Publikationsdatum 15.02.2024

Das Wort des Dekans Joachim Negel - FS 2024/I


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde

Alljährlich schreibt die Theologische Fakultät den sog. „Maturapreis“ aus. Maturandinnen und Maturanden der Schweizer Mittelschulen und Lyceen, die im Themenbereich „Ethik, Gesellschaft, Religion“ ihre Maturitätsarbeit verfaßt haben, sind eingeladen, sich um diesen Preis zu bewerben. Und da kommt immer ein bunter Strauß zusammen: Aufsätze, Essays und Präsentationen aus den Sachgebieten Spiritualität, Frömmigkeits-, Religions- und Kirchengeschichte, interreligiöser Dialog, Kunst, Ethik, Psychologie, Migration usw. Die eingereichten Arbeiten sind durchweg von hoher Qualität; es ist eine Freude, sie zu lesen. Eines freilich fällt auf: Arbeiten, die sich einem dezidiert theologischen Thema widmen, sind immer seltener darunter. Es überwiegt der soziologische Blick von außen: Wie feiern Muslime den Ramadan? Wie finden sich afghanische Asylbewerber in der Schweiz zurecht? Welche psychologischen Effekte zeitigen regelmäßig geübte Meditations- und Yogaübungen? Wie kam es zur Einführung des Christbaums in die Schweizer Wohnstuben des 19. Jahrhunderts? Weshalb machen sich Menschen auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela? – Alles interessante Themen, keine Frage, aber Theologie wäre dann doch noch einmal etwas anderes. Theologie (der Begriff sagt es ja schon) stellt die Frage nach Gott. Wiederum christliche Theologie stellt noch einmal konkreter die Frage nach der Selbst­offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth und was dies für einen Christenmenschen und seine Art der Lebensgestaltung bedeute: politisch, religiös, existentiell. Von solchen elementaren Fragen klingt in den eingereichten Maturaarbeiten kaum noch etwas an. Was ist da passiert?

Nun, zum einen hängt dies sicherlich mit der Stellung des Faches „Religion“ in den öffentlichen Schulen zusammen. Dieses wird in den meisten Kantonen der Schweiz immer weniger in Gestalt eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichtes erteilt, sondern in Form eines Religionskundeunterrichts: Nicht mehr ein „teaching in religion“, sondern ein „teaching about religion“ ist anvisiert, d.h. ein Unterricht, der nicht im Rahmen eines kirchlichen Glaubensbekenntnisses erfolgt, sondern aus der neutralen Außenperspektive Informationen über die verschiedenen Religions- und Weltanschauungs­systeme gibt, ohne sich mit diesem oder jenem Bekenntnis zu identifizieren.[1] Dieser Wandel des schulischen Religionsunterrichtes ist nur der konsequente Ausdruck der Entwicklung der religiösen Landschaft der Schweiz insgesamt. Nachdem in den reformiert geprägten Kantonen schon in den 1930er Jahren signifikante Abschwächungen in der religiösen Praxis zu vermelden waren, vermerken die Religionssoziologen seit den 1970er Jahren ähnliche Tendenzen auch in den katholischen Gebieten der Schweiz. Diese Tendenzen verschärfen sich gegenwärtig rasant. „Noch im Jahr 1990“, so die Neue Zürcher Zeitung in einem vor wenigen Tagen erschienenen Artikel, „waren die Konfessionslosen mit 7,5 Prozent ein kleines Grüppchen, während der Großteil der Schweizerinnen und Schweizer völlig selbstverständlich reformiert oder katholisch war. Heute ist nur noch jeder Zweite in einer der grossen Landeskirchen – und der Mitgliederstamm schmilzt rapide weiter.“[2] Eine solche Entwicklung wirkt sich auch auf den schulischen Religionsunterricht aus. Denn die Art und Weise, wie die Frage nach Gott gestellt wird, ist natürlich auch und nicht zuletzt geprägt von der Art und Weise der persönlichen Religiosität. Wo die Selbstverständlichkeit religiöser Praxis (Gottesdienst und Gebet, Beichte und Exerzitien etc.) abnimmt oder ganz verschwindet, ver­dunstet auch das Gefühl einer fraglosen Beheima­tung in Gott. Man nimmt noch wahr, daß es die muslimische Mitschülerin oder Kommilitonin gibt, die ein Kopftuch trägt, oder den Arbeitskollegen, der einer charismatischen Freikirche angehört und deshalb seine Wochenenden in der Gemeinde verbringt und nicht auf dem Fußballplatz; aber warum diese Leute das tun, das weiß man nicht, und so wird es (wie der religionskundliche Unterricht zeigt) zu einem Gegenstand kulturellen Interesses, vergleichbar etwa dem Interesse, das man der Stiftsbibliothek von St. Gallen entgegenbringt, der Klosterbrauerei der Grande Chartreuse oder dem Kölner Dom: „Interessant, aber wieso wahr?“

