Gastkommentar

Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften: ein Auslaufmodell?

In der Referendumsdemokratie erfolgt die rechtliche Anerkennung erst dann, wenn eine Religionsgemeinschaft als gesellschaftlich integriert wahrgenommen wird.

René Pahud de Mortanges
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Das Minarett der Mahmud-Moschee in Zürich. (Bild: Alessandro Della Bella / Keystone)

Das Minarett der Mahmud-Moschee in Zürich. (Bild: Alessandro Della Bella / Keystone)

Mit der öffentlichrechtlichen Anerkennung spricht ein Kanton einer Kirche gesellschaftliche Relevanz zu, gewährt ihr eine Reihe von Rechten und unterwirft sie staatlichen Organisationsvorschriften. Angesichts der rapiden Säkularisierung der Gesellschaft stellt sich die Frage, ob dieses in den 1960er Jahren für die damaligen Volkskirchen entwickelte Rechtsinstitut noch seine Berechtigung hat. Ist es nicht Zeit für eine strikte Trennung von Staat und Kirche, so wie dies etwa der Präsident der Freidenker-Vereinigung fordert? Kommt hinzu, dass sich die Ausdehnung des Anerkennungsrechts auf andere Religionsgemeinschaften als schwierig gestaltet. Zwar konnten in den letzten Jahrzehnten in sechs Kantonen jüdische Gemeinschaften anerkannt werden. Die Angst vor «Sekten» ebenso wie die hitzige Islamdebatte hat aber mancherorts zu politischer Stagnation in diesem Bereich geführt. Das System der staatlichen Anerkennung steht vor grossen Herausforderungen, zu denen auch gelegentliche Infragestellungen aus gewissen Kreisen der römisch-katholischen Kirche gehören.

Mehrheit gegen radikalen Systemwechsel

Zur richtigen Beurteilung des in vielen Kantonen existierenden Anerkennungssystems ist zunächst ein Blick über die Landesgrenzen hilfreich. Die kantonalen Systeme liegen etwa in der Mitte innerhalb einer grossen Bandbreite religionsverfassungsrechtlicher Systeme, angefangen bei Ländern mit strikter Trennung von Staat und Religion bis hin zu starker Identifikation und Verflochtenheit. Alle nationalen Systeme sind durch die jeweilige Verfassungs- und Religionsgeschichte bedingt. Vorausgesetzt, die Religionsfreiheit wird gewahrt, ist ein System nicht a priori besser als ein anderes. Ausser in Zeiten revolutionärer Verfassungsumbrüche werden sie auch nicht fundamental verändert, sondern sukzessive den sich wandelnden gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst.

Die kantonalen Verfassungsrevisionen seit der Jahrtausendwende und verschiedene verworfene Trennungsinitiativen zeigen, dass die Mehrheit der Politiker und Stimmberechtigten auch in der Schweiz radikale Systemwechsel ablehnt. Das hängt unter anderem mit der starken Ausdehnung des Sozialstaates zusammen, als dessen verlängerter Arm die Kirchen zunehmend gesehen werden. Auch viele distanzierte Kirchenmitglieder und manche Konfessionslose finden es unterstützenswert, dass die anerkannten Kirchen soziale und kulturelle Leistungen für die Gesamtgesellschaft erbringen.

Ausgehend vom Kanton Zürich wurde in den letzten Jahren in verschiedenen Kantonen ein System der Abgeltung kirchlicher Leistungen implementiert, dies gestützt auf Tätigkeitsprogramme und Sozialbilanzen. Wenn also die Freidenker fordern, die Kirchen als NGO zu behandeln, so ist dieser Prozess faktisch schon im Gang – und das nicht immer zum Vorteil der Kirchen.

Auch die Verwendung der Erträge aus den Kirchensteuern juristischer Personen wurde in einigen Kantonen mittels Zweckbindung auf nichtkultische Zwecke eingegrenzt. Zu den aktuellen Veränderungen gehört weiter die sukzessive Ersetzung des konfessionellen Religionsunterrichts durch den staatlichen Religionskundeunterricht gemäss Lehrplan 21.

Einen starken Wandel erfährt schliesslich die Anstaltsseelsorge. Jedenfalls in grösseren Spitälern wird heute die Seelsorge von interreligiös zusammengesetzten Teams angeboten, welche für alle Patienten da sind; auch ein dezidiert humanistischer Seelsorger könnte da seinen Platz haben.

Integrationspotenzial

Das kantonale Religionsverfassungsrecht wandelt sich also durchaus mit der religiösen Individualisierung und Pluralisierung. Ein Wechsel zu einem Trennungssystem erscheint da als unnötig; er wäre für die meisten Kantone auch völlig systemfremd. Vor allem aber verlöre man die positiven Funktionen des Anerkennungssystems, zu denen auch sein Integrationspotenzial gehört. Studien zeigen, dass die Aussicht auf rechtliche Anerkennung oft interne Reformprozesse in Religionsgemeinschaften auslöst und sie näher an die Gesamtgesellschaft heranführt. In der Referendumsdemokratie erfolgt die rechtliche Anerkennung erst dann, wenn die Religionsgemeinschaft als gesellschaftlich integriert wahrgenommen wird. Der Weg dorthin ist oft begleitet von wechselseitigen Adaptationsprozessen.

Besonders schwierig und langwierig scheint dieser Weg heute für die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz. Teils fehlt es noch an der einheitlichen Organisationsform der muslimischen Verbände, teils an den erforderlichen kantonalen Gesetzesgrundlagen, oft wohl auch am politischen Willen. Gibt es einstweilen andere Formen, mit denen Muslime wenn noch nicht rechtliche, so doch gesellschaftliche Anerkennung erhalten können, und das auch unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer religiösen Organisation? Faktisch tut sich hier in den Kantonen einiges, dies oft aufgrund der Initiative der Verwaltungsbehörden. Das zeigen z. B. die stark gewachsene Sensibilität der Schulbehörden für religiöse Pluralität, die Einbindung muslimischer Betreuungspersonen in die Anstaltsseelsorge, die Etablierung von islambezogenen Studien- und Weiterbildungsangeboten oder die Errichtung konfessioneller Abteilungen auf öffentlichen Friedhöfen.

In Zeiten des Sozialstaates und verstärkter Migration werden Kirchen und andere Religionsgemeinschaften nicht so sehr deswegen anerkannt, weil sich der Staat mit ihnen identifiziert, sondern weil dieser einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen darin sieht. Ob eine jüngere, noch viel säkularisiertere Generation von Politikern und Stimmbürgern das in zwanzig Jahren noch mittragen wird, bleibt abzuwarten.

René Pahud de Mortanges ist Professor an der Rechtsfakultät der Universität Freiburg i. Ü. und Direktor des dortigen Instituts für Religionsrecht.