Tresa Rüthers-Seeli – Eine Pionierin der surselvischen Lyrik

Tresa Rüthers-Seeli – Eine Pionierin der surselvischen Lyrik

Mit der Übergabe ihres Archivs an das Schweizerische Literaturarchiv ist das Werk der surselvischen Dichterin Tresa Rüthers-Seeli neu ins Zentrum der Forschung gerückt. Literaturwissenschaftler Renzo Caduff ordnet ihre Bedeutung für die rätoromanische Literatur ein und erklärt, was das Archiv über die poetische Arbeitsweise der Autorin verrät.

Wer ist Tresa Rüthers-Seeli, und weshalb gilt sie als so wichtige Stimme in der surselvischen Literatur?
Tresa Rüthers-Seeli (1931) ist in Falera/Bündner Oberland gemeinsam mit vier Schwestern in einer Bergbauernfamilie aufgewachsen. Entgegen den damaligen Gepflogenheiten in der Surselva durften sie und ihre vier Schwestern alle eine Ausbildung absolvieren. Tresa Rüthers-Seeli machte eine Ausbildung zur Handarbeitslehrerin, arbeitete drei Jahre in einem Kinderheim und unterrichtete später an mehreren Orten in der Schweiz. Nach ihrer Heirat lebte sie mit ihrer Familie mehrere Jahre in Deutschland; seit fünfzig Jahren ist sie nun im Kanton Thurgau wohnhaft. Als Bündnerromanin in der Diaspora habe sie aber nie den Kontakt mit ihrer Heimat abgebrochen, betont die Dichterin in Gesprächen immer wieder, zudem seien die Sprache und die Religion für sie wichtige «Inseln» in der «Fremde» gewesen und geblieben. Für mich als Literaturwissenschaftler ist vor allem ihre Aussensicht auf ihre Herkunftsregion interessant, die in den Gedichten immer wieder aufscheint.

Tresa Rüthers-Seeli ist bis heute eine der wenigen Dichterinnen, die auf Surselvisch publiziert hat. Im Gegensatz zur Lyrik in anderen bündnerromanischen Varietäten, wie dem Vallader/ Unterengadinischen oder dem Puter/ Oberengadinischen, gilt die surselvische Lyrik noch heute als fast reine Männerdomäne.

Was zeichnet ihre Lyrik stilistisch oder thematisch besonders aus?
Rüthers-Seelis Gedichte zeugen von einer bedingungslosen Aufrichtigkeit und thematisieren Brauchtum und Tradition, Religion und immer wieder die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Irdischen. Ihre Sprache ist bewusst einfach gehalten, direkt und klar. Durch ein umgangssprachliches und mitunter kraftvolles Register erzeugt diese Motivwahl jedoch keinesfalls Pathos, sondern entspricht vielmehr einer eindrücklichen und ehrlichen Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Lebens. Die Dichterin spricht mit ihren Gedichten persönliche Erfahrungen und Themen an, die einerseits individuellen Charakter haben, andererseits aber oft auch einen allgemeingültigen Wert aufweisen. Diese Gratwanderung, bei der im selben Gedicht gleichzeitig jeder einzelne sowie wir alle angesprochen und berührt werden, gelingt der Dichterin in ihren Gedichten immer wieder.

Typisch für die Dichterin sind auch die Einbindung von sowohl romanischen wie auch deutschen Redewendungen und Gemeinplätzen sowie die Anlehnung an die Natursymbolik, nicht ohne überraschende Brüche, Umkehrungen und ironische Wendungen. So fällt im Gedicht «Maischnee» der Stein nicht vom Herzen, sondern das lyrische Ich wirft ihn vom Herzen in den Himmel. Wenn der Stein wiederum in die Zweige des Kirschbaums fällt, schneit es «Kirschblütenschnee».

Neiv matg

Jeu fierel

el tschiel

il crap

giu dil cor

 

crod’el

ellas frastgas

neiv’ei

ina neiv

da fluras

tscherscher

(Rüthers-Seeli 2003)

Maischnee

Ich werf

in den Himmel

vom Herzen

den Stein

 

fällt er

in die Zweige

schneit es

einen Schnee

Kirschblüten-

Schnee

(Übersetzung durch die Autorin, 1998)

Eine der Qualitäten dieses Gedichts ist es, dass es der Dichterin gelingt, aus einer verblassten Bildlichkeit auszubrechen und mit dem aus dem Deutschen entlehnten Sprichwort «mir fällt ein Stein vom Herzen», das es in der surselvischen Muttersprache der Dichterin so nicht gibt, spielerisch umzugehen.

