Dossier

Die Unsterblichkeits­hoffnungen der Kryonik

Gibt es ein Leben nach dem ärztlich attestierten Tod? Im festen Glauben an den Fortschritt und das Potential der medizinischen Forschung meinen Kryoniker: Ja. Und lassen ihre Körper nach deren Ableben in eine Art Stand-by-Zustand versetzen.

Kultur- und religionsgeschichtlich betrachtet liegt der Gedanke nicht fern, dem menschlichen Körper auch in seinem postmortalen Zustand Pflege und Fürsorge zu Teil werden zu lassen. In der Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Kontinuität des Lebens oder eine Auferstehung wurden teils erhebliche Anstrengungen unternommen, um ein Fortleben zu sichern. Man denke z.B. an die Pyramiden und Grabkammern des Alten Ägypten. In der Kryonik verschmilzt die traditionelle Sorge um den Fortbestand des Leichnams mit der Hoffnung auf die medizinisch--technische Kontrolle des Todes selbst. Dabei werden fiktionale Vorstellungswelten fortgesetzt, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Science-Fiction Literatur verbreitet waren.

Realität vs Science-Fiction

Schon 1887 entwickelte der amerikanische Autor, Entdecker und Abenteurer William Clark Russell in seinem Roman «The Frozen Pirate» die Idee eines Menschen, der zufällig in einem Eisblock eingefroren wurde. Es folgen bis in die Gegenwart weitere literarische und filmische Variationen des Themas von Louis Boussenards «Dix mille ans dans un bloc de glace» (1889) bis hin zu «Hibernatus» mit Louis de Funès (1969), Woody Allens «Sleeper» (1973) und Enki Bilals «Immortal» (2004).

Was diese Science-Fiction Ideen von den Vorstellungen der kryonischen Bewegung unterscheidet, ist – abgesehen von der Normativität der Zukunftsvisionen – ihr Verhältnis zur Unsterblichkeit. Von Beginn an verfolgte die Kryonik nicht das Ziel, Menschen für Zeitreisen einzufrieren, sondern das Leben um eine unbegrenzte Zeitspanne zu verlängern. Die Anhänger der Kryonik sind fest davon überzeugt, dass eine Gesellschaft, die fähig sein wird, Menschen aus dem «kryonischen Tiefschlaf» zu erwecken, ebenfalls über eine ausserordentlich fortgeschrittene Medizin verfügen wird, so dass in dieser Zukunft überhaupt niemand mehr sterben müsse. All die negativen Begleiterscheinungen, die in der Science-Fiction durchgespielt werden – wie die kulturelle Orientierungslosigkeit, psychische Krisen oder die ökonomische Ausbeutung der eingefrorenen Menschen – werden in der Kryonik vollkommen ausgeblendet.

Mit Geduld zu neuem Leben

Was steht am Anfang der Kryonik? Als im Zuge der neuen Reanimationsmedizin in den 1950er Jahren die kontroverse Debatte um die Definition des Todes geführt wurde, keimt auch die Vision seiner technischen Überwindung auf. 1964 veröffentlicht Robert Ettinger, damals Dozent an einem Community College in Michigan, sein massgebliches Buch «The Prospect of Immortality» bei Doubleday, das später in acht weitere Sprachen übersetzt wurde. Der utopische Kerngedanke der Kryonik (abgeleitet vom griechischen = Eis) beruht auf dem Glauben an einen unbegrenzten medizinischen Fortschritt: «If civilization endures, medical science should eventually be able to repair almost any damage to the human body, including freezing damage and senile debility or other cause of death… Hence, we need only arrange to have our bodies, after we die, stored in suitable freezers against the time when science may be able to help us.» (Ettinger 1964, 11). Inspiriert durch Ettingers Vision gründeten sich ein gutes Dutzend von kryonischen Organisationen, von denen heute noch drei existieren.

