Publikationsdatum 23.05.2022

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - FS 2022/III


Zur Zukunft des Christentums in Europa

Im Jahre 2000 entfachte der deutsche Philosoph Herbert Schnädelbach mit seiner radikalen Christentumskritik in der Wochenzeitung „Die Zeit“ („Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren“) eine lebhafte Kontroverse. Seine These ist, „dass das verfasste Christentum in der modernen Welt sein tatsächliches Ende längst hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben … In Wahrheit haben die Kirchen nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz insgesamt verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus.“ Der letzte Dienst des Christentums an die Menschheit wäre sein Verlöschen. Nur so „könne sich der Fluch des Christentums doch noch in Segen verwandeln“. Schnädelbachs Prognose für die Zukunft des Christentums – das Syndrom einer Beerbung seiner positiven Kräfte durch den säkularen Humanismus – konkurriert mit anderen.

Wir stünden nun, so die Kulturpessimisten, erneut vor einer „Invasion der Barbaren“, die zum Untergang unserer Religion und Kultur führen werde.

Die Kulturpessimisten haben eher das „Fahrenheit 451“-Syndrom. Im Kultfilm, den François Truffaut 1966 nach dem gleichnamigen Roman von Ray Bradbury drehte, fliehen einige um unsere Kultur besorgte Bürger in die Wälder, dem Beispiel des aufrechten Feuerwehrmanns Guy Montag folgend, und versuchen, ein Buch auswendig zu lernen, um es der nächsten Generation zu überliefern. Wir stünden nun, so die Kulturpessimisten, erneut vor einer „Invasion der Barbaren“, die unsere politischen und religiösen Eliten nicht einmal als solche erkennen, aber zum Untergang unserer Religion und Kultur führen werde, wenn wir nicht den Mut Montags haben, wie einst die Mönche nach der Völkerwanderung.

Aber steht es heute um das Christentum wirklich so schlecht bestellt? Sind die Sorgen berechtigt, wonach sich Europa durch den Aufstieg des Islam in „Eurabien“ verwandeln und das Christentum nur noch die Rolle einer Minderheit ohne Einfluss auf den öffentlichen Raum in Politik, Kultur und Gesellschaft haben wird? Wohl nur in dem Sinne, dass ein Islam ohne Inkulturation in der „Eurosäkularität“ (Peter L. Berger) eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Kultur und Lebensart darstellt. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Moderne nach dem Prinzip von Anpassung und Widerspruch, wie sie etwa die Katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geleistet hat (wer hätte vor 100 Jahren daran gedacht?), ist auch dem europäischen Islam zu konzedieren. Zudem können wir aus demographischen Studien entnehmen, dass die Geburtenrate der eingewanderten Muslime sich den normalen Standards ihrer Umgebung anpasst, so dass ihre Zahl in Westeuropa um 2050 ca. 25 Millionen betragen wird. Von einer Islamisierung Europas kann also nicht die Rede sein, und von einer Verdrängung der Christen zur kleinmütigen Herde auch nicht: denn die Präsenz des Islam führt nicht zuletzt dazu, dass viele säkularisierte Europäer sich ihrer vergessenen christlichen Tradition verstärkt zuwenden werden.

Christen sollten den religiösen Pluralismus nicht als Gefahr sehen, sondern als Chance, sich der „kostbaren Perle“, die ihnen anvertraut wurde, bewusster zu werden.

Verwandt damit ist das „Oh, wie schön ist Panama“-Syndrom. Als meine Töchter im Kindergarten waren, gehörte es zu meinen väterlichen Aufgaben, ihnen abends dieses Buch von Janosch vorzulesen. Die zwei Freunde Tiger und Bär fischen eine leere Holzkiste mit der Aufschrift „Panama“ aus dem Fluss in der Nähe ihres Zuhauses. Der Tiger ist neugierig und will nun alles von diesem Panama wissen. Der Bär erzählt ihm phantasievoll, dass Panama ein wunderbarer Ort sei. Dort soll alles grösser und schöner sein als zu Hause. Am nächsten Tag machen sich die beiden mit ihren Siebensachen auf den Weg nach Panama. Während ihrer Reise treffen sie auf die verschiedensten Tiere, die ihnen angeblich den Weg zeigen, obwohl sie gar nicht wissen, wo Panama tatsächlich liegt. Schliesslich kommen sie nach langer Zeit wieder in ihrem Zuhause an und wissen diesen Ort erst jetzt recht zu schätzen.

