Publikationsdatum 31.12.2024
Das Wort des Dekans Joachim Negel - HS 2024/III
Wort des Dekans
„… und ich bin in diesem Moment so weit davon entfernt, meine Zeilen für kindlich oder gar lächerlich zu halten, dass ich zuletzt noch einen Halbsatz hinzufüge und den lieben Gott darum bitte, mich den Menschen, denen ich begegnet bin, gerecht werden zu lassen. Denn ich weiß nun, daß unsere Streifzüge hier nicht enden werden, sondern dass wir erst am Anfang unserer Reise stehen und ich davon erzählen werde.“
Mit diesen Worten, liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät, liebe Freundinnen und Freunde, endet ein erstaunliches, in hohem Maße adventliches Buch. Es trägt den Titel „Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen“. Geschrieben hat es Anne Weber, eine deutsche Schriftstellerin, die seit vierzig Jahren in Paris lebt und sich einen Namen gemacht hat mit ihren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche und umgekehrt.[1] Anne Weber ist, was man eine beständige Grenzgängerin zwischen den Sprachen und Welten nennen darf. Und Grenzen gibt es zuhauf. Davon erzählt ihr Buch. Zusammen mit Thierry, einem befreundeten Filmemacher und Fotografen, der einer franko-algerischen Familie entstammt und in den Pariser Vorstädten großgeworden ist, streift die Ich-Erzählerin monatelang durch jene oft nur halb bebauten und schon wieder halb abgerissenen Pariser Hochhaussiedlungen, Gewerbegebiete, Industrie- und Brachflächen, die man die „Banlieue“ nennt, wörtlich „Bannmeile“, und die außerhalb des Boulevard périphérique liegen, jener sechs- bis achtspurigen Autobahn, die das historische, touristische, bürgerliche Paris nahezu hermetisch von der Welt der sozialen Brennpunkte, heruntergekommen Ghettosiedlungen und Migrantenbehausungen abschließt.
„Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar definiert“, schreibt Anne Weber, „da gibt es keine fließenden Übergänge.“[2] Und so findet man sich, kaum daß man die Endstationen der Metro verlassen hat, in einer Welt vor, die anders ist als das Paris des Montmartre, des Eifelturms, der Île de la Cité und des Boulevard Saint Germain. Und doch ist auch dies Paris, nur eben jenes, das man nicht kennt. Hier schlagen sich die Menschen knapp unterhalb der Armutsgrenze durchs Leben: schlechte Schulen, schlechte Ausbildung, hohe Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität; Treffpunkte, wo Männer von morgens bis mittags stehen und auf Baustellenjobs warten; dazwischen Shoppingmalls und B&B-Hotels, Autobahnbrücken, unter denen sich kleine Moscheen und Halal-Schlachthöfe befinden; unwirtliche Reihenhaussiedlungen; dann wieder Müllhalden, die niemand wegräumt („Warum erwarte ich von Menschen, die in solchen Betonkisten neben der Autobahn leben müssen, daß sie sich mit der Reinlichkeit und Ordnung ihrer Umgebung befassen?“[3]); hier und da ausgebrannte Autowracks, die von den Unruhen zeugen, die immer wieder mal ausbrechen. (Unvergessen der markige Spruch des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, er wolle die Banlieue mit der Kärchermaschine von diesem Geschmeiß reinigen.[4]) Die „autochthone“ französische Bevölkerung ist längst weggezogen; die jetzigen Bewohner setzen sich aus Angehörigen der ehemaligen Kolonien zusammen, dem Maghreb, den diversen afrikanischen Ländern, dem Libanon usf.
Diese Welt, die das Touristenauge als uninteressant, ja häßlich wahrnehmen würde, wird von Anne Weber mit genauem und feinem Blick beschrieben, mit einer hohen Aufmerksamkeit für das Irre, Absurde und dann wieder betörend Komische, Zärtliche des Lebens. Hier wird nichts beschönigt und hier wird nichts entlarvt. Hier wird behutsam gezeigt, was ist.
Die Ich-Erzählerin zeigt sich ein ums andere Mal irritiert. Was soll man auch sagen zu jenem rosaroten Plastikschwan, der einen Müllhaufen bekrönt? Und was zu jenen Einkaufswagen, aus dem Supermarkt geklaut und zu Grillständen umfunktioniert, auf denen Hähnchenspieße feilgeboten werden? Je länger, je mehr verliert die Ich-Erzählerin den bourgeoisen Habitus derer, „die drinnen wohnen“ (intra muros)[5], in den feinen Pariser Arrondissements. Ihr Gewährsmann Thierry, als Franko-Algerier seinerseits Bewohner „zwischen zwei Anderswo“[6], führt sie in jene „Zwischenwelten“[7] der Vorstädte, die kein Reiseführer verzeichnet. Je mehr sie sich auf diese Welt einläßt, umso mehr entdeckt sie nicht nur die französische Kolonialgeschichte mit ihren höchst zweifelhaften Spätfolgen sowie die deutsche Geschichte, etwa in Gestalt der Cité de la Muette in Drancy, von wo aus während des Zweiten Weltkriegs die Transporte der französischen Juden in die Vernichtungslager abgingen –: sie entdeckt dabei immer mehr sich selbst als zwischen beiden Ländern und Kulturen eingekeilt. Auch sie, die Ich-Erzählerin, lebt „zwischen zwei Anderswo“[8], nur hat sie das bisher nicht gewußt. Es ist die Vielstimmigkeit der Bewohner der Banlieue, die sie dies lehren.
