Publikationsdatum 22.05.2021

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - FS 2021/III


An der Schwelle zu einer neuen Epoche von Kirche und Menschheit

Liebe Freunde, liebe Freundinnen und liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät!

1202 starb in San Giovanni in Fiore (Kalabrien) der Abt und Ordensgründer Joachim von Fiore, eine der interessantesten und wirkungsreichsten Gestalten der Menschheits- und Kirchengeschichte. Er wurde zum Wegbereiter eines neuen Geschichtsverständnisses. Wie Joseph Ratzinger 1959 geschrieben hat, erscheint uns dieses heute „so selbstverständlich als das christliche schlechthin …, dass es uns schwer fällt zu glauben, es sei irgendwann einmal nicht so gewesen“. Spuren der Geschichtstheologie Joachims finden sich auch in verschiedenen säkularen Interpretationen, die von einem qualitativen „Fortschritt“ in der Geschichte ausgehen, etwa in der Rede von der Erziehung des Menschengeschlechtes, in der idealistischen, marxistischen und positivistischen Geschichtsinterpretation, in den Sozialutopien und politischen Chiliasmen der Moderne (vgl. Henri de Lubac, La postérité spirituelle de Joachim de Flore, Paris 1979).

Worin bestand Joachims „Innovation“? Nun, Sie ahnen es schon: Er hat die christliche Interpretation der Geschichte, für die Christus „das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb 22,13) ist, „dynamisiert“ und damit die historische „Zukunft“ geschaffen. Denn er hat Christi Verheissung eines Beistands, des Heiligen Geistes, „den der Vater in meinem Namen senden wird“ (Joh 14,26 auch 16), um uns alles zu lehren, an alles zu erinnern, was Christus bedeutet, und uns als „Geist der Wahrheit… in die ganze Wahrheit (zu) führen“ (Joh 16,13), als Motor der Menschheits- und Kirchengeschichte nach Christus verstanden. Dazu verhalfen ihm einige mystische Visionen, die er zu Ostern und zu Pfingsten bei der Schriftbetrachtung hatte.

Joachim von Fiore verbindet das trinitarische Drei-Zeitalter-Schema mit der Idee eines qualitativen geschichtlichen Fortschritts, mit der Erwartung eines wirklich neuen Zeitalters „in dieser Welt“, mit Wandel des jetzigen Zustands von Welt und Kirche zu einem Status, in dem unter Führung des Heiligen Geistes Kirche und Menschheit an Erkenntnis und Weisheit, an Freiheit und Tugendhaftigkeit, an Gottebenbildlichkeit, an „Heil“ wachsen werden.

Andere Vertreter der zur Mystik und Kontemplation neigenden monastischen Theologie hatten schon die Geschichte anhand eines trinitarischen Drei-Zeitalter-Schemas interpretiert. Aber bei Joachim wird dies mit der Idee eines qualitativen geschichtlichen Fortschritts verbunden, mit der Erwartung eines wirklich neuen Zeitalters „in dieser Welt“, mit Wandel des jetzigen Zustands von Welt und Kirche zu einem Status, in dem unter Führung des Heiligen Geistes Kirche und Menschheit an Erkenntnis und Weisheit, an Freiheit und Tugendhaftigkeit, an Gottebenbildlichkeit, an „Heil“ wachsen werden.

Aus der Tatsache, dass nach Christus eine vielfach sündige und heillose Geschichte weiterlief, zieht Joachim die Schlussfolgerung, „dass eine wahrhaft geheilte und gute Geschichte erst noch bevorsteht“. Damit sind ein Heilsoptimismus und gemäss der göttlichen Pädagogik der Heilsgeschichte auch der Gedanke einer progressiven Offenbarung verbunden:  Nach dem Sündenfall des ersten Menschen kommt das Menschengeschlecht stufenweise zur Kenntnis seines Schöpfers zurück. In einer ersten Zeit wurzelt es im Vater, in der zweiten keimt es im Sohn und in der dritten erfährt es im Heiligen Geist „die süsse Frucht“ der Gotteserkenntnis. In diesem dritten und letzten Zeitalter der Welt werden wir dann nicht mehr unter dem Schleier des Buchstabens leben, so dass unser Erkennen „Stückwerk“ ist (1 Kor 13,9), „sondern in der vollen Freiheit des Geistes.“  

Im dritten und letzten Zeitalter der Welt werden wir dann nach Joachim von Fiore nicht mehr unter dem Schleier des Buchstabens leben, so dass unser Erkennen „Stückwerk“ ist (1 Kor 13,9), „sondern in der vollen Freiheit des Geistes.“  

