Publikationsdatum 23.12.2021

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - HS 2021/III


Friede auf Erden… 

Mit der Friedensbotschaft der Engel reiht Lukas (2,14) die Geburt Jesu in die Tradition des messianischen Friedensfürsten (Jes 9,5) ein. Gemeinsam mit der Verherrlichung Gottes in der Höhe wurde der Friedenswunsch zum Binom der Weihnachtsbotschaft und zur Eröffnung eines der Messgesänge, die seit dem Barock um die Welt gingen: «Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis» (vgl. die Version von Antonio Vivaldi). Ja, die Welt ist in Ordnung, wenn Gott verherrlicht wird und die Menschen untereinander in Frieden leben, weil Gerechtigkeit und Recht zwischen den Nationen walten, wir die Schwerter zu Pflugscharen und die Lanzen zu Winzermessern umschmieden, der Krieg nicht mehr gelernt wird (Jes 2,4), und man sich unter Weinstock und Feigenbaum gegenseitig einlädt (Sach 3,10). Alle Jahre wieder erklingt die Weihnachtsbotschaft als Friedensbotschaft um den Globus; und wir hören sie gerne, denn wir brauchen Friedensvisionen als kontrafaktische Sehnsucht zur real existierenden Geschichte.

Die historische Anthropologie lehrt uns, dass wir in der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart hinein die schlimmsten Formen der Gewalt wider den Nächsten finden, so dass der Mensch die einzige Spezies ist, die sich selbst auslöschen könnte. Es gab immer wieder gute Vorsätze, Friedensverträge, die vom «ewigen Frieden» sprachen. Aber sie währten nicht lange. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1815 beschworen die Völker Europas im Manifest der Heiligen Allianz, «sich untereinander nur als Glieder einer und derselben Nation von Christen anzusehen». Aber hundert Jahre später gingen sie beim Ersten Weltkrieg brutal aufeinander los, und auf allen Seiten hielten Vertreter der jeweiligen Kirchen feurige Predigten im Geiste des Nationalismus. Die Geschichte erscheint in der Tat wie eine «Höllenmaschine», um es mit Adorno «nach Auschwitz» zu sagen: «Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch».

Aufgrund seines Ausschliesslichkeitsanspruchs vermochte das Christentum der Versuchung der Intoleranz, der «Aufrichtung einer heillosen innerweltlichen Absolutheit, die den anderen für Zeit und Ewigkeit in Frage stellt» nicht zu widerstehen (Joseph Ratzinger)

Und das gilt auch für die Kirchengeschichte selbst, in der die Friedensbotschaft der Engel eine besondere Resonanz hätte finden sollen. Selbst wenn man in Goethes Spruch «Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt» eine grobe, unzutreffende Vereinfachung findet, kann man nicht umhin, mit dem Kirchen- und Religionshistoriker Ernst Benz folgendes festzuhalten: «Weder der Islam noch der Buddhismus noch der Hinduismus haben auch nur entfernt so viele Menschen um ihres Glaubens willen getötet wie die christlichen Kirchen.» Aufgrund seines Ausschliesslichkeitsanspruchs vermochte das Christentum der Versuchung der Intoleranz, der «Aufrichtung einer heillosen innerweltlichen Absolutheit, die den anderen für Zeit und Ewigkeit in Frage stellt» (Joseph Ratzinger), nicht zu widerstehen. Von daher hat das Christentum, das mit einem «Märtyrer» begann, seine Unschuld längst verloren. Künstler wie der Mexikaner José Clemente Orozco haben dieses Bewusstsein sehr drastisch ausgedrückt: wenn Christus zurückkäme, würde er als erstes das Kreuz zerstören, weil Christinnen und Christen unter diesem Zeichen eine Spur der Gewalt in der Geschichte hinterlassen haben. So die Botschaft seines Bildes (Öl auf Leinwand) «Christus zerstört sein Kreuz».

Die Gewaltgeschichte im Schatten des Christentums hat natürlich nicht nur mit einigen lehrmässigen Fehlentwicklungen (intolerante Ausschliesslichkeit, Kreuzzüge, Ketzer- und Hexenprozesse) zu tun, sondern wurzelt auch in der Natur des Menschen, in der Anthropologie. Vergessen wir nicht, dass nach dem biblischen Narrativ die Menschheitsgeschichte eine «kainitische Abstammung» aus der Gewalt und dem Brudermord hat. Hochreligionen, besonders solche wie Christentum und Buddhismus, stellen den Versuch dar, die Natur des Menschen zu «zähmen», den «homo homini lupus» (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) in einen «homo homini amicus» (der Mensch ist dem Menschen ein Freund) zu verwandeln. Zwischen den Steinschleudern der Vorzeit und den Massenvernichtungswaffen per Knopfdruck unserer Zeit gibt es zweifelsohne einen technischen Fortschritt – aber auch einen moralischen? Das ist mehr als zweifelhaft; vielmehr spricht vieles dafür, dass die Natur des Menschen bei allen Zivilisationsschüben eine Strukturkonstante der Geschichte geblieben ist. Kant ahnte deshalb, dass der Fortschritt hin zur Idee der Menschheit «gerade an der Natur des Menschen scheitern könnte … aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden». Nicht zuletzt aus diesem Grund hat der Prozess der Zivilisation einschliesslich des Beitrags der Weltreligionen das Gewaltproblem nicht gelöst. Bedeutet dies Resignation und Defätismus? Keineswegs.