Damit scheint mir nun auch ein zweiter Grund am Tag, weshalb dezidiert theologische Themenstellungen in den erwähnten Maturaarbeiten immer weniger bearbeitet werden: Es liegt wohl daran, daß der Anspruch der Theologie, der Mensch sei im strengen Sinn des Wortes wahrheitsfähig, immer weniger zu vermitteln ist. – Wahrheit? Für viele ist das ein ideologischer Kampfbegriff geworden, von dem man sich tunlichst fernhält. Wahrheit gibt es, wenn überhaupt, nur im Plural. Und es stimmt ja auch: Wieviel Unheil hat man nicht im Namen der Wahrheit angerichtet: der Wahrheit nicht nur Gottes und der Kirche, sondern auch der Partei, der Politik, der Wissenschaft, des Fortschritts usw.! Aber darf man deswegen die Frage nach der Wahrheit vergessen? Dürfte man von ihr lassen? Denn daß sich etwas bewahrheitet in meinem Leben; daß es zu einer ihm angemessenen Gestalt finde, daß es sich öffne auf das ihm Zugemes­sene, Zuge­dachte…: Was wäre schöner als dies?! Und plötzlich merkt man: „Wahrheiten, die etwas zählen in einem Leben, sind nie ohne die eigene Beteiligung zu haben“[3], das gilt in philosophischer Hinsicht nicht weniger als in religiöser. Wer bspw. den Kategorischen Imperativ Immanuel Kants verstehen will, muß eine Ahnung von der Unbedingtheit ursprünglicher Moralität haben, sonst werden ihn auch Moralpredigten nur höchstens einschüchtern; die Dimension des kategorischen „Du sollst“ bleibt ihm verschlossen. Ob die derzeitigen Modelle schulischen Religionsunterrichtes, die sich darum bemühen, in möglichst neutraler Äquidistanz zu ihrem Gegenstand zu stehen, dann aber in der Lage sind, den existentiellen Nerv zu treffen. Ob sie in der Lage sind, Sinn zu vermitteln? Einen Sinn gar, der in Gott gründet? – Aber vielleicht wollen sie das auch gar nicht. Vielleicht ist dies ja auch gar nicht die Aufgabe staatlicher Erziehung. Sinnvermittlung –: Das riecht zu sehr nach Verbindlichkeit und Religion.

Und doch wäre es ein riesiger Verlust, wenn die Frage nach den „Wahrheiten, die etwas zählen in einem Leben“, im schulischen (Religions)Unterricht nicht mehr gestellt würde. So liberal ein solcher Unterricht erschiene, so weltoffen, emanzipiert und tolerant – er wäre belanglos geworden. Der innere Kompaß wäre einem solchen Unterricht abhandengekommen und damit die Ahnung, wie sehr der Mensch – jeder Mensch (ob es ihm nun gefällt oder nicht) – auf Wahrheit angelegt ist. Denn jeder Mensch ist eine Frage, jeder Mensch ist ein einziges großes „Warum“, und doch können wir dieses „Warum“ aus eigener Kraft nicht beantworten. Wie soll man auch je einen Menschen ausschöpfen? Wie erschöpfend beschreiben, wer ich bin, wer du bist? Jeder Mensch ist absolut und zugleich zutiefst relativ – d.h. bezogen auf etwas, das größer ist als er selbst. Und so geraten wir einmal mehr vor die Gottesfrage, nicht teilnahmslos, als sei die Rede von der Existenz des Riesenkraken oder des Einhorns, die man bejahen oder verneinen kann, ohne daß es einen sonderlich berührt, sondern mit jenem existentiellen Ernst, wie er den großen Philosophen und Theologen eigen ist – einem Platon und Aristoteles, einem Thomas von Aquin, einem Kant, Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche; sie alle würden sich problemlos Sätze wie die folgenden zu eigen machen: „Gott ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema.“[4] „Meine Wahrheit wäre nicht Wahrheit, wenn sie nicht Wahrheit für alle sein könnte.“[5]

Dagegen ein Religionskunde- oder Weltanschauungsunterricht, der sich nicht mehr traut nach dem zu fragen, was ist, sondern nur noch nach dem, was wir mit den Dingen tun; dem es nicht mehr um Wahrheit geht, weil die ja sowieso unerreichbar ist, sondern um die diversen kulturellen Praktiken –: ein solcher Unterricht mag uns zwar zeit­gemäßer dünken als ein Religionsunterricht klassischen Typs. Und doch bliebe er schwachbrüstig. Denn er dächte gering vom Menschen – und damit gering von den Schülern; er nähme sie in der Dringlichkeit ihrer Fragen nicht ernst bzw. hätte kein Interesse daran, solche Fragen in ihnen überhaupt erst zu wecken. Im Vergleich dazu erscheint eine Theologie klassischen Typs, so hausbacken sie auf den ersten Blick auch sein mag, als deutlich hellsichtiger. Denn sie entlarvt sowohl die falsche Demut als auch den falschen Hochmut der weltanschaulich Äquidistanzierten. Wo man nämlich dem Menschen die Wahr­heitsfähigkeit abspricht, da stellt man sich nur allzu rasch auch über die Dinge und über die Wahrheit, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Und so wird man wider Willen zu jenem „maître et possesseur du monde“, der man gar nicht sein möchte. – Vielleicht wird sie ja kommen, die Zeit, da man uns wieder dezidiert theologische Maturaarbeiten zu lesen gibt.

Joachim Negel, Dekan


[1]     Stephan Leimgruber, Von Kanton zu Kanton verschieden. Neue Ansätze des Religionsunterrichtes in der Schweiz, in: Herder Korrespondenz Spezial Nr. 2/2013, S. 48-52.

[2]     Simon Hehli, Die gottlosen Heerscharen. Drei Millionen Menschen [in der Schweiz] gehören keiner Kirche an – eine heterogene Gruppe von Kampfatheisten, Esoterikern und religiös Indifferenten, in: NZZ Nr. 34/245, Samstag, 10. Februar 2023, S. 13.  

[3]     Thomas Pröpper, ‚Wenn alles gleich gültig ist…‘ Subjektwerdung und Gottesgedächtnis, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. u.a. 2001, 23-39, hier 24.

[4]     Johann Baptist Metz, Gotteskrise als Signatur der Zeit, in: ders., Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Zeit, Freiburg i.Br. 2006, 69-78, hier 70.

[5]     Thomas Pröpper, Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben, in: ders., Evangelium und freie Vernunft (Anm. 3), 72-92, hier 74. – Ähnlich Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 15.