Daß sie dies von ihnen lernen konnte, verdankt sie nicht nur ihrem Reiseführer Thierry, sondern auch und nicht zuletzt einem ganz besonderen Ort: dem Café Le Montjoie und seinem Patron Rachid.[9] Le Montjoie (Freudenberg): Der Name ist zutreffend durch und durch. Dieses Café ist „ein Zufluchtsort“[10] für die Gestrandeten der Banlieue, eine Oase inmitten dieses Gewirrs von Autobahnen, ungastlichen Hochhausfassaden, Tankstellen, Müllverbrennungsanlagen, Discountern und Parkplätzen. Rachid, der leise, zurückhaltende Patron des Cafés, fragt nicht, woher man kommt und wohin man will und warum man gerade hier gelandet ist; er strahlt eine wohltuende Ruhe aus; beim dritten oder vierten Besuch seiner neuen Gäste wechselt er unmerklich ins vertrauliche „Du“. – Und dann das Publikum des Montjoie! Was für ein Panoptikum an Menschen und Schicksalen: Jesus, der spanische Zeitungshändler, der sich zu seiner mageren Rente (jubilación) ein paar Euro hinzuverdient; ein namenloser Alter, der aufgrund einer Kehlkopfoperation nicht mehr schlucken kann und sich den Wein mittels Spritze und Schlauchzugang direkt in den Magen spritzt (Rachid hebt andeutungsweise ein unsichtbares Glas und prostet dem Magentrinker leise zu); ein kettenrauchender Halbstummer, der stundenlang Domino spielt; ein junger Anarchist, der immer nur „in Begleitung seines Smartphones“[11] kommt; ein Marokkaner, der die Tunesier nicht mag, denn die Marokkaner sind bekanntlich ja klüger als die Tunesier; Menschen algerischer Herkunft, die neben französischen Kriegsveteranen am Tresen stehen und miteinander reden können, auch wenn sich die Gespräche leer im Kreise drehen (aber immerhin, man redet miteinander); zwischendrin zwei schwarze Müllmänner, die in Rachids Café Pause einlegen; eine alte jüdische Frau, die den Front National wählt. Und dann immer wieder Rachids Mutter, „die Mami“, die jeden Gast mit einem Strahlen begrüßt, als wäre er ihr liebster Enkel. Rachids „Leben […] besteht darin, den Verlorenen, Einsamen, den Siechen des Viertels einen Zufluchtsort zu bieten und so gerade über die Runden zu kommen.“[12] Viel verdient er mit seinem Laden nicht; aber was macht das schon. Ohne ihn wären seine Gäste heimatlos; mancher würde längst zugrunde gegangen sein an Einsamkeit und Trübsal.[13]
Ist es zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dieses wie aus einer anderen Zeit stammende Café habe etwas von jenem Stall zu Bethlehem, wo die Heilige Familie Unterschlupf fand – und überhaupt die Pariser Banlieue etwas von jenem Ägypten, in welches der Messias, kaum geboren, fliehen mußte? Anne Webers Streifzüge durch eine unordentliche Welt bringen den Leser auf solch merkwürdig weihnachtliche Gedanken: Solange es Menschen gibt wie Rachid und seine Mutter und ein Café wie das Le Montjoie kann die Welt nicht völlig zum Teufel gehen.
