Kirche und Recht – Ein Widerspruch?

Die Kirche ist eine spirituelle Größe ohne Grenzen, das Recht ein Fach mit Einschränkungen – zwei widersprüchliche Begriffe also. So denkt man, oft auch Akademiker an Universitäten. Das Kanonische (oder das kirchliche) Recht ist aufgrund der der Kirche innewohnenden Eigenheiten entstanden, die normative und institutionelle Dimension des Kanonischen Rechtes findet ihren Ursprung bereits in der neutestamentlichen und der apostolischen Zeit, als «alle alles gemeinsam hatten»(Apg 2,44). Da Gott den Menschen aber als ein soziales, ein gesellschaftliches Wesen geschaffen hat, ist es jedoch ganz natürlich, daß die Kirche über ein eigenes Recht verfügt.

Einerseits hat das Kirchenrecht Ähnlichkeiten mit anderen juridischen Systemen, andererseits gibt es Charakteristika, die es von diesen unterscheiden. Die Grundlagen des Kirchenrechts sind theologischer Natur, und dessen Zielsetzung, das salus animarum, das Heil der Seelen, ist spiritueller Natur. Damit hat das Kirchenrecht eine tiefe Verbindung zur Theologie, insbesondere zur Ekklesiologie, aber auch zum staatlichen Recht.

Das Kanonische Recht, das Recht der katholischen Kirche, hat eine lange, zweitausendjährige Geschichte. Die Normen wurden im Mittelalter im Corpus Iuris Canonici zusammengefasst und fanden, dem Vorbild des Code Napoléon (und anderer napoleonischer Kodifikationen) folgend, ihre Kodifikation im Codex Iuris Canonici von 1917. Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) wurde eine umfassende Revision vorgenommen, deren Ergebnis sich im neuen Kodex von 1983 findet. Dieser betrifft die Gläubigen der Lateinischen Kirche. Ein eigener Kodex für die katholischen Ostkirchen, zweiundzwanzig an der Zahl, wurde 1990 veröffentlicht. Die katholische Kirche zeigt sich in einer Vielzahl von Traditionen, die doch alle einen einzigen und gemeinsamen Glauben bekennen.

Obschon das Kirchenrecht sich zunächst vor allem mit dem inneren Recht der Kirche beschäftigt, betrifft es traditionell auch das Verhältnis von Kirche und Staat, vor allem auf der Basis von Konkordaten und anderer internationaler Verträge. Damit ist auch das Staatskirchenrecht Gegenstand der kanonistischen Disziplin und kann sich von Staat zu Staat, in der Schweiz sogar von Kanton zu Kanton, unterscheiden. Da sich die modernen westlichen Gesellschaften mehr und mehr durch Ankunft und Anwesenheit anderer christlicher Gemeinschaften charakterisieren (anderer als der, die schon seit Jahrhunderten das Bild der Gesellschaft prägten), ja auch durch die Anwesenheit anderer, nichtchristlicher Religionen, ist das staatliche Recht immer mehr verpflichtet, auch diese in den Blick zu nehmen. Man spricht daher heute mehr und mehr von Religionsrecht.

Dies darf nicht mit dem inneren Recht der Religionsgemeinschaften verwechselt werden: Dieses kümmert sich um das innere Recht und die inneren Belange: Um Verordnungen der verschiedenen christlichen Kirchen, nicht nur der katholischen, auch der reformatorischen, der orthodoxen, der altorientalischen, der christ- oder altkatholischen, der anglikanischen Kirche, und natürlich auch um das innere Recht anderer Religionen wie beispielsweise des Judentum und des Islam.

Im Ganzen hat sich damit die Disziplin des Kirchenrechts in den vergangenen Jahrzehnten bedeutend erweitert: Sie befindet sich heute in einer interdisziplinären Umgebung, offen für Theologie, für Recht und andere Humanwissenschaften, sie kann damit zum ökumenischen und interreligiösen Dialog beitragen und ihre Stimme zu aktuellen Phänomenen und Problemen erheben, kirchlichen wie gesellschaftlichen. Kurz: Eine spannende Disziplin!