Reise in die Kälte

Was aber passiert konkret mit den toten Körpern in der Kryonik? Die grösste Bedrohung für den Menschen ist aus Sicht der Kryonik ein ernsthafter Gehirnschaden. Das Gehirn wird als Sitz der menschlichen Identität angesehen und ist unverzichtbar für die spätere Wiederherstellung einer Person. Dem natürlichen Verfall der Gehirnzellen soll daher mit einer möglichst schnellen Kühlung der Leiche begegnet werden. Im (kostenintensiveren) Idealfall werden die letzten Tage oder Stunden eines sterbenden Kryonikers von einem Stand-by-Team begleitet, das sofort zur Aktion schreitet, nachdem ein unabhängiger Arzt den Patienten für tot erklärt hat. Der Verstorbene wird dann zunächst mit Eis gekühlt und das Blut wird durch eine organschonende Flüssigkeit bzw. ein Frostschutzmittel ersetzt, da der grösste Schaden im menschlichen Gewebe durch die Kristallisation des Wassers erwartet wird. In einem zweiwöchigen Vorgang wird der Leichnam schliesslich in flüssigem Stickstoff auf eine Temperatur von -196° C herabgekühlt. In Fällen, die nicht ideal verlaufen, da zum Todeszeitpunkt kein Stand-by-Team verfügbar war, wird der Körper so schnell wie möglich in Eiswasser gekühlt und dann zu den Standorten der drei aktiven Kryonik-Anbieter Alcor in Arizona, Cryonics Institute in Michigan oder KrioRus bei Moskau transportiert.

 

A la carte

Allgemein kann man zwischen der Aufbewahrung des ganzen Körpers (whole body preservation), des Kopfes (neuropreservation) oder nur des Gehirns wählen, letztere Möglichkeiten werden nur von Alcor und KrioRus angeboten. Ausschliesslich den Kopf einzufrieren, bedeutet eine spürbare finanzielle Entlastung: Die minimalen Kosten für die Aufbewahrung der vollständigen Leiche betragen bei Alcor ca. 200.000$, nur der Kopf schlägt mit ca. 80.000 $ zu Buche (der Transfer und ein evtl. Stand-by-Team werden extra berechnet). Alcors Konkurrent, das Cryonics Institute von Ettinger, bietet die Aufbewahrung des ganzen Körpers für mindestens ca. 28.000$ an. Der deutliche Unterschied ist auf eine andere Preispolitik und die Auslagerung von Zusatzkosten zurückzuführen. Bei KrioRus werden ca. 36.000$ für die Ganzkörperaufbewahrung und ca. 18.000$ pro Kopf verlangt. Schliesslich werden die Leichen bzw. die abgetrennten Köpfe in speziellen kryonischen Kapseln aufbewahrt, die mit flüssigem Stickstoff gefüllt sind. Von 1966 bis heute wurden ca. 500 Leichen bzw. Köpfe oder Gehirne kryonisch eingefroren.

Lieber kalt als tot

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist die Kryonik vornehmlich eine kulturelle Innovation, die im spezifischen Kontext der amerikanischen Bestattungskultur des 20. Jahrhunderts entstand. Allgemein muss die Kryonik als eine sehr ausgeprägte Form der Todesverdrängung verstanden werden, die meist als Ausdruck der besonderen US-amerikanischen Tabuisierung dieses Themas bewertet wird. Entsprechend der kryonischen Definition des Todes werden die tiefgekühlten Leichen weder als tot angesehen noch terminologisch als tot bezeichnet – sie sind «suspendierte Mitglieder» oder «Kryopatienten», die zurzeit «de-animiert» (deanimated) sind.

Auch steht die Kryonik in der Tradition der vollständigen Einbalsamierung der Verstorbenen, die sich seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) zum Standard der heutigen Bestattungskultur in den Vereinigten Staaten entwickelt hat. Besonders ausgeprägt ist dabei der Wunsch nach der Integrität des Leichnams, der sich in der Zeit des body snatching ausbildete – dem professionell organisierten Raub von frisch bestatteten Leichen, die im 18. und 19. Jahrhundert für die anatomische Schulung von Ärzten benötigt wurden. Viele Kryoniker halten daher den Gedanken an den natürlichen Verfall der bestatteten Leiche für äusserst abstossend, während die «kryonische Suspension» die ewige Konservierung des Körpers verspricht.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Einen Ort des Gedenkens bieten die kryonischen Industriehallen allerdings nicht. Die Kryonik wird auf diese Weise zur perfekten Utopie, im eigentlichen Sinne des Wortes – sie ist als Nicht-Ort die Negation eines sichtbaren Ortes für den toten Körper. Der erste «kryonisch suspendierte Mensch», James Bedford, ist daher nicht nur ein «Kryonaut», sondern er ist auch ein sinnbildlicher Odysseus dieser utopischen Bewegung, nachdem er seine «letzte Ruhestätte» sieben Mal innerhalb von 30 Jahren wechseln musste.

 

Unser Experte Oliver Krüger ist Professor für Reli­gi­ons­wissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Post- und Transhumanismus sowie das Feld von Religion und Medien.

oliver.krueger@unifr.ch