Im Einleitungskapitel ihres Romans schreibt Anne Weber, daß sie „jahrzehntelang in unmittelbarer Nähe einer fremden Welt gelebt“ habe, „ohne ihr das geringste Interesse entgegenzubringen. Ich hatte ferne Kontinente bereist, hatte Städte erforscht und Inseln erwandert, aber für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.“[14] Wie sehr die Streifzüge sie verändert haben, zeigt sich am Ende des Romans, als die Ich-Erzählerin den plötzlichen Wunsch verspürt, noch einmal zurückzukehren in die große, von der tamilischen Gemeinde besuchte Kirche Saint-Yves, einer der vielen Sakralbauten, die man in den 1930er und noch einmal nach dem Krieg in den 1960er Jahren mitten in die Neubauviertel gestellt hatte, obwohl damals schon die religiöse Praxis massiv im Niedergang begriffen war. Es verlangt sie, noch einmal im großen Buch der Danksagungen und Fürbitten zu blättern, wie sie es auf einem ihrer früheren Streifzüge getan hatte.[15] Und so endet dieser „Roman in Streifzügen“ mit folgenden Worten:
Wir betreten die Kirche. Bis auf zwei Frauen, die mit gesenkten Köpfen auf weit entfernten Bänken sitzen, ist sie leer. Ich trete zu dem kleinen Seitenaltar links und, um nicht aufzufallen als die, die ich bin oder zu sein glaube, eine nämlich, die nur herkommt, um mit ihrer schamlosen Neugier die innigsten Bitten und Beichten fremder Menschen zu entweihen, tue ich so – den Rücken zum Kirchenschiff gedreht, damit Thierry mich nicht sieht –, als würde ich beten. Und siehe da, nach einer Weile bete ich. Man braucht das Beten nicht zu lernen. Noch nicht einmal gläubig sein muß man dafür. Dann trete ich an das Pult mit dem offenen Buch heran und sehe auf den aufgeschlagenen Seiten eine Reihe Einträge, die offenbar von Kindern stammen:
Sana: Tag allseits ich muß arbeiten ich muß gute Note haben und ich muß Doktor werden und ich muß Geld haben. Danke auf Wiedersehen an alle Götter.
Samantha: ich muß arbeit ich muß wachsen ich muß guten Note und ich muß viel Gel
Ein Datum, ohne Name ich möchte das wir das Visa kriegen. Und auch die augen meiner kleine Schwester öffnen gut.
Davor viele Einträge in tamilischer Sprache, und ich vertiefe mich in die runde, manchmal kleine Haken nach oben oder unten schlagende, ansonsten aber wie in regelmäßigen Großbuchstaben gehaltene Schrift, über der kleine Tupfen oder Kringel schweben. Einer dieser rätselhaften Einträge endet mit drei Ausrufezeichen, und ich denke: Vielleicht ist auch das, was ich von unseren langen Wanderungen werde erzählen können, nichts als ein mit Nachdruck übermitteltes Mysterium.
Und ohne daß ich es vorgehabt oder vorher auch nur eine solche Möglichkeit erwogen hätte, nehme ich plötzlich den auf dem Pult liegenden Stift in die Hand und will ein paar Zeilen auf Französisch unter die der Schülerinnen schreiben, halte dann aber noch einmal kurz inne, weil mir bewußt wird, daß jeder meinen Eintrag wird lesen können, und dann besinne ich mich anders und schreibe auf Deutsch: Lieber Gott, behüte bitte …, bis ich, ausgehend von meinen liebsten Menschen, bei Rachid und seiner kleinen Kneipengemeinde, bei den Bewohnern der Autobahnzubringerschleifen und der Wellblechdörfer, der Betonblöcke und der zugemauerten Häuser und schließlich des ganzen Départements angekommen bin, und ich bin in diesem Moment so weit davon entfernt, meine Zeilen für kindlich oder gar lächerlich zu halten, dass ich zuletzt noch einen Halbsatz hinzufüge und den lieben Gott darum bitte, mich den Menschen, denen ich begegnet bin, und Thierry gerecht werden und meine Erzählung gelingen zu lassen. Denn ich weiß nun, daß unsere Streifzüge hier nicht enden werden, sondern dass wir erst am Anfang unserer Reise stehen und ich davon erzählen werde.“[16]
Ja, liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät, liebe Freundinnen und Freunde, auch wir stehen erst am Anfang unserer Reise, und wohin sie uns führen wird, ob auch wir ein Café wie das von Rachid finden, oder einen Reiseführer haben werden wie Thierry einer ist – das alles steht in den Sternen. Aber immerhin, in den Sternen. Mögen sie uns milde leuchten in dieser Zeit. Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Joachim Negel
Dekan
[1] Zur Autorin konsultiere man die Einträge auf https://fr.wikipedia.org/wiki/Anne_Weber und https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Weber_(Autorin). – Im Folgenden wird zitiert aus Anne Weber, Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen, Berlin, Matthes & Seitz 2024. (Zitat ebd. 301.)
[2] Ebd. 8.
[3] Ebd. 21.
[4] Ebd. 13f.
[5] Ebd. 8.
[6] Ebd. 215.
[7] Ebd. 279.
[8] Vgl. ebd. 91-93, 107f.
[9] Ebd. 50-53; 111-116; 139-144; 194-201; 212-221; 237-251; 284-293.
[10] Ebd. 217.
[11] Ebd. 79.
[12] Ebd. 216.
[13] Ebd. 292.
[14] Ebd. 10.
[15] Ebd. 181-184.