Welche Rolle spielt ihr Werk im Kontext der rätoromanischen Literatur insgesamt?
Tresa Rüthers-Seeli ist eine der ersten Autorinnen, die im Idiom Sursilvan publiziert hat. Seit 1956 publizierte sie vor allem Gedichte, aber auch einzelne Prosatexte in verschiedenen rätoromanischen Zeitschriften, damals jedoch noch unter dem Pseudonym «Melania». Über dreissig Jahre nach ihrer ersten Gedichtpublikation erschien unter ihrem Namen ein eigener Gedichtband «Tras melli veiders» (1987, wörtlich übersetzt etwa: Durch tausend Scherben) – die erste selbständige Gedichtpublikation einer surselvischen Autorin überhaupt.

Bereits in ihren ersten Gedichten fällt auf, dass hier eine Dichterin einen eigenen Ton gefunden zu haben scheint. Dies vor allem im Vergleich mit dem Stil und der Form der Gedichte ihrer männlichen Dichterkollegen, die in derselben Zeit publizierten. Oft hat man auch den Eindruck, die Dichterin wolle mit ihren Gedichten gegen Festgefahrenes anschreiben.

Am 11. September hat an der Unifr eine Tagung zu Rüthers-Seeli stattgefunden. Was war die Motivation, gerade jetzt eine Konferenz zu organisieren?
2023 hat Tresa Rüthers-Seeli ihr Archiv dem Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern übergeben. In der Zwischenzeit wurde das Archiv inventarisiert, sodass das Inhaltsverzeichnis nun Online eingesehen werden kann. Aus Anlass der Übergabe und der Erschliessung des Nachlasses fanden wir, dass es ein günstiger Moment sei, das facettenreiche lyrische Werk von Tresa Rüthers-Seeli zu diskutieren und bekannter zu machen und insbesondere für den Bereich der Lyrik-Übersetzung neue Erkenntnisse zu Rüthers-Seelis Gedichten zu gewinnen. Zudem war es möglich, fast alle Übersetzerinnen der Gedichte Rüthers-Seelis zu einem Erfahrungsaustausch einzuladen. In zehn Jahren wäre dies nicht mehr möglich gewesen. Wir Bündnerroman_innen organisieren gerne Hundertjahrsymposien zu Autor_innen, diesmal wollten wir eine Tagung zu Werk und Archiv einer Autorin veranstalten, die auch wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr schreibt, noch unter uns ist.

Welche Themen oder Fragen standen bei der Tagung im Vordergrund?
In den letzten Jahren erschienen zahlreiche ein- oder zweisprachige romanisch-deutsche Gedichtbände von bündnerromanischen Autor_innen. Oft werden diese dann auch in andere Sprachen v.a. ins Deutsche oder Französische übersetzt. Die Werke werden jedoch kaum wissenschaftlich rezipiert, sondern lediglich im Rahmen von Vor- und Nachworten sowie Rezensionen in den lokalen Medien. Die spezifische Tagung zu Tresa Rüthers-Seelis lyrischem Werk – insgesamt handelt es sich um drei Gedichtbände die 1987, 2003 und 2015 erschienen sind – wollte dies ändern und die literaturwissenschaftliche Diskussion und Interpretation eines zentralen Einzelwerks weiterbringen. So trafen sich während zweier Halbtage Spezialistinnen und Spezialisten für das Werk Rüthers-Seelis sowie weitere Interessierte, um sich über ihr für die rätoromanische Literatur bedeutendes lyrisches Oeuvre auszutauschen und darüber zu diskutieren. Am Donnerstagnachmittag standen einerseits die Herausforderungen und Schwierigkeiten der lyrischen Übersetzung von Rüthers-Seelis Gedichten (u.a. ins Deutsche, Französische, Spanische, Serbische) und andererseits deren Vertonung im Vordergrund. Der Freitagmorgen war dann der Dichterin Tresa Rüthers-Seeli und ihrem Archiv gewidmet. Bei dieser Gelegenheit wurden auch einzelne Archivdokumente vorgestellt, die zur Deutung von Aspekten ihres Werks beitragen.

Welche Bedeutung hat es, dass Rüthers-Seeli ihr Archiv dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hat?
Rüthers-Seelis Nachlass im SLA beträgt nur sieben Archivschachteln. Im Verhältnis zu den Archiven ihrer männlichen Kollegen wie Andri Peer ist dies ein sehr kleines, aber feines Archiv. Die Dichterin hatte ein Leben lang die Gabe, so scheint es, sich vom Ballast, der sich im Laufe eines Lebens anhäuft, rechtzeitig zu trennen.

Das Archiv der Dichterin enthält nicht nur für das Verständnis ihres eigenen literarischen Werks aufschlussreiche Dokumente, sondern kann auch als relevante Dokumentation für zentrale literaturwissenschaftliche Aspekte wie die Rolle der Frauen in einer Regionalliteratur angesehen werden. Nicht zuletzt ist es eine wertvolle Ergänzung zu den sich bereits im SLA befindenden rätoromanischen Nachlässen der Lyriker Hendri Spescha und Andri Peer.

