Regina Kiener, Ehrendoktorin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, betont, wie wichtig es ist, dass wir alle uns am Rechtsstaat beteiligen. Sie ist Expertin für Fragen zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten. Diese Expertise hat Regina Kiener nicht nur im Vorlegungssaal geteilt, sondern auch im Rahmen von zahlreichen Kommissionen eingesetzt.
Regina Kiener, erstmal herzlichen Glückwunsch zum Ehrendoktortitel! Wie haben Sie reagiert, als Sie davon erfahren haben?
Vielen Dank! Die Ernennung kam völlig überraschend – wer erwartet schon eine solche Ehrung?
Sie haben viele Jahre an den Universitäten Bern und Zürich Staats- und Verwaltungsrecht gelehrt und auf diesen Gebieten auch geforscht. Gleichzeitig sind und waren Sie in zahlreichen Kommissionen im In- und Ausland tätig. Haben sich diese beiden Welten – die akademische Arbeit und die Kommissionsarbeit – gegenseitig beeinflusst?
Das Verankertsein in verschiedenen juristischen Welten habe ich immer als befruchtend und inspirierend erlebt. So hat meine Forschung im Bereich der Justiz zu Gutachten, zum Einsitz in Expertenkommissionen oder zum Richteramt im Justizgericht des Kantons Aargau geführt. Meine Tätigkeit in der Venedig-Kommission des Europarats wiederum hat eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten und ihren gegenseitigen Bezugspunkten zur Folge. Gutachten – zum Beispiel zu den Rechten von Sans-Papiers oder zur baurechtlichen Behandlung von Kultusbauten – konnte ich später in wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren, was wiederum Auswirkungen auf die Praxis hatte, über das konkrete Gutachten hinaus.
Eine Kommission, die Ihnen sehr am Herzen liegt, ist die Venedig-Kommission, die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht. Was ist der Zweck dieses Gremiums und welche Aufgabe kommt Ihnen darin zu?
Die Venedig-Kommission ist das Beratungsorgan des Europarats in Verfassungsfragen.
Der Kommission gehören neben den 46 Europaratsstaaten auch 15 weitere Staaten an, wie die USA, Kanada, Mexiko, Marokko, Kirgistan oder Südkorea. Jeder dieser Staaten stellt ein Mitglied und ein Ersatzmitglied; ich bin seit über 12 Jahren Mitglied der Kommission und habe dort mit Ausnahme des Präsidiums alle Funktionen ausgeübt, darunter das Amt der Vizepräsidentin.
Die Kommission, deren vier jährliche Plenarsitzungen in Venedig stattfinden, hat verschiedene Aufgaben: Sie verfasst Rechtsgutachten zu hängigen Gesetzgebungsprojekten und Verfassungsrevisionen, sei es auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaates selbst, sei es auf Antrag des Europarats, der EU, von OSCE/ODIHR oder der Organisation Amerikanischer Staaten OAS. Die Kommission verfasst auch sogenannte Amicus Curiae-Briefs für nationale Verfassungsgerichte und regelmässig auch für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Aus eigener Initiative verfasst die Kommission rechtsvergleichende Reports zu spezifischen Sachthemen. Die „Rule of Law Checklist“ der Venedig-Kommission gilt mittlerweile als internationaler Standard für die Bewertung von Rechtsstaatlichkeit in einem Land. Ein aktueller Report betrifft die rechtsstaatliche und menschenrechtskonforme Regulierung von staatlicher Spyware wie „Pegasus“. Im Moment arbeiten wir unter anderem an einem Bericht auf der Basis einer rechtsvergleichenden Studie zum Thema der ausländischen Einflussnahme, zum Beispiel anlässlich von Wahlen, durch Lobbying, durch die Finanzierung von Glaubensgemeinschaften oder im Bereich der universitären Forschung.
Nicht zuletzt wirkt die Kommission als Rechtsberaterin für Wahlbeobachtungsmissionen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, der PACE. In dieser Funktion konnte ich im vergangenen September die PACE-Delegation bei den Parlamentswahlen in der Republik Moldova juristisch beraten und begleiten.
Im Rahmen Ihres Vortrags anlässlich des Dies Academicus sprachen Sie über Rechtsstaatlichkeit. Erlauben Sie mir eine Frage für alle Nicht-Jurist_innen: Was ist Rechtsstaatlichkeit?
Rechtsstaatlichkeit ist ein tragender Wert der Bundesverfassung, des Europarats und der EU und gilt weltweit als Massstab für gute Regierungsführung. Rechtsstaatlichkeit ist eine Voraussetzung für die Demokratie und für die Geltung der Menschenrechte.
Rechtsstaatlichkeit besteht aus verschiedenen Elementen. Im Vordergrund steht der Vorrang des Rechts – alles staatliche Handeln muss sich auf das Recht abstützen, und niemand steht über dem Recht. Dazu kommt die Rechtssicherheit – das Recht muss klar und zugänglich sein, so dass alle wissen, was gilt und ihr Handeln danach ausrichten können. Weiter werden auch die Gewaltenteilung und der Zugang zu unabhängigen Gerichten zur Rechtsstaatlichkeit gezählt. Und nicht zuletzt die Geltung der Grund- und Menschenrechte.
Sie schlossen den Vortrag mit den Worten: Rechtsstaatlichkeit ist kein Zustand, es ist eine Tätigkeit. An wen richtet sich die implizite Aufforderung, nicht untätig zu sein?
Es war das Schlusswort eines Vortrags, in dem ich die auch in Europa zu beobachtenden Tendenzen zur Aushöhlung des Rechtsstaats nachgezeichnet habe.
Die Aufforderung richtet sich an uns alle. Wir können die Sorge um den Rechtsstaat nicht den Gerichten überlassen, so wichtig diese für den Rechtsstaat sind. Gefordert sind alle staatlichen Institutionen, die Gerichte, die Parlamente ebenso wie die Regierung und die Verwaltung, Schulen und Universitäten, die Polizei. Gefordert sind wir alle. Der Rechtsstaat lebt davon, dass wir unsere politischen Rechte auch wahrnehmen und an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirken. Oder davon, dass wir die staatlichen Institutionen respektieren und ein Gesetz, ein Gerichtsurteil, eine behördliche Anordnung oder auch ein Wahl- oder Abstimmungsergebnis auch dann akzeptieren, wenn es sich nicht mit unserer Sichtweise deckt. Davon, dass wir uns rechtstaatlicher Mittel bedienen, wenn wir mit solchen Ergebnissen nicht einverstanden sind. Eine besondere Verantwortung für die Rechtstaatlichkeit tragen wir als Juristinnen und Juristen, denn in der historischen Erfahrung wurde die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit wesentlich auch durch Juristen ermöglicht, die an Gerichten, in Staatsanwaltschaften oder in der Verwaltung jeweils der Politik und nicht dem Recht gefolgt sind.
Was würden Sie Studierenden, insbesondere der Rechtswissenschaften, gerne mit auf den Weg geben?
Bleiben Sie dran – Sie sind wichtig. Sie gestalten die Zukunft unseres Gemeinwesens, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Generationen, die nach Ihnen kommen. Halten Sie sich an die Werte der Bundesverfassung, darunter an diesen schönen, wahren und wichtigen Satz: „Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.“
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