WorkshopPublikationsdatum 22.06.2022

Konfessionslose im schweizerischen Religionsverfassungsrecht


Am 17. Juni 2022 trafen sich Expert:innen und Interessierte an der Universität Freiburg, um in Form eines Workshops über die Konfessionslosen im schweizerischen Religionsverfassungsrecht zu diskutieren. Weiteren Interessierten wurde die Möglichkeit geboten, den Workshop via Zoom mitzuverfolgen.

Nach einer Einführung in das Thema durch Herrn Prof. René Pahud de Mortanges referierte Herr Prof. Jörg Stolz zu den Fragen, wie die Säkularisierung voranschreitet und was die Statistik über die Konfessionslosen sagt. Eine wichtige Erkenntnis war, dass die Säkularisierung über eine Kohortenersetzung verläuft – innerhalb der Kohorten bleibt die Religiosität weitgehend erhalten. Weiter kam Herr Stolz zum Schluss, dass Konfessionslose gemäss den Statistiken vorwiegend jung, gebildet, urban und wenig religiös sozialisiert sind. Herr Dr. Pascal Tanner zeigte in seinem anschliessenden Referat auf, wie der Säkularismus in der Schweiz organisiert ist. Die Freidenkerbewegung ist aufgrund ihrer Grösse, ihres Alters und ihrer Kontinuität eine wichtige Akteurin. Sie fordert die konsequente Trennung von Kirche und Staat. Konfessionslose sind jedoch nicht mit dem Freidenkertum gleichzusetzen, auch wenn sie ähnliche Ziele haben mögen.

Der erste rechtliche Input erfolgte durch Herrn PD Dr. Lorenz Engi, der den Stand und die Perspektiven der Konfessionslosen im Religionsverfassungsrecht präsentierte. Herr Engi stellte fest, dass Konfessionslose die Rechtsentwicklung verschiedentlich in ihrem Sinne beeinflusst haben. Zudem hob er Unklarheiten bezüglich des Begriffs «Weltanschauung» hervor. Herr Engi forderte die Berücksichtigung von Konfessionslosen bei religionsrechtlichen und -politischen Überlegungen, wobei diese Berücksichtigung auch ihre Grenzen hat, da Konfessionslose keine gemeinsame Weltsicht teilen und nicht organisiert sind. Herr alt Bundesrichter Dr. Peter Karlen stellte in seiner Stellungnahme die Frage, inwieweit es Aufgabe des Staates ist, die Bedürfnisse der Konfessionslosen (z. B. im Bildungs- und Gesundheitswesen) zu befriedigen. Er ist der Auffassung, der Staat sei in diesem Bereich nur sehr beschränkt zuständig, da er aufgrund des Neutralitätsgebots keine Ethik vertreten darf. Deshalb muss eine freiheitliche Rechtsordnung der Entfaltung eines religiösen Lebens möglichst viel Raum lassen, wobei dieses Ziel eher mit einer Schrumpfung als mit einer Ausweitung des Religionsrecht erreicht werden kann. Herr Prof. Andreas Stöckli befasste sich im zweiten rechtlichen Input des Workshops mit der negativen religiösen Finanzierungsfreiheit. Nach ihm ist die Erhebung von Steuern für gesamtgesellschaftliche Leistungen der Religionsgemeinschaften zulässig. Zudem vertritt er die Meinung, juristische Personen ohne religiöse Zwecksetzung dürfen sich auf ihre negative Religionsfreiheit berufen. Dies insbesondere dann, wenn die juristische Person einen hohen persönlichen Bezug aufweist (z. B. Ein-Personen-Aktiengesellschaften). Für glaubensgemischte Ehen und Familien schlägt Herr Stöckli die Individualbesteuerung vor, damit die nicht- oder andersgläubige Person in ihrer negativen Religionsfreiheit geschützt ist. Herr Prof. Markus Müller regte in seiner Stellungnahme dazu an, das Verhältnis der positiven und negativen Religionsfreiheit zu überdenken. Statt den Fokus auf die negative Religionsfreiheit zu legen und diese zu einem Obergrundrecht zu erheben, sollten bei der Frage nach den Kultussteuern die gesamtgesellschaftlichen Leistungen von Religionsgemeinschaften berücksichtigt werden.

Frau Prof. Hans Alma veranschaulichte anhand des Beispiels der humanistischen Seelsorge in den Niederlanden, wie eine Alternative zur religiösen Seelsorge in staatlichen Institutionen aussehen könnte. Sie zeigte auf, dass die folgenden vier Faktoren die Etablierung einer nichtreligiösen Seelsorge in den Niederlanden begünstigt haben: (1) Eine starke philosophische Grundlage, (2) eine säulenartige Struktur der Gesellschaft, die Raum für andere, nichtreligiöse Seelsorgeangebote lässt, (3) rechtliche Grundlagen für die Seelsorge in staatlichen Institutionen und (4) eine staatlich finanzierte humanistische Universität, in welcher entsprechende Ausbildungen absolviert werden können. Frau Pfrn. Dr. Esther Straub legte in ihrer Stellungnahme dar, welche Schritte insbesondere im Kanton Zürich unternommen werden müssten, um die Seelsorge in öffentlichen Institutionen auch für nichtreligiöse Gemeinschaften zu ermöglichen. Aktuell fehlt es dafür an einer gesetzlichen Grundlage und einer gesicherten Finanzierung. Wichtig ist für Frau Straub, dass der Status der Seelsorgenden als Dritte nicht gefährdet wird. Seelsorgerische Gespräche sollen nach wie vor in einem geschützten Rahmen und klar erkennbar ausserhalb einer Therapie stattfinden. Herr Prof. René Pahud de Mortanges referierte zu den Themen der Neutralisierung und der Öffnung des schulischen Religionsunterrichts. Kompetenzen im Bereich Religion und Weltanschauungen werden heute im Rahmen des obligatorischen Schulunterrichts vermittelt. Dabei gibt es erkennbare Bestrebungen, diese Kompetenzen möglichst neutral, offen und inklusiv zu unterrichten. Die Öffnung des konfessionellen Religionsunterrichts in schulischen Räumlichkeiten für weitere Religionsgemeinschaften und Konfessionslose bleibt zu diskutieren. Frau Dr. Stephanie Bernet hob in ihrer Stellungnahme das Kindeswohl hervor, das im Umgang der Schule mit der Religionsfreiheit besonders berücksichtigt werden muss. Sie stellte zudem fest, dass heutzutage die Bildungsinhalte stärker gewichtet werden, als dies früher der Fall war. Die Bildungsinhalte dienen schliesslich auch der Toleranz und der Prävention vor sexuellen Übergriffen und religiösen Sekten.

Entlang der einzelnen Redebeiträge fand ein konstanter Austausch mit den Tagungsteilnehmenden statt, die am Ende des Tages nochmals die Möglichkeiten hatten, offene Fragen in die Schlussdiskussion einzubringen. Die Referate der Tagung werden verschriftlicht in einem Tagungsband veröffentlicht, der um Beiträge der weiteren Teilnehmenden ergänzt wird.