Gibt es Dokumente oder Materialien im Nachlass, die besonders spannend oder überraschend sind?
Ein interessantes Konvolut ist sicherlich die Dokumentation zur Reise nach Medellín, wo Tresa Rüthers-Seeli als Vertreterin der Schweiz 2001 am Festival Mondial de Poesia teilgenommen hat. Aus der darin enthaltenen Korrespondenz wird ersichtlich, wie die Dichterin einem internationalen Publikum bekannt wurde und wie sich daraus jahrelange Freundschaften ergaben, so zum Beispiel mit dem Lyriker Zlatko Krasni, der 2006 Rüthers-Seelis Gedichte auf Serbisch übersetzte.

Für die zukünftige wissenschaftliche Forschung interessante Dokumente sind ferner die Gedichtmanuskripte, die vor allem für die Textgenese von Rüthers-Gedichten aufschlussreich sind. Wie aus Interviews und Kommentaren ersichtlich wird, trägt die Dichterin ihre Gedichte Tage, wenn nicht Monate mit sich herum, sie «schreibt ihre Gedichte gewissermassen im Kopf». Erst später hält sie diese schriftlich fest. Bei der Analyse der nun zugänglichen Manuskripte bekommt man den Eindruck, es gehe zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung vor allem darum, die oft rhythmischen Einheiten in eine gültige visuelle Form zu bringen. Diese archivierten Dokumente geben somit Einblicke in die Textgenese und das literarische Schaffen einer für die bündnerromanische Lyrik wichtigen Stimme.

Für Forscher_innen, die sich für die Schwierigkeiten und Herausforderungen der Übersetzungsthematik interessieren, sind die nun öffentlich zugänglichen, dokumentierten Übersetzungen der Gedichte von Tresa Rüthers-Seeli als unabdingbarer Ausgangspunkt zu betrachten.

Welche Herausforderungen ergeben sich, wenn man Rüthers-Seelis Gedichte in andere Sprachen überträgt?
Wie bereits erwähnt, befasst sich die Dichterin in ihren Gedichten oft mit Themen und Motiven einer traditionell bäuerlich-konservativen Gesellschaft, die es heute in dieser Art kaum mehr gibt. Diese Welt in eine andere Sprache, zum Beispiel ins Französische oder Spanische, zu «übersetzen» ist nicht immer einfach. In manchen Fällen suchen wir als Übersetzer_innen nach einer illusorischen Identität bzw. Äquivalenz, anstatt mit der Übersetzung eher Sinn zu schaffen (vgl. Peter Utzs These «Übersetzen schafft Sinn, nicht Identität»). Der Umstand, dass die Ausgangssprache der Gedichte von Tresa Rüthers-Seeli zudem oft einfach ist, kann jemanden dazu verleiten, diese eins zu eins in die Zielsprache zu übersetzen. Insbesondere für mehrsprachige und des romanischen kundige Leser_innen sind diese textnahen Übersetzungen uninteressant. Für die Übersetzung von Rüthers-Seelis Gedichten könnte eine These, wiederum nach Utz, also durchaus lauten, dass sich «der Übersetzer im Übersetzen zeigen darf» (siehe Peter Utz, Anders gesagt – autrement dit – in other words, 2007). So wie in einem Beispiel von Flurin Spescha, wo die Versgruppe «plantagens/ cun liungas/ e cuortas/ manzegnas» (wörtlich: «Wegerich mit langen und kurzen Lügen») frei mit «Die Lügen/ des Spitzwegerichs/ haben kurze/ Beine» wiedergegeben wird, was das auch im romanischen Original anklingende deutsche Sprichwort wieder stärker betont.

Wie sieht es mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs aus – gibt es genügend junge Forschende, die sich dafür begeistern lassen? Und für Rätoromanisch insgesamt?
Das Studium der Rätoromanischen Sprache und Kultur war schon immer eine Nische. Wenn man zur Rätoromanischen Literatur bzw. zu spezifischen Autor_innen forscht, kann man selten auf umfangreichen Vorarbeiten anderer Forschenden aufbauen. Das ist einerseits spannend, aber andererseits manchmal auch eine Herausforderung. Das Interesse an der Rätoromanischen Sprache und Kultur nimmt aber nicht ab, gerade von Nicht Muttersprachler_innen.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Wissenschaftler’in (Dr. in Deutscher Sprachwissenschaft), Schriftsteller’in und nach einem CAS am MAZ auch als freie’r Wissenschaftsjournalist’in tätig. Seit 2018 arbeitet Lovis in der Redaktion von Unicom Kommunikation & Medien der Universität Freiburg.

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