Publikationsdatum 10.09.2021

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - HS 2021/I


Eine Kirche im missionarischen Aufbruch

Im Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (24.11.2013, EG) spricht Papst Franziskus von einer Kirche im Aufbruch und lädt uns ein, die Freude der Evangelisierung wieder zu gewinnen. Dass er am 13.03.2013 im fünften Wahlgang mit grosser Mehrheit zum 266. Bischof von Rom gewählt wurde, hat nicht zuletzt mit der „Brandrede“ zu tun, die er am 9. März in einer der Kardinalskongregationen zur Vorbereitung des Konklave hielt.

„In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von aussen klopft, um hereinzukommen. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach aussen treten“.

Darin findet sich schon in nuce das Programm seines Pontifikats. Bergoglio erinnerte an das Wort Jesu nach der Vision in Offb 3,20: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an“. Und er kommentierte das so: „In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von aussen klopft, um hereinzukommen. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach aussen treten“. Anschliessend skizzierte er das Profil des neuen Papstes: Es soll ein Mann sein, „der aus der Betrachtung und Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existenziellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der ‚süssen und tröstenden Freude der Evangelisierung‘ lebt.“ In seinem Brief vom 25. März 2013 an die Teilnehmer der 105. Vollversammlung der argentinischen Bischofskonferenz – und von da an immer wieder – geisselte Franziskus die „Selbstgefälligkeit“, den „spirituellen Narzissmus“, die „mondäne Spiritualität“ und den „ausgeklügelten Klerikalismus“ als die Krankheiten der Kirche, die uns daran hindern, die „süsse, tröstende Freude der Evangelisierung“ zu erfahren.

Ein neuer Stil

Franziskus geht es von Anfang an um einen neuen „Stil“, der „in allem, was getan wird“ (EG 18) übernommen werden sollte. Gemeint ist ein Stil, der das Recht der Gläubigen respektiert, zunächst gehört und nicht belehrt zu werden, denn auch die Schafe haben ein Gespür für den Glaubenssinn, was die Synodalität unumgänglich macht. Gemeint ist ein Stil, der die Not der Seelen wahrnimmt und darauf nicht mit dem Kirchenrecht, sondern mit Barmherzigkeit antwortet. Das ist der bereits von Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962 angemahnte pastorale Stil der Kirche in der Welt von heute, und das ist der von Paul VI. in seiner Rede zur Klausur des Konzils am 8. Dezember 1965 skizzierte Stil einer samaritanischen Kirche.

Franziskus ist „eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“

Entsprechend seiner kurzen „Brandrede“ im Vorkonklave wünscht sich Franziskus keine Kirche, die mit sich selbst beschäftigt ist, sondern eine, die wirklich verstanden hat, was das Konzil sagte: dass sie „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) ist, dass sie sich als „der Menschheitsfamilie … eingefügt“ (GS 3) versteht, und dass sie daher „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ als „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ betrachtet (GS 1); dass sie dabei „das Werk Christi selbst“ weiterführen möchte, „der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“ (GS 3). Franziskus ist „eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“ (EG 49).

Eine umfassende kirchliche Erneuerung

Franziskus träumt von einer kirchlichen Erneuerung, „die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“ (EG 27).

Franziskus spricht auch von einer Neuausrichtung des Papsttums

Franziskus spricht von der Notwendigkeit „in einer heilsamen Dezentralisierung voranzuschreiten“ (EG 16), die den Bischofskonferenzen und den Ortskirchen mehr Autonomie ermöglicht. Ebenso heilsam sind seine Kritik des „übertriebenen Klerikalismus“ (EG 102), der die Laien – „die riesige Mehrheit des Gottesvolkes“ (EG 102) – nicht in die Entscheidungen einbezieht, und sein Wunsch nach Hirten mit „Geruch der Schafe“ (EG 24).

Und Franziskus spricht auch von einer Neuausrichtung des Papsttums (EG 32) im Sinne von mehr Kollegialität und einer Form der Primatsausübung, die der Ökumene dienlich ist. Man sieht: die „pastorale oder missionarische Neuausrichtung“ (EG 25, 27, 30, 32), die Kirche im Aufbruch ist das Wesentliche, und davon hängt alles andere ab. Und das bedeutet auch die Bereitschaft, von jenen kirchlichen Strukturen Abschied zu nehmen, „die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können“ (EG 26). Damit wird die Evangelisierung zum hermeneutischen Prinzip der Kirchenreform, wie dies schon in der Apostelgeschichte der Fall war.