Der Kern dieser Kindergeschichte findet sich analog auch in den „Erzählungen des Chassidim“ Martin Bubers oder in der alten Legende „Wo Himmel und Erde sich berühren“: Zwei Mönche lasen einmal in einem alten Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berührten und das Reich Gottes begänne. Sie machten sich natürlich auf den Weg, um diesen Ort ihrer tiefsten Sehnsucht zu finden. Nach vielen Wanderungen, Versuchungen und Entbehrungen fanden sie eine Tür und man sagte ihnen, man brauche nur anzuklopfen und schon befände man sich im Reiche Gottes. Sie taten dies bebenden Herzens, und als sie eintraten, standen sie zu Haus in ihrer Klosterzelle und sahen sich gegenseitig an: Sie hatten verstanden und versuchten von nun an, in ihrem Alltag das Reich Gottes aufzubauen.

Viele Christen werden angesichts des religiösen Pluralismus eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Die Konkurrenz der Religionen führt uns vor Augen, dass es nicht selbstverständlich ist, von der Wiege bis zur Bahre Christ zu sein; vielmehr sind wir angesichts des religiösen Marktes dem „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger), d.h. der Auswahl (Häresie auf Griechisch), ausgesetzt. Christen sollten den religiösen Pluralismus nicht als Gefahr sehen, sondern als Chance, sich der „kostbaren Perle“, die ihnen anvertraut wurde, bewusster zu werden, d.h. sich der Nachfolge des "gütigen und von Herzen demütigen" Jesus verstärkt hinzuwenden (11,29).

Ohne die „christliche“ Kultur der universalen Barmherzigkeit und Kompassion: könnten wir noch „Europäer“ sein?

Was nun? Religiöse und kulturelle Identitäten werden im 21. Jh. weiterhin relevant bleiben. Das ist die wichtigste Lehre aus dem „Clash of civilisations“ von Samuel P. Huntington. Das Christentum Europas wird künftig nicht die staatstragende Rolle der Nachkriegszeit spielen, aber zwischen 60 und 70 % der Bevölkerung ausmachen. Und es wird pluriformer sein: Traditionelle Formen in den historischen Grosskirchen werden an Bedeutung verlieren, und neue Formen werden entstehen. Vorboten dazu sind die geistlichen Erneuerungsbewegungen und die kleinen kirchlichen Gemeinschaften im Katholizismus oder die Freikirchen im Protestantismus.

Nach dem irenischen Prinzip der Enzyklika „Redemptoris missio“ von Papst Johannes Paul II. („Die Kirche schlägt vor, sie drängt nichts auf“) werden Christen im 21. Jh. dazu beitragen können, dass Europa unter den Bedingungen der Moderne christlich geprägt bleibt. Sie werden es am ehesten erreichen können, indem sie in ihrem Leben das Gesicht des Gottes zeigen, an den sie glauben: des Got­tes, der Gleichheit und Freiheit für alle will, sich der Armen und Schwa­chen, der Witwen und Waisen, des Fremden ohne Anse­hen der Person an­nimmt und so eine Kultur der universalen Barmherzigkeit und Kompassion er­möglicht hat. Ohne diese „christlichen“ Züge, die Griechen, Römer und „Barbaren“ nicht kannten: könnten wir heute noch wirklich „Europäer“ sein?

Mariano Delgado, Dekan*

* Dies ist zugleich mein letztes „Wort des Dekans“. Den Mitgliedern, Freunden und Freundinnen der Theologischen Fakultät Freiburg wünsche ich alles Gute und Gottes Segen!