Gastkommentar

Das deutsche Bundesverfassungsgericht strapaziert die Rechtsgemeinschaft

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs bezüglich des Ankaufs von Staatsanleihen als «methodisch nicht mehr nachvollziehbar» und «objektiv willkürlich» bezeichnet. Das sind neue, für den Zusammenhalt der Union nicht ungefährliche Töne.

Astrid Epiney
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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat eine Entscheid des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat eine Entscheid des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt.

Uli Deck / DPA

Der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, formulierte prägnant, die Europäische Union sei eine «Rechtsgemeinschaft». Gemeint war (und ist) damit, dass sie auf rechtlichen Grundlagen beruht, mit rechtlichen Instrumenten handelt und für die Einhaltung des Rechts geeignete (gerichtliche) Verfahren vorgesehen sind. So obliegt dem schon 1957 geschaffenen Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Sicherstellung der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts, dies in Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten.

Dieses in vielerlei Hinsicht komplexe System funktioniert seit über sechzig Jahren insgesamt sehr gut, wenn es auch mit Herausforderungen konfrontiert ist. So liess gerade das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) immer wieder verlauten, es dürfe prüfen, ob sich Rechtsakte der EU-Organe an die durch die EU-Verträge gezogenen Schranken halten oder offensichtlich aus ihnen «herausbrechen», eine Sicht, die in einem Spannungsverhältnis zur Letztentscheidungskompetenz des EuGH steht. Ein eigentlicher Bruch wurde aber bisher vermieden, zumal das BVerfG mitunter auch das Kooperationsverhältnis mit dem EuGH betont.

Urteil zum Ankauf von Staatsanleihen

Das Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020 zur Rechtmässigkeit des Programms der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Ankauf von Staatsanleihen setzt nun aber ganz andere Akzente: Der Klage wurde teilweise stattgegeben, da die Verhältnismässigkeit der Massnahmen nicht hinreichend begründet sei, insbesondere wegen ungenügender Berücksichtigung ihrer wirtschaftspolitischen Auswirkungen. Die EZB müsse hier nachbessern. Die Folgen dieses Aspekts des Urteils sind überschaubar, denn die EZB wird die gewünschte Begründung wohl liefern.

Spektakulär hingegen sind gewisse Erwägungen des BVerfG: Denn es stellt sich ausdrücklich und in harschen Worten gegen den EuGH, der in einem auf Anfrage des BVerfG ergangenen und detailreich begründeten Urteil zum Schluss kam, die erwähnten Massnahmen seien vom Mandat der EZB gedeckt und verhältnismässig, so dass sie mit dem Unionsrecht in Einklang stünden. Diese Ausführungen seien aber – so das BVerfG – «methodisch nicht mehr nachvollziehbar» und «objektiv willkürlich», so dass es nicht an dieses Urteil des EuGH gebunden sei.

Letztlich beansprucht das BVerfG damit das letzte Wort bezüglich der Frage, ob eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts vertretbar ist oder nicht, und wirft dem EuGH eine Art Rechtsbeugung vor, ein in seiner Schwere kaum zu überbietender Vorwurf, der meines Erachtens angesichts der differenzierten Argumentation des EuGH, der sich im Einzelnen mit den Entscheidungen der EZB auseinandersetzte (freilich unter Betonung des weiten Gestaltungsspielraums der EZB), in keiner Weise überzeugt.

Durch diese Infragestellung der dem EuGH durch die EU-Verträge eingeräumten Kompetenz zur letztverbindlichen Auslegung des Unionsrechts werden Akzeptanz und Verbindlichkeit des Unionsrechts und die Rolle der obligatorischen Gerichtsbarkeit in ihren Grundfesten erschüttert. Eine Rechtsgemeinschaft verträgt es nicht, wenn die Mitglieder den Anspruch erheben, die eigenen Vorstellungen bei Bedarf und unter Missachtung der vorgesehenen Verfahren zum Massstab für alle und die gemeinsamen Organe zu erklären, sind doch objektivierbare Schranken eines solchen Anspruchs nicht ersichtlich. Sollen Gerichte ihre Rolle, Streitigkeiten über geordnete Verfahren beizulegen, wahrnehmen können, sind Urteile eben auch dann zu beachten, wenn man anderer Meinung sein kann oder ein Gericht sich «irrt». Ist der Gesetzgeber oder sind (in der Union) die Mitgliedstaaten mit gewissen Rechtsprechungsentwicklungen nicht einverstanden, können die gesetzlichen Grundlagen nach den dafür vorgesehenen Verfahren modifiziert werden.

Sprengstoff für den Charakter der Union

Kein gangbarer Weg ist es jedoch, dass nationale (Verfassungs-)Gerichte jeweils individuell entscheiden, ob ein bestimmtes Urteil des Gerichtshofs offensichtlich unhaltbar und damit nicht zu beachten ist. Infrage gestellt werden können damit auch die Grundwerte der Union wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dass dies nicht nur von theoretischem Interesse ist, zeigt der bereits seit einiger Zeit währende Streit mit gewissen Mitgliedstaaten (insbesondere Polen und Ungarn), in denen die Unabhängigkeit der Justiz, der Medien, aber auch der Universitäten massiv missachtet wird. Warum sollten diese Staaten vor dem Hintergrund des Urteils des BVerfG ihnen nicht genehme beziehungsweise aus ihrer Warte unhaltbare Urteile des EuGH in Zukunft befolgen?

So gesehen gehen die Implikationen des Urteils des BVerfG weit über die Ankaufpolitik der EZB hinaus, und es birgt Sprengstoff für den Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft – eine angesichts der befriedenden und stabilisierenden Rolle des Rechts gerade in der Europäischen Union höchst beunruhigende Entwicklung, auch für die Schweiz.

Astrid Epiney ist Professorin und Direktorin am Institut für Europarecht der Universität Freiburg i. Ü. sowie Rektorin der Universität.