TextPublikationsdatum 03.03.2022

Bulgakovs Regimekritik (1906):


Kiew, 20. April 1906

Nach dem verlorenen Krieg in Japan und der ersten russischen Revolution von 1905 ließ Zar Nikolaj II. erstmals ein russisches Parlament, die Staatsduma zu. In einer eindringlichen Rede "Über die Aufgaben der Volksvertretung in Russland" vor Wählern in Kiew sagte Bulgakov u.a. Folgendes:

"Worin liegt der Sinn dessen was in Russland passiert, der erlebten Nöte und Schrecken, innerer und äußerer? Ist das ein unmittelbares Chaos von Zufälligkeiten oder gibt es hier eine innere Notwendigkeit, offenbart sich eine bestimmte Wahrheit, wird ein bestimmtes höheres Gericht einberufen, ein Gericht über die kollektive Person eines ganzen Volks, über dem nationalen Gewissen, über der russischen Geschichte? Klar ist das Urteil, das vor etwa 30 Jahren von Vladimir S. Solov’ev gesprochen wurde, der schrieb: 'Eines wissen wir auf sicher: Russland erfüllt seine moralische Pflicht nicht: Wenn es sich nicht von seinem nationalen Egoismus lossagt, wenn es sich nicht lossagt vom Recht des Stärkeren, und wenn es sich nicht wahrhaft geistige Freiheit und Wahrheit wünscht, dann wird es niemals soliden Erfolg haben, weder in seinen äußeren noch inneren Angelegenheiten'. [...] 

Russland hat seine moralische Pflicht nicht erfüllt, es hat seinen nationalen Egoismus zum Kult erhoben und damit einen gesunden Patriotismus ersetzt, sein staatliches Leben hat es mit Füßen getreten, es hat die Macht des Rechts verspottet und nur das Recht der Macht anerkannt, das Faustrecht, es hat die freie Person negiert, die zu Wahrheit und Freiheit streben kann und ihr Bürokratie und Subordination vorgezogen. [...] Den Patriotismus haben wir durch Nationalismus ersetzt, haben der russischen Nationalität die Rolle eines Polizisten aufgezwungen. [...] Denn russisch zu sein bedeutet für [diese professionell "russischen" Leute] nicht, sein Volk zu lieben und jede fremde Nationalität hochzuachten, nein, es bedeutet das Faustrecht zu predigen. [...] Ich bin ein russischer Patriot, ich liebe das russische Volk und glaube fest an seine große historische Berufung, und gerade deswegen kann ich nicht ohne Zorn und Kummer zuschauen, in was diese Patrioten den großen und heiligen Namen des russischen Volkes pervertiert haben. [...] Ganz Russland hat man in dieser Zeit versucht in ein Polizeirevier zu verwandeln, unter die Aufsicht der Polizei zu stellen. Doch dafür musste man zuerst und vor allem die Macht des Gesetzes brechen, anstelle der Macht des Rechts die Fahne der Willkür, des Faustrechts zu hissen. [...] 

Und seltsamerweise verschreiben sich die russischen Menschen der Verteidigung der Religion, sie glauben die Orthodoxie zu verteidigen, wollen im Namen Gottes handeln. Doch wie gehen sie denn in Wirklichkeit mit religiösem Denken um, wie verhalten sie sich in Wirklichkeit zur orthodoxen Kirche? Sie verhalten sich zu ihr wie zu einem Instrument für politische Ziele, wie zu einer Art Patent für Vertrauenswürdigkeit, doch gerade damit pervertieren sie die Idee der Kirche selbst, bringen Schande über sie, ja sie verfluchen Gott damit. In offensichtlicher Verletzung der Gebote Christi unterstützen die Konservatoren seit langer Zeit bei uns eine Atmosphäre des religiösen Kriegs und der Inquisition: Indem sie die Altgläubigen durch das Versiegeln ihrer Kirchen verfolgen, die Sektierer barbarisch verfolgen, Gefängnisse in Klöstern unterhalten – so verteidigten ihre scheinbaren Verteidiger die Orthodoxie, welche sie vollkommen der Autokratie zur Verfügung gestellt haben. [...] Das ist das traurige Bild der moralischen Entwicklung, welche unsere Bürokratie heimgesucht hat: Zensur, Bevormundung, Misstrauen, Repression, administrative Maßnahmen – das ist das einfache Lexikon von Wörtern und Begriffen, mit denen wir in unserem politischen Leben leben. Und mit diesen Begriffen wird unser jetziges Leben und die Regierung bis aufs Knochenmark demoralisiert. [...] Wir sind arm und elend nicht deswegen, weil wir nicht mit natürlichen Reichtümern oder wenig geistigen Kräften im russischen Volk bedacht wären, wir versinken nicht im Blut, weil das russische Volk von außergewöhnlicher Grausamkeit und Blutrünstigkeit wäre, sondern weil wir in einer verpesteten, vergifteten Atmosphäre leben, deren Lebensquellen des Volks selbst vergiftet sind, deren allgemeinen Existenzbedingungen pervertiert sind. Russland kann nur auf eine Weise gerettet werden: Es muss auf den Weg der Wahrheit und des Rechts zurückgebracht werden, es muss seine moralische Verrenkung korrigieren, seine Lebensquellen heilen, es muss in einen Rechtsstaat verwandelt, das Reich der Lüge in ein Reich der Wahrheit verwandelt werden."

Übersetzt von Regula Zwahlen.

In:  Narod 2/3 (1906)

Siehe auch: Easter Thoughts (in Narod 1 (1906)), with commentary by Regula Zwahlen in: Public Orthodoxy, April 25, 2022