Publikationsdatum 04.03.2025
Das Wort des Dekans Joachim Negel - HS 2025/I
Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde
Für die einen ist sie eine Art Heilsereignis, für die anderen der Sündenfall schlechthin; für wieder andere ist sie der Preis einer zweifellos schwierigen, wohl aber unvermeidlichen Annäherung der immer noch jungen christlichen Kirche(n) an die politische Realität der spätantiken Gesellschaft: Die Rede ist von der sog. „Konstantinischen Wende“. Mit dem Konzil von Nizäa, dessen 1700jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr begehen, ist auch sie wieder in aller Munde. – Konzil von Nizäa? Konstantinische Wende? Religionspolitik der römischen Kaiser? Worum ging es damals vor 1700 Jahren? Und warum ist „Nizäa“ (über die dort verhandelten dogmatischen Fragen hinaus) so wichtig, daß wir seiner gedenken sollten?
Nun, der Grund ist, daß in den Jahren vor und nach „Nizäa“ jene Weichen gestellt wurden, die das Verhältnis von Theologie und Philosophie einerseits und das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Religion und Gesellschaft andererseits bis heute prägen. Denn daß eine Gesellschaft sich als „säkular“ versteht, d.h. sich aus sich selbst begründet und nicht aus einer göttlichen Legitimation, mag im 21. Jahrhundert zwar als selbstverständlich erscheinen, ist es, historisch gesehen, aber keineswegs. Für die vormodernen Gesellschaften waren Sprache und Kultur, waren Theater, Literatur und Kunst, Wirtschaft und staatliche Macht immer auch religiös imprägniert, ja sanktioniert. Deshalb kam dem öffentlichen Kult solch enorme Bedeutung zu. In ihm versicherte sich die Gesellschaft ihres göttlich garantierten Bestandes durch die Generationen hindurch. Wie auch sollten der Kaiser und seine Beamten gut regieren, wenn nicht die Gottheit ihren Segen spendete? Wie ein Reich bestehen, wenn es in seinen Grundlagen nicht Abbild des göttlichen Kosmos war? Wie ein menschliches Leben gelingen (in Arbeit, Gesundheit, Nachkommenschaft), wenn ihm die Götter nicht wohlgesonnen waren? Kurzum: Für den vormodernen Menschen gründet alle menschliche Autorität in einer Alterität, auf die der Mensch keinen Zugriff hat: in der Souveränität der Götter, lateinisch/vor-römisch: der superani (daher das Wort „Souveränität“). Die Souveränität der Götter in Frage zu stellen, wäre Hybris; es hieße, das Schicksal herauszufordern.
Allen gravierenden mentalitätsgeschichtlichen Differenzen gegenüber vormodernen Gesellschaften zum Trotz sind solche Überlegungen womöglich auch uns nicht ganz fremd: Niemand ist seines eigenen Glückes Schmied, weswegen es immer auch eines höheren Beistandes bedarf, soll das Leben nicht scheitern. Das gilt für den Staat nicht weniger als für den Einzelnen, und dies mehr oder weniger ungebrochen von der Spätantike bis zur Zeit der Französischen Revolution. Und so war es naheliegend, daß im Jahre 313 die römischen Kaiser Konstantin und Licinius dem jungen Christentum, das, obgleich immer noch Minderheit, zu einer ernstzunehmenden Macht herangewachsen war, im sog. Toleranzedikt von Mailand die Kultfreiheit zusicherten. Mit den Christenverfolgungen sollte Schluß sein; jeder sollte im Frieden seinen Göttern opfern, so er nur den öffentlichen Frieden nicht in Frage stellte – mehr noch: So er zum öffentlichen Frieden beitrug. Und das tat man, indem man für den Kaiser betete.