Ein Papst als Motor der Kirchenreform?

Das Reformbewusstsein des Papstes äussert sich in seiner Aufforderung, „die nötigen Massnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind“ (EG 25: mit dem Wort „Neuausrichtung“ geht in der deutschen Übersetzung einiges aus der Semantik des spanischen Originals verloren. Denn Franziskus spricht von conversión, also von einer inneren Einsicht in die Notwendigkeit einer „Umkehr“ oder metanoia im biblischen Sinne).

Als Sohn des hl. Ignatius von Loyola hat Franziskus die Kunst der Beratung, der Unterscheidung der Geister und der entschlossenen Entscheidung gelernt. Das ist sein modus operandi.

Hans Maier ist der Meinung, dass dem Jesuiten-Papst am ehesten gelingen könnte, „die Kunst, das Prophetische zu organisieren“. Denn in keinem Orden wurde das Prophetische „so überlegt organisiert, so handgreiflich-praktisch ausgestaltet“ wie in der Gesellschaft Jesu. Darin verkörpere diese „eine spezifisch neuzeitliche Geisteshaltung“: „Die radikale Infragestellung alles nur Überlieferten, Etablierten steht am Anfang – alles wird unter das Gesetz Gottes gestellt (darin glich Ignatius Calvin). Aber die Radikalität des stetigen Neubeginns wird balanciert durch ein hohes Mass persönlichen Vertrauens in vernünftig erzogene, der Sache hingegebene Menschen im Orden, ihre Individualität, ihre Urteilskraft, ihre Fähigkeit zur Unterscheidung. Daher achtet die Ordensleitung auf die Meinung vieler; sie gibt nicht einfach zentralistisch die Richtung vor. Der Ordensgeneral informiert sich gründlich, er fragt, vergewissert sich, ringt um Einsicht, betet.“ Als Sohn des hl. Ignatius von Loyola hat Franziskus die Kunst der Beratung, der Unterscheidung der Geister und der entschlossenen Entscheidung gelernt. Das ist sein modus operandi.

Spirituelle Erneuerung und Kirchenreform

Franziskus weiss, dass die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind. Demgegenüber anvisiert er zunächst eine spirituelle Erneuerung zur Wiedergewinnung der Freude der Evangelisierung. Dies ist das Entscheidende, denn Jesus klopft von innen an, „damit wir ihn herauskommen lassen“, damit wir ihn in der Not unserer Zeit (GS 1) entdecken. Franziskus schwebt auch eine behutsame, mit jesuitischer Klugheit betriebene Kirchenreform vor. Diese ist bisher nur in Konturen erkennbar und soll auch beim Papsttum (Ökumene, Kollegialität, Dezentralisierung, Synodalität) nicht Halt machen. Was damit gemeint ist, wird sich bald zeigen müssen.

Franziskus träumt von einem missionarischen und pastoralen Aufbruch, von einer umfassenden Erneuerung der Kirche.

Als Franz von Assisi sich 1209 mit „zwölf“ seiner Brüder nach Rom aufmachte, um von Papst Innozenz III. die Bestätigung ihrer Lebensweise zu erbitten, hatte dieser machtbewusste Nachfolger Petri, der als erster den Titel eines „Stellvertreters Christi“ für sich exklusiv beanspruchte, bekanntlich einen Traum: die Kirche zerfällt, und der Poverello werde sie stützen und aufrichten. Wir alle kennen das Fresko Giottos. Nun hat ein anderer Franziskus „als Papst“ einen Kirchentraum: er träumt von einem missionarischen und pastoralen Aufbruch, von einer umfassenden Erneuerung der Kirche. Angesichts der Struktur der katholischen Kirche wird vieles davon abhängen, in wieweit der Papst selbst im Sinne seiner Brandrede von 2013 sein Wirken als Tutiorismus des Wandels (Karl Rahner) versteht, und nicht nur petrinische Einheitsverantwortung, sondern auch paulinische Kühnheit zeigt, um die nötigen und nicht unaufschiebbaren Reformen zu inaugurieren – auch wenn die heutigen Pharisäer im Namen der Tradition die Innovationen ablehnen (vgl. Apg 15,5).

                                                                                                                    Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Mariano Delgado, Dekan