Joachim war überzeugt, mit dieser Periodisierung der Heilsgeschichte „den Sinn der Schrift zu verstehen“. Den grossen scholastischen Theologen des 13. Jahrhunderts (mit Ausnahme Bonaventuras) galt er als „simplex“ oder „ignoranter“. Der „Laien“-Theologe Dante, der auf dem Höhepunkt der Verrechtlichung und Klerikalisierung der Kirche unter einem machttrunkenen Papsttum das von Joachim angezündete Feuer verstand, platzierte ihn aber im Paradies.

Eine besondere Aktualität gewinnt Joachim von Fiore in unserer Zeit mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das viele Anklänge an seine Geschichts-, Menschheits- und Kirchenvision hat.

Eine besondere Aktualität gewinnt Joachim in unserer Zeit mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das viele Anklänge an seine Geschichts-, Menschheits- und Kirchenvision hat. Es beginnt bei der Bezeichnung Johannes XXIII. als „papa buono“, worin eine moderne Anspielung an den von Joachim erwarteten engelsgleichen Papst zu sehen wäre. Johannes XXIII., ausgebildeter Kirchenhistoriker, verband mit dem Konzil die Hoffnung auf ein „neues Pfingsten“ und auf einen qualitativen „Sprung nach vorn“, ja dass wir erst anfangen, „das Evangelium besser zu verstehen“ und zu einer „Kirche der Armen“ werden („Komm, Heiliger Geist, … Vater der Armen“, heisst es bekanntlich in der Pfingstsequenz!). Wie einst Joachim forschte das Konzil prophetisch „die Zeichen der Zeit, um sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. Und es hatte dabei das Bewusstsein, dass die Menschheit „in einer neuen Epoche ihrer Geschichte“ (Gaudium et spes, Nr. 4) steht, am Vorabend rascher Veränderungen und qualitativer Entwicklungen.

Das Konzil fühlte sich der Menschheitsfamilie „eingefügt“ und sprach mit universalem Heilsoptimismus von einem umfassenden „Plan Gottes für das Heil des Menschengeschlechts“, einen Plan, der aus der „‚quellhaften Liebe‘, dem Liebeswollen Gottes des Vaters“ entspringt, „aus dem der Sohn gezeugt wird und der Heilige Geist durch den Sohn hervorgeht“ (Ad gentes, Nr.  2). Unter Führung des Heiligen Geistes gehen Kirche und Menschheit der Vollendung des Heilsplans entgegen – zu einer „Zivilisation der Liebe“, wie Paul VI. nach dem Konzil sagte, und das päpstliche Lehramt seitdem immer wieder anmahnt. Die an Metaphern reiche, an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte Konzilssprache steht Joachim näher als der Schultheologie und zeugt implizit von der immerwährenden Aktualität des Florensischen Abtes.

Viele von uns verbinden mit der „Neuausrichtung“ – auch des Papsttums! –, von der Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) spricht, den Mut zu einer neuen Kirchengestalt.

Spätestens seit dem Konzil befinden wir uns – mit den Augen des Historikers betrachtet – an der Schwelle zu einer neuen Kirchenepoche. Solche Übergänge finden in der Geschichte nicht punktuell statt, sondern im Verlauf von einigen Generationen, und so dass die alte und die neue Epoche zunächst nebeneinanderstehen, bis sich das Neue wirklich behauptet. Viele von uns verbinden mit der „Neuausrichtung“ – auch des Papsttums! –, von der Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) spricht, den Mut zu einer neuen Kirchengestalt. Umso wichtiger ist heute das Erflehen des Heiligen Geistes, damit er uns immer mehr in die ganze Wahrheit führe; aber auch damit die Kirche sich wirklich als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium, Nr. 1) verstehe und in verschiedenen Feldern (u.a. Verhältnis von Klerus und Laien, Rolle der Frau, Verhältnis zu den anderen Kirchen, Konfessionen und Religionen) deutlich den Abschied von der „mittelalterlichen Gestalt“ vollziehe, den das Konzil „anfangshaft und schüchtern“ (Karl Rahner) signalisiert hat.

Ich wünsche allen Freundinnen und Freunden sowie allen Mitgliedern der theologischen Fakultät gute Gesundheit und den „pfingstlichen Mut“ zur Kirchengestalt unserer Zeit!

Mariano Delgado, Dekan