Die „Mailänder Vereinbarung“, so der eigentliche Name des sog. Toleranzedikts, brachte Ruhe in die aufgewühlten Christengemeinden, auch wenn man dieser Ruhe nicht wirklich traute. Zu oft war man getäuscht worden; zu oft waren auf friedliche Ruhepausen Zeiten blutiger Unterdrückung gefolgt. Erst zwölf Jahre nach der „Mailänder Vereinbarung“, mit dem Konzil von Nizäa, schien sich das Blatt endgültig zugunsten der Christen gewendet zu haben. Denn dieses Treffen, zu welchem die Bischöfe „auf dem ganzen Erdkreis“ (epì tēs oikoumenēs) eingeladen waren, hatte der Kaiser höchstselbst initiiert. Die Bischöfe durften für die Anreise die kaiserliche Reisepost benutzen; jeder Bischof hatte das Recht, drei theologische Berater und zwei Diakone mitzubringen – bei etwas über 300 Konzilsvätern eine Teilnehmerschaft von gut 2000 Personen; für die Bereitstellung der hierzu erforderlichen Infrastruktur waren die Bischofskirchen und Diözesen kaum gerüstet. Deswegen fand das Konzil auf dem Gelände der kaiserlichen Sommerresidenz in Nikaia (Nizäa; heute Iznik) statt, gelegen in der Nähe des alten Byzanz bzw. der späteren Reichshauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul). Dort standen den Bischöfen alle Fazilitäten, die für ein solches Großereignis nötig waren, bequem zur Verfügung.
Die Gründe für Konstantins Großzügigkeit dürften vielfältiger Natur gewesen sein. Ganz sicher handelte der Kaiser nicht schon aus einem persönlichen Christusglauben heraus; dagegen spricht, daß Konstantin sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ, noch dazu von einem arianisch gesonnenen Priester, was nicht gerade für eine katholische Frömmigkeit spricht. Gleichwohl dürfte er, wie „die meisten Gebildeten seit hellenistischer Zeit“[1], seit langem den mythischen Polytheismus seiner paganen Umgebung gegen einen philosophisch reflektierten Mono- bzw. Henotheismus eingetauscht haben. Das alles brachte ihm den biblischen Gottesglauben nahe. Zugleich „dürfte er sich gesagt haben: wenn sich das Christentum gegen so viele Widerstände reichsweit einwurzeln konnte, dann mußte etwas an ihm sein, was die alten Kulte nicht hatten.“[2] Kurzum: In den zahlenmäßig immer noch relativ schwachen Kirchen (gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung waren Christen) erblickte man zunehmend eine gesellschaftliche Avantgarde, die man nicht zuletzt wegen ihres ethischen Radikalismus bewunderte und insofern ernst zu nehmen begann – auch auf politischer Seite. Insofern sind die derzeit wieder einmal kursierenden Behauptungen, Konstantin sei ein zynisch kalkulierender Machtpolitiker gewesen, der das geistige Potential des jungen Christentums politisch usurpiert habe, während umgekehrt die Bischöfe die prophetische Wahrheit Christi für das Linsengericht einer klerikalen Selbstimperialisierung verscherbelt hätten, reichlich schief. Noch einmal sei’s gesagt: Die spätantiken Gesellschaften waren religiös durch und durch, und so war natürlich auch politische Macht religiös konnotiert. „Die Vorstellung von einem religiös notwendig neutralen Staat gegenüber einer pluralistischen Gesellschaft“ – für uns heutige postmoderne Menschen ein selbstverständlicher Gedanke – „ist für den Beginn des vierten Jahrhunderts anachronistisch.“[3]
Gleichwohl ist es nötig, die Frage nach dem Preis zu stellen, der für die Annäherung der Kirche(n) an die politische Realität der spätantiken Gesellschaft zu zahlen war. Es ist nun einmal so: Wer es akzeptiert, gesellschaftlich akzeptiert zu werden, macht sich, in welcher Hinsicht auch immer, gemein. Und so hatte auch das neue Staat-Kirche-Verhältnis, wie es unter Konstantin und Licinus im Jahre 313 eingeleitet wurde und schließlich im Jahr 380 mit der Ausrufung des Christentums als alleiniger Staatsreligion im Römischen Reich auf seinen Höhepunkt kam, seinen Preis. So sehr sich die Lebensbedingungen für die Kleinen und Unscheinbaren auch zum Besseren wendeten (Neugeborene durften nicht mehr ausgesetzt, Sklaven nicht mehr gebrandmarkt werden, die Kreuzigung als Todesstrafe wurde abgeschafft, der Sonntag allgemeiner Feiertag, die Rechtsstellung der Frauen änderte sich in vielerlei Hinsicht zum Besseren[4]), so bedeutete die Nähe zum Staat immer auch die Versuchung zur Macht. Und da gilt der böse Satz: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“[5] Nach den Jahrzehnten der Verfolgung sonnte sich mancher Bischof im Glanze der Anerkennung, die ihm jetzt von den staatlichen Behörden zuteil wurde: zu den Honoratioren der Stadt gezählt zu werden, von Steuern befreit zu sein, keinen Militärdienst leisten zu müssen, in staatliche Ämter berufen zu werden als Berater, Richter usw., das gefiel. Und weil man Gefallen an diesen neuen Lebensumständen fand, war man auch dem Staat zu Gefallen. Wie sollte es auch anders sein!
