten: wenn mir der Wind kühl erscheint, dann ist er kühl; und wenn einer anderen Person derselbe Wind warm erscheint, dann ist er auch warm. Protagoras’ Position stellt eine Herausforderung dar: Sie stellt die Möglichkeit von Expertenwissen in Frage, sie unterläuft die Vorstellung, dass es eine subjektunabhängige Wirklichkeit gibt, und sie untergräbt die Annahme, dass die Vernunft eine höhere kognitive Kapazität als die Wahrnehmung ist. Zahlreiche der Argumente, die Protagoras zur Bestätigung des homo-mensura-Satzes vorgebracht hat, tauchen später im Repertoire der hellenistischen Skeptiker wieder auf – und das gleiche gilt auch für die Argumente, die Platon, Aristoteles und Demokrit gegen Protagoras’ Relativismus vorgebracht haben. In der Vorlesung werden die Reaktionen auf die «skeptische» Herausforderung bei Platon, Aristoteles und Demokrit nachgezeichnet. Platon setzt sich insbesondere im «Theätet» mit der relativistischen Position auseinander und widerlegt Protagoras u.a. mit dem Nachweis eines Selbstwiderspruchs. Aristoteles greift diese Kritik in Buch Γ der «Metaphysik» auf und unterstellt Protagoras u.a. die Verletzung des Prinzips der Nicht-Widersprüchlichkeit. Der (oft als Vorsokratiker klassifizierte) Demokrit erweist sich als ein modifizierter Protagoras, der zwar daran festhält, dass alle Sinneswahrnehmung wahr ist, der aber die These ablehnt, dass alle Meinungen wahr sind.

Die Vorlesung folgt zwar einerseits einem roten Faden, indem sie dem «Skeptizismus avant la lettre» in der klassischen Antike nachspürt; sie vermittelt dabei aber andererseits auch eine Einführung in die Entwicklung der Erkenntnistheorie im klassischen Griechenland. Anhand von zentralen und faszinierenden (und bisweilen auch schwierigen) Texten werden wir sehen, wie Platon, Aristoteles und Demokrit in Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen des Relativismus ihre Argumente für die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis entwickelt und begründet haben. Dabei werden zentrale philosophische Themen wie die Bedeutung der Sinneswahrnehmung für den Erkenntniserwerb, die Möglichkeit von objektiver Wahrheit, die Möglichkeit der Kopräsenz widersprüchlicher Eigenschaften, die Gültigkeit des Prinzips der Nicht-Widersprüchlichkeit (Principle of Non-Contradiction), die Subjektabhängigkeit von Sinnesqualitäten und die Frage nach der epistemischen Autorität zur Sprache kommen.


Documentation

  • Mi-Kyoung Lee: Epistemology After Protagoras: Reponses to Relativism in Plato, Aristotle, and Democritus. Oxford. OUP. 2005.