Publikationsdatum 01.05.2023

Wie nehmen wir unsere eigenen Bewegungen wahr?


Auch in totaler Finsternis sind wir alle in der Lage, eine Flasche Wasser an die Lippen zu führen. Möglich macht diese Leistung eine Art sechster Sinn: die Propriozeption. Dabei handelt es sich um die Wahrnehmung der Position der eigenen Glieder im Raum. Neurowissenschaftler der Universität Freiburg konnten nachweisen, dass bestimmte Nervenzellen des somatosensorischen Rindenfelds dabei eine zentrale Rolle spielen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht und können als Grundlage für die Entwicklung leistungsfähigerer Neuroprothesen dienen.

Es ist so banal, dass man leicht vergessen kann, wie unglaublich komplex jede noch so einfache Geste ist. Eine Flasche zu ergreifen und sie zum Mund zu führen, um daraus zu trinken, bereitet selbst bei geschlossenen Augen keine Schwierigkeiten und versetzt niemanden in Staunen. Dabei wird diese kontrollierte Bewegung erst durch spezielle Sensoren möglich, die als Propriorezeptoren bezeichnet werden und sich in den Muskeln, Sehnen und Gelenken befinden. Diese Sensoren senden die Information über die augenblickliche Lage der einzelnen Extremitäten an das Gehirn. «Die Propriozeption ist ein noch weitgehend unerforschtes sensorisches System, das aber entscheidend für die Wahrnehmung dessen ist, wo sich die eigenen Gliedmassen befinden und wie sie sich im Raum bewegen», erklärt Mario Prsa, Assistenzprofessor am Departement für Neuro- und Bewegungswissenschaften der Universität Freiburg (UNIFR). Zusammen mit seinen Kollegen versuchte er herauszufinden, welche spezifischen Signale bei aktiviertem propriozeptivem System wahrgenommen und im Gehirn codiert werden.

Der Körper dient als Bezugspunkt für die Bewegungen der eigenen Glieder
Hierzu untersuchten die Neurowissenschaftler der UNIFR das Verhalten von Mäusen, die darauf abgerichtet waren, eine Wahrnehmungsaufgabe durchzuführen. «Wir haben ein Robotersystem entwickelt, um gut quantifizierbare propriozeptive Reize an die Vordergliedmassen der Mäuse zu senden», erklärt Irina Scheer, Doktorandin im Team um Assistenzprofessor Prsa. «Durch die Bewegung ihrer Glieder in verschiedene Richtungen bemerkten wir, dass die Mäuse eine erstaunliche Unterscheidung treffen zwischen Bewegungen vom Körper weg und zum Körper hin.» Das Team konnte zudem zeigen, dass die propriozeptiven Signale bei den Mäusen von den Muskeln der Vordergliedmassen zur Hirnrinde hochlaufen, und identifizieren, welche Hirnrindenareale die bewusst wahrgenommenen propriozeptiven Reize verarbeiten.

Was codieren die Nervenzellen?
In einer zweiten Experimentreihe verwendeten die Forschenden die Zwei-Photonen-Mikroskopie, um die Aktivität von mehreren Hundert Nervenzellen in zuvor ermittelten propriozeptiven Hirnrindenarealen bildlich darzustellen. «Wir haben beobachtet, dass diese Nervenzellen die Propriozeption der Gliedmassen eher in Bezug auf die Bewegungsrichtung als auf die Position im Raum oder die Haltung codieren», erklärt Ignacio Alonso, Doktorand und Co-Erstautor der Studie. «Dabei sind aber nicht alle Richtungen gleich dargestellt, und erstaunlicherweise zeigt sich diese uneinheitliche Darstellung nicht entlang der Achse der Extremität, sondern vielmehr im Verhältnis zur Achse des Körpers.» Diese in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlichten Ergebnisse lassen also vermuten, dass die Mäuse die eigenen Glieder nicht als gekrümmt oder gestreckt wahrnehmen, sondern als sich zum Körper hin- oder vom Körper wegbewegend.

Ein Modell für bidirektionale Neuroprothesen
Sollen Neuroprothesen gelähmte oder amputierte Glieder vollständig ersetzen können, dann müssen sie in der Lage sein, sensorische Signale an das Gehirn zu senden und so die Propriozeption zu imitieren. Dabei stellt sich die zentrale Frage, welche Bewegungseigenschaften diese Geräte der nächsten Generation bei der Planung der Reizparameter berücksichtigen müssen. «Unsere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Reizparadigmen darauf basieren sollten, wie sich der künstliche Arm zu einem bestimmten Ziel hinbewegt, beispielsweise zum eigenen Körper», erklärt Mario Prsa. «Über präzisere bidirektionale Neuroprothesen hinaus kann dieses Forschungsgebiet zu einem besseren Verständnis von Störungen der Propriozeption mit ihren oft seltsamen Ausprägungen beitragen und Anhaltspunkte für neue Therapieansätze liefern.»

> Alonso I., Scheer I., Palacio-Manzano M., Frézel-Jacob N., Philippides A., Prsa M.:
Peripersonal encoding of forelimb proprioception in the mouse somatosensory cortex