Aber hatte man damit nicht begonnen, den radikalen Reichsgedanken des Jesus von Nazareth zu verraten? Jesu Wort gegenüber Pilatus „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) bedeutet ja nicht, daß das Reich Gottes irgendwo in den Himmeln ist, sondern daß es den unerlösten Verhältnissen dieser Welt diametral widerspricht: „Bei euch aber soll es nicht so sein…!“ (Mt 20,25): Was ist von dieser anarchischen, die Heillosigkeit der Welt in der Wurzel heilenden Kraft geblieben? – Ein Patriarch Kyrill, der sich hemmungslos Putins Neo-Imperialismus an den Hals wirft? Eine evangelikale „New-Born-Christianity“, die in einem Präsidenten Trump den von Gott höchstselbst gesendeten Messias erblickt („Jesus is my Saviour and Donald Trump is my President“)? – Es wird einem speiübel, und man hätte große Lust, „Nizäa“ und die „Konstantinische Wende“ grundsätzlich in Frage zu stellen: Wäre es nicht besser gewesen, man hätte sich von Anfang an fern gehalten vom Staat, diesem verführerischen „Leviathan“ (Th. Hobbes)? Hätte sich nicht kompromittiert durch die Versuchungen der Macht? Wäre unbefleckt geblieben und rein?
So könnte man fragen und hätte die moralische Empörung auf seiner Seite. Aber was hätte man damit gewonnen? Nicht viel. Kann man ernsthaft wünschen, die Kirchen hielten sich, wie rechtskatholische Gruppen und charismatische Erneuerungsbewegungen es fordern, aus allem heraus, pflegten ihre Innerlichkeit und erwarteten das verheißene Reich Gottes, das da kommen wird am Sankt-Nimmerleins-Tag?
Um es kurz zu machen: Die „Konstantinische Wende“ als den großen Sündenfall zu beklagen, ist anachronistisch. Dazu sind nach 2000 Jahren christlicher Inkulturation in Europa die Felder zwischen Staat und Kirche, Religion und Gesellschaft viel zu eng miteinander vernetzt. Man stelle sich vor, es hätte diese Verflechtungen nicht gegeben – was dann? Ohne „Konstantinische Wende“ gäbe es keinen Kölner Dom und keine Kathedrale von Chartres; es gäbe keine Summa Theologiae, zu welcher es ein europaweites Universitätssystem brauchte; es gäbe keine H-Moll-Messe von Bach (denn auch zu der braucht es staatlich bzw. bürgerschaftlich geförderte Musikschulen, Orchester und Chöre). Es gäbe aber auch keinen Kant, Schelling, Hegel und Fichte, die alle im Umfeld evangelischer Pfarrhäuser aufwuchsen. Es gäbe keinen Friedrich Nietzsche. Ja es gäbe womöglich nicht einmal das Neue Testament (Kaiser Konstantin hatte seinerzeit 50 Vollbibeln herstellen lassen, eine kulturhistorische Großtat, mit der die wichtigsten Klöster seines Reiches auf Jahre beschäftigt waren, der „Codex Sinaiticus“ ist das einzige uns vollständig überkommene Exemplar aus diesem Staatsauftrag, der so kostspielig war, daß der Kaiser ihn nicht aus seiner Privatschatulle bezahlen konnte).[6] Nicht einmal vom reichen Erbe der Antike gäbe es etwas (Platon und Homer, Cicero und Vergil), denn das alles wurde über die Jahrhunderte hinweg in den Schreibstuben der europäischen Klöster von Zehntausenden anonymen Schreibermönchen tradiert. Klöster aber brauchen Sponsoren, nicht zuletzt staatliche. Wir können uns gar nicht ausmalen, wie Europa und die halbe Welt aussähen ohne jene als „konstantinisch“ kritisierte Epoche. Ganz abgesehen davon, daß es für eine Theologische Fakultät an einer Staatlichen Universität überhaupt töricht ist, die Verflechtung von Staat und Kirche zu diffamieren. Man kritisiert ein Verhältnis, von welchem man selber gerne und gut lebt.