Christen und Christinnen sind heute zur demütigen Reinigung, zur Einsicht in das Ausmass an Gewalt und Unrecht in der eigenen Geschichte berufen, aber auch zur gläubigen Zuversicht und Aufrichtung mit Blick auf den Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen.

Die historische Anthropologie verzeichnet auch Positives. Demnach befindet sich die Menschheit in einem Zivilisationsprozess, der zur Zähmung oder Kontrolle der willkürlichen Gewalt führen werde: sei es durch das Gewaltmonopol des modernen Rechtsstaates oder durch die kulturelle Domestikation der tierischen Natur des Menschen. Aber die Geschichte verläuft nicht wie eine aufsteigende Linie auf das messianische Friedenszeitalter zu. Ihr Verlauf ähnelt vielmehr dem einer Spirale mit Rück- und Fortschritten. Wir werden manchmal zurückgeworfen und müssen uns des Potenzials unserer Selbstzerstörungskräfte wieder bewusst werden, um den nochmaligen Beschluss zu fassen, eine neue, friedliche Weltordnung auf der Basis von Gerechtigkeit und Recht zu schaffen. Die Fortschritte in den letzten Generationen sind nicht zu übersehen: das Bewusstsein der Einheit des «Menschheitsfamilie» ist gewachsen, nicht zuletzt dank der Wirkung des biblischen Gedankens der universalen Gottebenbildlichkeit aller Menschen; es sind internationale Foren entstanden, um die Weltprobleme gemeinsam zu besprechen und zu lösen; bei Katastrophen ist eine weltweite Solidarität schnell spürbar; die Reisen und die Medien bringen uns täglich bei, dass die leidenden Fernsten uns zum Nächsten werden können – jenseits der Grenzen von Religion und Nation. Gewiss, die aktuelle Pandemie oder die Situation der Menschen auf der Flucht zeigen uns, dass wir noch nicht fähig sind, humanitäre Katastrophen global zu meistern…, aber verglichen mit früheren Zeiten kann man wohl sagen, dass die Welt ein Stück weit «zusammengewachsen» ist.

Das Christentum braucht seine Botschaft nicht zu verstecken. Christen und Christinnen sind heute zur demütigen Reinigung, zur Einsicht in das Ausmass an Gewalt und Unrecht in der eigenen Geschichte berufen, aber auch zur gläubigen Zuversicht und Aufrichtung mit Blick auf den Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen. Wer sich in Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis ehrlich übt, der weiss gerade als Christ oder als Christin, dass ein harter Kampf die persönliche wie die allgemeine Geschichte durchzieht: ein Kampf gegen das Böse in uns und «die Mächte der Finsternis, ein Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn bis zum letzten Tag andauern wird» – so das letzte Konzil in Gaudium et spes 37. Die Geschichte hat einen dramatischen Charakter, sie ist keine süsse Weihnachtsgeschichte, in der die Friedensbotschaft von ihrem messianisch-apokalyptischen Kern getrennt werden kann.

Während die Kulturpessimisten fürchten, dass wir dem Untergang geweiht sind, gehört zum christlichen Narrativ unverzichtbar die Hoffnung, dass im dramatischen Kampf der Geschichte das Lamm letztlich stärker als der Drache sein wird.

Ja, wir müssen uns anstrengen, wenn wir zum Kommen des Reiches Gottes, das ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, der Wahrheit und der Freiheit ist, unseren Beitrag leisten und so vermeiden möchten, dass der Herr bei seiner Wiederkunft in Herrlichkeit sein Kreuz zerstört. In diesem dramatischen Kampf sind wir nicht allein. Wäre es so, wäre er angesichts unserer kainitischen Abstammung schon verloren. Während die Kulturpessimisten fürchten, dass wir dem Untergang geweiht sind, gehört zum christlichen Narrativ unverzichtbar die Hoffnung, dass im dramatischen Kampf der Geschichte das Lamm letztlich stärker als der Drache sein wird. Wenn der Mensch sich Christus und seiner göttlichen Barmherzigkeit/Gnade öffne, könne daher die Kraft des Guten die Gewalt des Bösen überwinden, in uns und in der Welt. Daran erinnerte Benedikt XVI. in seiner Ansprache an das Kardinalskollegium und die römische Kurie vom 22. Dezember 2005.

In diesem Sinne wünsche ich allen Mitgliedern, Freunden und Freundinnen unserer theologischen Fakultät mit den Engeln an die Hirten «Friede auf Erden»! Mögen wir darauf wie die Hirten reagieren: «Kommt, wir gehen nach Betlehem» … zur Anbetung des messianischen Friedensfürsten und Retters der Welt!

Prof. Mariano Delgado, Dekan