Und so stellen sich am Ende all dieser Überlegungen gleich mehrere Fragen: Was bleibt von jener „konstantinischen“ Verflechtung, wie sie vor 1700 Jahren begann? Was sind angesichts der im Gefolge von Technisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung immer mehr zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft unsere geistigen Grundlagen?
Man kann die Fragen noch schärfer stellen: Woraus zieht der säkulare Staat seine Legitimation? Sicher nicht mehr aus dem Willen Gottes, mögen die meisten der europäischen Nationalverfassungen auch weiterhin mit der Invocatio Dei beginnen: „Im Namen Gottes des Allmächtigen“ (so die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in ihrer derzeit gültigen Fassung von 2008); „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ (so die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949). Wenn aber nicht mehr aus dem Willen Gottes, woraus zieht der säkulare Staat seine Legitimation dann? Aus dem Willen des Volkes? Aus den Erfolgen der Wirtschaft? Aus der Schönheit der jeweiligen Nationalkulturen? – Man merkt, wie fragwürdig das alles ist. Was, wenn der Volkswille sich disruptiv Ausdruck verschafft? („Make America great again!“) Wenn es zu gravierenden wirtschaftlichen Rezessionen kommt? („Alles für Deutschland!“) Wenn die Liebe zum eigenen Land in Chauvinismus umkippt? („Ausländer raus!“) – Ja, was dann?
Sicher, da sind noch die Allgemeinen Menschenrechte und das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung; darin kommen die säkularen Staaten Europas überein. Aber all das ist mehr als fragil, entfaltet nicht mehr die nötige emotionale Bindekraft, wie nicht zuletzt an den Wahlergebnissen in den verschiedenen europäischen Ländern abzulesen ist. Gibt es überhaupt noch einen Wurzelgrund, in welchem eine die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verbindende Weltanschauung gedeihen könnte? Das Christentum hatte einmal einen solchen geboten und dazu einen alle staatliche wie individuelle Antagonismen überwölbenden transzendentalen Horizont. Das war, allen problematischen Entwicklungen zum Trotz, die epochale Leistung dessen, was man „Konstantinische Wende“ nennt. Die gegenwärtig geradezu schwindelerregenden Umbrüche in Rußland und den Vereinigten Staaten, aber auch in den westlichen Gesellschaften insgesamt, machen deutlich, daß es diese Klammer nicht mehr gibt. Das ist das Sorgniserregende, was uns die Feierlichkeiten zum 1700jährigen Jubiläum von „Nizäa“ in Erinnerung rufen. Herauszufinden, wie man damit umgehen soll, wäre eine Aufgabe, der sich alle Fakultäten einer Universität zu stellen hätten – nicht zuletzt die Philosophische und die Theologische Fakultät. Darin besteht ihre eminent gesellschaftliche Aufgabe. Denn, um nur dies zu sagen: Die Kirchenkrise, von der in kirchlichen Kreisen allenthalben gesprochen wird, ist ja Teil einer viel umfassenderen geistigen Krise unserer europäischen Gesellschaften insgesamt. Da die Christen Teil der Gesellschaft sind, befällt, was die Gesellschaft befällt, auch sie. Wer eigentlich sind wir? Und wer wollen wir sein? Womöglich könnte das 1700jährige Jubiläum von Nizäa Anlaß sein, darüber verstärkt nachzudenken.
Joachim Negel
Dekan
[1] Albrecht Dihle, Zur spätantiken Kultfrömmigkeit, in: Jahrbuch für Antike und Christentum (JAC. E 8), 1980, 43.
[2] Paul Veyne, Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht (aus dem Französischen von Matthias Grässlin), München 2008, 69.
[3] Karl Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche, in: Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Freiburg i.Br. 1985, Bd. I, 68-479, hier 477.
[4] Vgl. die entsprechenden Passagen bei Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007.
[5] Vgl. den berühmten Satz des Lord Acton in einem Brief an Mandell Creighton, 5. April 1887, anläßlich der Definition des Infallibilitäts- und Jurisdiktionsprimates des Bischofs von Rom: „Power tends to corrupt and absolute power tends to corrupt absolutely.”
[6] Eusebius von Caesarea, De vita Constantini lb 4, 36,2
